Ohne Spiegel (oder Pille)

The Man Who Envied Women von Yvonne Rainer

Woher weiß ich, wie alt ich bin, wenn ich keinen Spiegel oder gar Kalender habe? Wenn mir keine Falte oder Jahreszahl sagt, wo ich mich in meinem Leben befinde?

Wie stellt sich ein Gefühl für Zeit her, das keine solche Repräsentation benötigt? Und was bedeutet die Abwesenheit dieser visuellen Determination im Film?

Was passiert, wenn ich das erzählende Gegenüber nicht sehen, sondern nur hören kann? Wenn ich kein Raster habe, in das ich es bildlich einordnen, unterordnen kann?

Yvonne Rainer konfrontiert uns mit dem Potential dieser Leerstelle in ihrem Film The Man Who Envied Women, indem sie ihre Sprecherinnen überwiegend körperlos erscheinen lässt. Abwechselnd kreisen deren Stimmen dabei um Alltägliches (Beziehungen, Wohnungskrise, politisches Geschehen) wie um Abstraktes (Macht, Begehren, Sprache). Die meist körperlosen Frauen* üben Kritik an der Bestimmtheit männlich-dominierter Diskurse. Es entsteht ein polyphoner Gedankenstrom als eine essayistisch-performative Reflexion über verschiedene Wissensformen, die Möglichkeiten von Körperlichkeit und Kommunikation sowie deren Widersprüche.

Die Erzählerin ist Trisha (Trisha Brown), die auf ungewöhnliche, kluge Weise mit einem Mann abrechnet, mit dem sie fünf Jahre zusammen war. Dieser Mann, Jack, wird gleich von zwei Männern verkörpert. Sie laufen mit Kopfhörern durch die Gegend und hören nicht, was die Menschen auf den New Yorker Straßen zu sagen haben. Die kritisch-beiläufigen Gesprächsfetzen gliedern das Geschehen, das sich aus verschiedenen Figuren und Textformen speist.

Während Trisha angenehm unbestimmt bleibt, verstrickt sich der titelgebende Mann, Akademiker und selbst ernannter „Womanizer“ zusehends in seinen Worten und gibt dabei vor allem die wortgewaltige Lächerlichkeit seines Selbstbewusstseins Preis. Dabei wird er mit seinem eigenen Referenzsystem geschlagen; Psychoanalyse und (Post)Strukturalismus sind die großen Denksysteme, die hier, ganz zweideutig, im Sinne feministischer Filmtheorie vorgeführt werden. Diese war von Beginn an besonders an Fragen von Blick- und Machtstrukturen, von Subjektwerdung und Positionierungen interessiert, die im Film durch die Überlagerung verschiedener Bild- und Tonebenen zum Ausdruck kommen.

Dass sich die Frauen dabei vermehrt der Leinwand entziehen, ist ein außerordentlicher und doch so simpler Kniff, der mich begeistert; als Verweigerung der visuellen (Über)Repräsentation und Determination des Weiblich-Körperlichen. Sind akusmatische, also bildlich-abwesend sprechende Wesen, meist männlich, wird hier diese machtvolle Position gekonnt eingenommen. Die körperliche Ungebundenheit eines Sprachaktes korrespondiert mit einer bestimmten Vorstellung von Allmacht und -Wissen, von der das Weibliche aus der (Film)geschichte überwiegend ausgeschlossen wurde. Der kaum unterbrochene Rede- und Gedankenfluss kommentiert diesen Tatbestand und entlarvt dabei humorvoll paternalistisches Redeverhalten.

Identität wird dabei dekliniert durch eine Collage aus Zitaten, die aus Gesprächen, Monologen und Büchern stammen, deren Zuordnung wir scheinbar nicht bedürfen. Denn Dekonstruktion von Macht heißt hier, auf die Herkunft von Gedanken zu verzichten und sie, um ihres Zusammenspiels willen, zu benutzen. So scheint in dieser Auffassung der einzelne Gedanke als bescheidend, festlegend, kurz: defizitär. Demgegenüber steht ein Schauspiel des Denkens, das sich immer wieder neu konfiguriert.

An der Wand ändert sich die Konstellation der Bilder, Zeitungsartikel und Plakate, die das Netz des Filmes aufspannen. Ein anderes Layout ergibt einen anderen Ausschnitt; von sexistischem Journalismus und Werbung für Hormontherapie in der Menopause, über die brutalen US-amerikanischen Interventionen in Mittelamerika bis zur future-feministischen Antwort in Lizzy Bordens Sci-Fi-Film Born in Flames. Es ist ein parataktisches Denken, das nicht unterordnet, sondern sucht, nach Verbindungen und Komplizinnenschaft; nach einer „Awomenliness“, wie es am Schluss heißt.

