Viennale 2017: Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette von Bruno Dumont

Über einen Film zu schreiben, ist immer auch ein Versuch den Film besser zu verstehen. Manchmal überwiegt der Drang bestimmte Aspekte eines Films herauszuheben oder ganz einfach nur die eigene Begeisterung zu vermitteln, Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont ist für mich aber eindeutig einer jener Filme, über den ich schreiben will, um ihn selbst besser zu verstehen. Ein wenig hat das auch damit zu tun, dass ich am Beginn dieses Texts ziemlich ratlos vor dem Film stehe (Blake Williams bezeichnete den Film nicht zu Unrecht als UFO). Da sind die offensichtlichen Referenzpunkte, die Dumont auch selbst anbietet – der Verweis auf Straub-Huillet oder die abgründige Verrücktheit, der bereits Dumonts letzte beide Projekte Ma Loute und P’tit Quinquin geprägt hat. Auf der anderen Seite gehen die Gemeinsamkeiten mit Straub-Huillets Moses und Aaron kaum über eine ähnliche Form der Tonaufnahme hinaus und auch die Verrücktheit in Jeannette äußert sich weniger in makabren humoristischen Einlagen, als in einer Grundstimmung der Absonderlichkeit, die vor allem mit Musikauswahl und Figurenzeichnung zu tun hat.

Während sich die großen Jeanne d’Arc-Filme der Kinogeschichte meist mit den Erfolgen der Jungfrau auf dem Schlachtfeld und ihrem Niedergang auf dem Scheiterhaufen befasst haben, ist Jeannette ein vergleichsweise leichtfüßiges Musical über die Jugendjahre Jeannes. Der Film hört mit dem Aufbruch Jeannes in Richtung Orléans auf – das Drama ihres späteren Lebens ist da noch gar nicht abzusehen. Dementsprechend unbeschwert setzt der Film ein: sanfte Sanddünen, ein Bach, eine Schafherde und eine junge Hirtin in blauem Kleid, die singend von ihrem Leben erzählt.

Der Clou über den viel berichtet wurde, ist die Entscheidung Dumonts die Musik nicht im Studio aufzunehmen, sondern den Gesang seiner Laiendarsteller bei den Dreharbeiten als Direktton aufzunehmen. In der Postproduktion wurde lediglich das instrumentale Playback hinzugefügt. Laut, falsch und mit Begeisterung tanzt und singt sich die ungeübte Protagonistin und ihre Mitstreiter also durch den Film, und Dumont hat tatsächlich kaum Anstrengungen unternommen die Unsauberkeiten der Aufnahmetechnik auszumerzen. Es gibt in der Filmgeschichte wohl wenige professionelle Arbeiten, in denen so viele falsche Töne zu hören sind und so unsaubere Choreographien getanzt werden. Das unterscheidet Dumont schon mal radikal vom perfektionistischen Verfahren von Straub-Huillet. Die Frage ist nun aber, ob man diesen Amateurismus positiv oder negativ werten sollte. Dumont spielt absichtlich mit der Ästhetik des Unfertigen und Imperfekten, er verzichtet bewusst auf eine Optimierung der Musik- und Tanzeinlagen, um eine andere Form der Unmittelbarkeit zu erreichen. Das mag auch an der Lust an der technischen Herausforderung in der Produktion liegen, aber nicht zuletzt wird die Figur Jeannettes dadurch menschlicher, gewöhnlicher. Sie ist ein Mädchen, das ungefähr genauso gut tanzen und singen kann, wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter. Auf der anderen Seite wirkt diese bewusste Setzung mit all ihrer handwerklichen Schludrigkeit und der eklektischen Musikauswahl aus Heavy Metal und Electronic etwas aufgesetzt provokant. Womöglich ist es also am besten die Unreinheiten gar nicht zu bewerten, sondern als gegeben hinzunehmen. Das würde dann bedeuten, die Musik in ihrer Imperfektion als überaus lebendig wahrzunehmen; welche Typen Dumont im Casting seiner Laien gefunden hat, ist – wie immer in seinen Filmen – ohnehin fantastisch; die Aufnahmen der Landschaft Nordfrankreichs, wohin Dumont seine Jeanne d’Arc hinverpflanzt hat, sehen atemberaubend gut aus – in Sachen Kadrierung und Beleuchtung ist der Film alles andere als amateurhaft.

Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette ist also in jedem Fall ein großes Fest für die Sinne, aber auf eine andere Weise als es bisherige Bearbeitungen des Stoffes waren. Dumonts Jeanne fehlt es weder an Frömmigkeit noch an Determiniertheit, aber sie äußert sich anders, denn diese Jeanne ist nicht leidend oder heroisch, sondern verspielt und lebensfreudig. Das ganze Gesinge und Getanze mag davon ablenken, aber im Kern gelingt es Dumont sehr gut diesem jungen Mädchen, das gleichzeitig ein französisches Nationalheiligtum ist, mit seinem filmischen Porträt näherzukommen. Sie ist überaus entschlossen Gottes Plan zu erfüllen und ihr glorreiches Heimatland Frankreich vor fremden Mächten zu schützen, wie ihre Vorgängerinnen in der Filmgeschichte. Der Grundton des Films, der halbironische Gestus, der Hang zum Absurden scheint den Ernst ihrer Mission aber beständig zu unterminieren. Diese Unentschiedenheit macht den Film erst so richtig interessant. Dumont scheint sich nicht groß darum zu scheren, ob die filmische Form, die er für den Film gewählt hat, dem epischen Charakter seines Sujets gerecht wird. Historische Ungenauigkeiten, Anachronismen, amateurhaftes Schauspiel und Genreelemente, stehen sehr präzisen und gar nicht trashigen Kadrierungen (die Bildsprache unterscheidet sich in ihrer Brillanz nicht von Dumonts früheren Arbeiten), und einem Interesse für Physiognomien und der mittelalterlichen Lebenswelt gegenüber. Das führt dazu, dass diese Jeanne weniger als verklärtes Relikt, denn als lebendige Person auftritt, nicht als mythologische Gestalt, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, die mit einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Ort und einer dazugehörigen Geisteswelt in Verbindung zu bringen ist. Jeannette ist kein historisierender Blick zurück auf eine Legende aus längst vergangenen Tagen, sondern eine Aktualisierung, die versucht ihrer Protagonistin über einen Umweg in die Gegenwart näherzukommen.

Die Annäherung an Jeanne d’Arc wird durch die Anachronismen und historischen Fehler vervollständigt, indem man durch sie einerseits die Jeanne in ihrer ganzen Menschlichkeit kennenlernt, und andererseits immer wieder die Rahmung des Gezeigten hinterfragt. Die Absurdität und der Eklektizismus sorgen somit für einen Verfremdungseffekt, der aber paradoxerweise zu einem tieferen Verständnis der filmischen Welt führt: Die Inszenierung der Vision, in der Jeanne den Auftrag bekommt Frankreich zu retten, unterscheidet sich kaum von ihrem restlichen Leben – religiöse Visionen sind im 15. Jahrhundert sehr viel wahrhaftiger und gleichzeitig banaler. Es geht weniger darum, was ein 13- oder 16-jähriges Mädchen im Spätmittelalter über Gott und das Land, in dem sie lebt, wissen kann, als darum, wie stark eine Überzeugung unter den damaligen Voraussetzungen wirken kann. Vielleicht ist dann die kinetische Energie eines Heavy-Metal-Songs gar nicht so weit von der Wucht einer göttlichen Eingebung entfernt als man glaubt. Natürlich ist der Film auch ein Witz, eine Abrechnung mit überhöhtem Nationalstolz (der Nationalismus Jeannes ist eine ebenso anachronistische Setzung, wie die musikalische Gestaltung) und eine ironische Variation eines Filmmusicals, aber es ist zugleich ein Porträt von Jeanne d’Arc, das erstaunlich tief in den Mythos eindringt. Wie konnte es geschehen, das vor über 500 Jahren ein Mädchen eine Armee anführen konnte? Wie konnte sie den Status einer Nationallegende erlangen? Wie konnte eine göttliche Eingebung den Lauf der Geschichte entscheidend verändern? Dumont macht in Jeannette die Verzahnung der mittelalterlichen Lebens- und Glaubenswelt greifbar. Was auf uns verrückt wirkt, ist, dass er zwischen den beiden keinen Unterschied macht. Und damit ist er wahrscheinlich ziemlich nah am Lebensgefühl der Menschen aus vergangenen Jahrhunderten.