Nicht nur Rainer selbst beschreibt ihr Vorhaben, eine Art Zeitgeist der späten 1970er und frühen 1980er-Jahre einzufangen, als ambitioniert. Dass die Fragen, die da gestellt werden, 2023 jedoch nicht obsolet sind, muss ich gar nicht schreiben. Und was mit Frauen vor und nach der Menopause passiert, sollte keine Frage des Alters sein. Genauso wenig wie die Frage danach, wie wir leben wollen, von unserem Einkommen abhängig sein sollte.

Hin und wieder, Vergessen im Kino

Wann beginnt man, über einen gesehenen Film nachzudenken? Zumeist legen sich schon während des Abspanns andere Gedanken über die abflachende Konzentration. Weniges stiftet dazu an, unmittelbar nach dem Verlassen des Kinos, etwas zu notieren und festzuhalten. Der Film bleibt an seinem Ort, während ich mich von ihm entferne. Das Gespräch mit einem Freund im Anschluss mag vielleicht eher ein gegenseitiges Versichern sein, dass nun etwas aufgehört hat und etwas anderes beginnt. Oftmals wird dabei gerade das Ende des Films zum Thema gemacht. Etwas persönliches über die verbrachte Zeit mit dem Film zu sagen, fällt in diesem Moment alles andere als leicht. Doch irgendwann kommt der Film zurück, vielleicht aus Schuldbewusstsein, oder weil man erst etwas verstehen musste, bevor die richtigen Worte dafür gefunden waren. Das kann erst in einem anderen Film passieren, vor dem Schlafen oder im Zug nach Hause.

Versucht man sich an etwas Bestimmtes zu erinnern, will es meist nicht gelingen. So beginnt Unutma Biçimleri, Burak Çeviks Film auf der Berlinale 2023. Ein Fischer steht vor einem schmalen Eisloch. Nichts außer das bodenlose Schwarz umringt von schimmerndem Weiß ist zu sehen. Auf der Wasseroberfläche tänzelt eine Pose, an der ein Netz hängt. Fische sollen gefangen werden, doch gemeint sind Träume – die Erinnerung an Träume. Um die Flüchtigkeit des Traums zu bewahren, muss man ihn beredt werden lassen. Man muss Worte wählen, die geeigneter und weniger geeignet erscheinen. So tastet man sich an etwas heran, das man eigentlich nicht wirklich gesehen hat. Einiges ist restlos verloren, aber ein trübes Nachbild – manchmal eher Nachhall – blieb noch haften. Was der Film hier von Beginn an womöglich selbstreflexiv exponiert, entspringt dem Gespräch zwischen Nesrin und Erdem – einem Paar, das versucht sich an seine Beziehung und Trennung zu erinnern. Ihr Austausch wird ungeahnt intim, nicht wegen ausgesprochener Geheimnisse, sondern wegen ihrer Ungereimtheiten. Beide Menschen haben gänzlich verschiedene Erinnerungen an dieselben Begebenheiten. Erst in dem das Paar eine gemeinsame Sprache dafür findet, treten diese gegensätzlichen Erinnerungen zueinander in Beziehung. Vor allem für diese Suche im Dunkeln interessiert sich Çeviks Film. Ebenso könnte sich das Paar über einen Film unterhalten, den sie gesehen haben. Dort, wo ihre Erinnerungen an das Gesehene auseinanderklaffen, würden sie womöglich erkennen, dass beide einen anderen Film gesehen haben. Jeder für sich einen Film im Verborgenen mit anderen verschwiegenen Sehnsüchten und Ängsten. Es wäre nicht weniger intim.

Vielleicht hätte der Film hier stehen bleiben können, doch er zieht weiter und schichtet Material auf Material. Ganz so wie die Stadt – Istanbul, um die Unutma Biçimleri unaufhörlich kreist. Die Kamera verliert sich im Hafen, sucht dort nach der Geschichte des Ortes und findet lediglich Überreste statt Relikte. Es sind kleine Beobachtungen, wie der Rost an einem Schiff oder Arbeiter bei ihrer Pause an der Kaimauer. Alles Bilder, wie leere Hüllen, die nicht für sich selbst sprechen können, sondern erst lebendig werden müssen. Von Marc Augés Vorstellung (Les Formes de l’oubli), Erinnerungen seien wie Pflanzen, die sich immer höher überwuchern und verdecken, will auch der Film etwas über sich selbst erfahren. Kann sich ein Film erinnern oder vergessen? Filme, die mit einer essayistischen Form sprechen, wagen sich gern zu dieser Selbstüberschätzung hinaus. Sie laufen Gefahr, sich mit ihrem eigenen Interesse zu verwechseln. Also ist es Selbstvergessenheit? Weder kann sich ein Film erinnern noch vergessen, eher noch nachahmen beziehungsweise dazu anstiften. Dazu braucht er sein Gegenüber. Das Publikum, das Unutma Biçimleri erst gegen Ende wieder anspricht. Es drängt sich die Frage auf, wem Erinnerungen überhaupt gehören, was umgekehrt auch bedeuten könnte, ob Vergessen notgedrungen ein Verlust sein muss.

Spürbar wird das Erinnerte oder Vergessene erst, wenn es sein Gegenüber findet, beziehungsweise verfehlt. Vielleicht lässt sich das nur im Kino begreifen, und doch reicht es auch darüber hinaus. In Tatsunari Otas Film Ishi ga aru begegnen sich eine Frau und ein Mann ohne Namen in einem Flussbett. Ohne dass etwas Wichtiges passiert oder viele Worte gewechselt werden, wirkt es, als seien beide plötzlich aufeinander angewiesen. Das Warum muss nicht beantwortet werden, es genügt die Gewissheit des anwesenden Gegenübers. Sie teilen einen Nachmittag bis zur Dämmerung, während sie gemeinsam die karge Landschaft auf eine spielerische, naive Weise erkunden und immer wieder flussaufwärts oder -abwärts wandern. So selbstlos aber doch selbstzweckhaft, wie diese Beziehung zweier fremder Menschen entsteht, geht sie auch wieder auseinander. Irgendetwas bleibt, denn ihre Trennung, wenngleich ohne Abschiedsworte, fällt nicht leicht. Einige Momente später zeigt der Film den Mann in seinem Haus am Schreibtisch; er versucht, das Erlebte in seinem Tagebuch festzuhalten und zögert lang. So lang, als könnte man in dieser Pause seine eigenen Erinnerungen und Wünsche verstecken. Im gleichen Moment findet die Frau ohne Namen einen Ort, an dem sie den Akku ihres leeren Telefons aufladen kann. (Kaum etwas könnte gegenwärtig greifbarer beschreiben, wie man in einer Welt verlorengehen kann, die selbiges nicht mehr zulässt.) Die Frau schläft ein und erwacht am nächsten Morgen. Aus dem Zug zurück nach Tokio erhascht sie mit einem flüchtigen Blick den Mann erneut im Flussbett, wo er nach einem verlorenen Stein vom Vortag sucht. Was danach passiert, bleibt der Sehnsucht überlassen.

Beide Filme handeln von zwei Menschen, die sich begegnen und zurückschauen. Sowohl Ishi ga aru als auch Unutma Biçimleri wollen zwar vom Altern nicht viel wissen, doch es lässt sich unaufhörlich in ihnen wiederfinden. Unaufgeregt, in regelmäßigen Rhythmen reihen sich Bilder aneinander, so als blieben sie vom Lauf der Zeit außerhalb des Kinos unberührt. Doch anstatt weiterzugehen, besinnen sie sich vielmehr darauf, an einen verlassenen Ort zurückzukehren, um dort etwas Verlorenes aufzusuchen. So als würde man zum zweiten Mal in ein Gesicht blicken und erkennen, es hätte vorher anders ausgesehen. Dabei besteht die Intimität des Alterns vielleicht weniger darin, die Spuren der Veränderung zu entdecken, sondern etwas zu erahnen, das eigentlich dahinter liegt. Erkennt man, um was es sich handelt, gerät die Suche ins Stocken. Es breitet sich eine seltsame Beklemmung aus, über das Gesehene zu sprechen. So steht man nach Ende eines Films wieder vor dem Kino und stellt sich für einen Augenblick die absurde Frage: Was habe ich überhaupt gesehen? Aber ich schweige oder spreche von etwas Unbedeutendem.

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Neulich begegnete ich auf einer Straße einer Frau, die für eine Umfrage von mir wissen wollte, ab wann man alt und wie lang man jung sei. Erst musste ich schmunzeln, da ich mir diese Frage selbst hin und wieder stelle, mich also ertappt fühlte. Meine Antwort schien sie wohl ebenfalls zu amüsieren, vielleicht nicht, weil es ihr ähnlich erging, sondern weil wir wohl gänzlich unterschiedlicher Auffassung waren. Im Kino kann man etwas sehen, das nicht der eigenen Wahrnehmung oder Erfahrung entspricht. Trotzdem ist es möglich, sie für eine bestimmte Zeit verstehen zu lernen. Auch wenn sich das Kino mit seinem Publikum immer wieder erneuern und Zurückliegendes vergessen will, gehört das Altern – also Suchen – dazu.