But we do not do: Ma Loute von Bruno Dumont

MES ENFANTS

Von der ersten verhaltenen Reaktionen aus Cannes aus dem vergangenen Jahr, über den deutschen Titel und Trailer bis zur etwas weicheren Canal+-Glasur, mit der sich Bruno Dumont in diesen Zeiten blicken lässt, habe ich mich täuschen lassen. Von Juliette Binoche und ihrem Arthaus-Premium-Gesicht, von diesen bunten Regenschirmen, dem Jacques-Henri-Lartigue-Charme und der Tatsache, dass P’tit Quinquin zwar grandios war, aber letztlich Fernsehen mit weniger Raum für Zeit, Farben und in sich zirkulierenden Erinnerungen, von einer Tendenz, die ich glaubte in dem Filmemacher zu sehen, der mit La Vie de Jésus, L’Humanité und Twentynine Palms einen neuen Existentialismus ins Kino brachte, einen der nicht mehr auf dem Konflikt beruhte, sondern auf dessen Verschlucktwerden, einen der sich nicht entzündete, sondern der als gegeben festgesetzt wurde, einen der in den Bildern ruhte, statt sich aufzudrängen, davon dass er plötzlich Schauspieler zu besetzen schien und keine Menschen mehr, habe ich mich täuschen lassen.

© arte

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WE KNOW WHAT TO DO BUT WE DO NOT DO

Ma Loute ist großes Kino. Dumont zeigt das Aufeinanderprallen zweier Klassen, den inzestuös reichen Strandseglern Van Peteghem und den kannibalistisch gefärbten Muschelsammlern Brufort zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als bitterbösen, völlig losgelöst absurden Triebfilm, in dem jegliche Motorik von erhöhten Krampfzuständen unterbrochen wird, in der jedem praktisch alles jederzeit schwer fällt in einer gemäldeartigen Landschaft, die in all ihrer Erhabenheit zugelassen und dennoch parodiert wird. Wieder hat Dumont etwas weiter an der Deformationsschraube gedreht, die kleinen Verformungen und an Rodin erinnernden Unförmigkeiten, sind inzwischen ein einziger Rausch an Übertreibungen geworden. Dass was seine Verformungen geöffnet haben in der Wahrnehmung einer Geste oder eines Blicks, das schließen sie jetzt in einer Reinheit des Körperlichen: Schmatzend, tänzelnd, glucksend, springend, jauchzend, fliegend, kreischend, knurrend, rülpsend, rollend, stotternd, stampfend, quietschend. Das Loch zwischen einer Tat und ihrer Bedeutung ist nicht mehr leer im Kino von Dumont, es ist überfüllt. Wie er selbst sagt: Er benutze jetzt kein Teleskop mehr, sondern ein Mikroskop. Damit ist auch und hauptsächlich die Arbeit mit der Kamera gemeint, die das Digitale in all seinen möglichen Korrekturen auskostet und die Körper und Gesichter derart brutal und majestätisch in den Kinosaal ragen lässt, dass man Ozeane in den Furchen und Fältchen unter den Augen der Protagonisten lesen kann. Mehr noch gilt die Überfüllung aber für die Tonebene, die Dumont im Gegensatz zu früheren Arbeiten nicht mehr öffnet für die Geräusche des Augenblicks, sondern die er fast hermetisch durchkomponiert, im Stile eines Jacques Tati, sodass jede Kopfbewegung ein „Wusch“ erzeugt und jede Figur mit ganz eigenen Geräuschkulissen ausgestattet wird wie der rollende und sich aufblasende Inspektor Alfred Machin, der mit seinem Gefährten Malfoy an Laurel & Hardy erinnert.

Die Übertreibungen arbeiten vor allem – und das ist ein ganz neuer Aspekt bei Dumont – in den wohlhabenden, erwachsenen Figuren. Das bringt einen auch gleich zu dem, was Dumont da eigentlich macht. Jenseits eines Filmemachers wie Jean-Luc Godard hat man wohl kaum jemanden gesehen, der sich selbst in seinen eigenen Werken so heftig kritisiert. In einer bemerkenswerten Szene sitzen die Van Peteghems, jene schrille Gaga-Familie, die in einem ägyptisch geprägten Bauwerk namens Typhonium (der Name bezeichnet eigentlich die Eidechsenwurz, die Wunderknolle, die ohne Erde und Wasser Blüten treibt) an Dumonts geliebter Nordküste nahe Calais vor sich hin vegetieren und schreien, an einem Tisch. Sie warten auf Omelettes und betrachten einen Fischer. Sie, das heißt vor allem Fabrice Luchini, der die beste Performance eines jeden Lebens abliefert, bewundern den Mann aus der Distanz, er sei wie aus einem Gemälde entwachsen, er sei so erhaben, so schön. In diesem Gestus liegt gerade in der Übertreibung eine enorme Sozialkritik am bürgerlichen Tourismusdenken. Die vornehme Distanz, die bizarre Wahrnehmung von Schönheit, der Film legt all das immer wieder offen. Es folgt eine Nahaufnahme des Fischers, in der Dumont wie so oft die vollkommene Banalität des Kinos gegen die Erwartung stellt. Und damit auch sich selbst hinterfragt, denn in vielen Interviews hat Dumont immer wieder von den malerischen Aspekten dieser Gesichter des Nordens gesprochen, der flämischen Tradition. Diese Banalität existiert immer wieder in größtmöglicher Ambivalenz. So sieht man eine Landschaft, wie man sie schon immer gesehen hat bei Dumont. Sie ist bisweilen schön, er filmt sogar gegen die Sonne. Aber man weiß nicht, ob man das jetzt schön findet oder nicht, schön finden darf oder nicht, unter allem schlummert bereits die Parodie.

Selbiges gilt dann auch für die dramatischeren Szenen im Film, der Liebesgeschichte zwischen Ma Loute und Billie. Es gilt auch für Billies Geschlecht, das vom Filmemacher und auch der Öffentlichkeitsarbeit des Films in einer unbequemen und Mechanismen hinterfragenden Schwebe gehalten wird. Und schließlich für eine überwältigende, an das Kino von Jean Epstein erinnernde Rettungsaktion durch den Vater von Ma Loute, den sie „Der Ewige“ nennen. Die Kamera betrachtet ihn schräg von unten, ein Held unter dem digital bis zur kleinsten Farbe komponierten Gewitterhimmel. Denn auch wenn Dumont die Schönheit des Ortes unter den Fragen der Ambivalenz und der Banalität verhandelt, arbeitet er doch mit besessener Perfektion, an seinen Bildern, ihrem Framing, ihren Farben und ihrer Position zwischen zwei anderen Bildern. Nur so vieles, was einst so unglaublich ernst war, scheint jetzt so unheimlich gelöst. Aber das täuscht, denn nach wie vor schlummert in diesem Reigen an Irrsinn eine Verbitterung, die Dumont, auch wenn er das selbst nicht hören wollen würde, zu einem der wichtigsten politischen Filmemacher eines nach rechts schwankenden Europas macht. Einer, der Zustände freilegt durch eine nie psychologische, sondern immer kinematographische Herangehensweise. Die Schwierigkeit zu handeln, die Schwierigkeit einen Satz zu sagen oder einen Schritt zu gehen. Eine Form von motorischer Ohnmacht, die sich in eine Verunsicherung hinein sträubt, kaum zu bändigen scheint und letztlich immer konsequenzlos bleibt, selbst wenn sie tödlich endet. Hier existieren alle nebeneinander (man achte auf die vielen weiteren, reichen Strandurlauber, die sich schweigend über das Wasser tragen lassen und fast wie Geister als Farbflecke in der Landschaft agieren), niemand ineinander (nur, wenn man die andere Person isst) und alles, was angesehen wird, wird nicht angeblickt, nichts wird wirklich berührt, es bleibt eine Distanz, die sich in Bildern ergötzt, in Aussichten, Marienstatuen und Äußerlichkeiten.

Noch kurz ein Wort zu Luchini, das muss erlaubt sein, mit seinem Lächeln, seinem Timing, dem den Gesetzen der Schwerkraft widersprechenden Bewegungen, die immerzu kippen und sich drehen, und aus der größten Verkrampfung noch einen leicht tänzelnden Schritt gewinnen wollen. Der sich nicht wirklich hinsetzen kann, nicht wirklich aufstehen kann, nicht wirklich gehen kann. Immer wieder versucht die Figur zu winken, wie man als Adeliger winkt, aber es bleibt nur eine verformte Geste, ein Fingerkrampf, der nach einem Hut greift, den der gute Mann nicht immer aufhat. Selten hat man ein derart perfekt choreographiertes Bewegungssammelsurium in einem Körper gesehen. Eine Szene, in der er in einem Segelwagen am Strand einen Unfall baut, leitet er ein, indem er eine lange Zeit im Wind tänzelt, sich warm macht, man weiß es nicht, ehe er sich in wildem Kostüm, fast fetischierend eingesetzt von Dumont, in das Gefährt begibt. Sämtliche Bewegungen von Luchini unterliegen dem Prinzip ihrer eigenen Unterdrückung. Kaum eine Figur, vor allem nicht bei den Van Peteghems kann wirklich die Bewegung vollführen, die sie vorhat. Dieser Irrsinn fällt mit Juliette Binoche am schwersten. So ganz will sie sich den rein mechanischen, körperlichen Absurditäten nicht hingeben, ihre Figur ist immer von einem inneren Konflikt gelenkt. das ist schade, weil diese deformierten Bewegungen eigentlich eine Zustandsbeschreibung sind und keine narrative oder psychologischer Folge einer Figur. Es macht zwar absolut Sinn, dass Dumont die Distanz zwischen den Van Peteghems und Bruforts auch im Casting reflektiert, aber nicht alle Schauspieler sind bereit, ihre Körper gleichermaßen zu einem Schlachtfeld der Zuckungen zu machen.

© arte

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LES OISEAUX

Was wir sehen, ist die aufflammende Deformation sämtlicher Gesellschaften und jene der Repräsentationsfunktionen des Kinos. Es ist ein Kino, das sich selbst abschwört und darin wieder und wieder zu sich findet. Wenn Dumont sagt, dass Komödie und Drama zwei Seiten der gleichen Medaille sind, hat er Recht. Es ist nur so, dass seine Komödien viel bitterer sind als seine Dramen nach Twentynine Palms. Zumindest aus seiner etwas schwierigen Phase mit Filmen wie Camille Claudel 1915, Flandres oder Hadewijch erschließen sich nun ganz neue Wunden. Was geblieben ist, ist der religiöse, spirituelle Fluchtversuch, die Frage nach einem göttlichen Wirken. In Ma Loute wird gebetet und dann gibt es auch ein Wunder. Liegt darin nur das Aufeinandertreffen dieser großen Banalität und Fleischlichkeit mit einer plötzlichen Erhöhung? Oder wohin fliegen all diese Figuren, warum fliegen sie, wovor fliegen sie hinfort? Es fällt auf, dass Frau Van Peteghem, gespielt von Valeria Bruni-Tedeschi, nachdem ihr ein Wunder an der Küste widerfährt, in glückseeliger Ruhe, sanft lächelnd verbleibt. Ist das der Lösungsvorschlag des bitteren Ironikers Dumont? Man braucht eine göttliche Erscheinung, um dem zu entkommen? Oder ist es die Reaktion der anderen, die zunächst überschwänglich ist, aber dann vergisst, was passiert ist? Ist es die Feststellung, dass man wieder landet, das alles gut ist und es immer eine Zeit gibt, um zu vergessen? Oder ist es nur die nüchterne Feststellung, dass auch diese göttlichen Kräfte, das Deus Ex Machina völlig deformiert ist und zur falschen Zeit der falschen Figur erscheint?

Bleibt noch die Frage nach der Art und Weise, in der Dumont Menschen zeigt. Es wurde immer wieder darauf verwiesen, dass sich Dumont ganz bewusst in moralischen Grenzbereichen aufhalten würde. Das liegt darin, dass er vor allem in einem Film wie Camille Claudel 1915 Behinderungen extrem offensiv dargestellt hat. Offensiv, das heißt in konkreten, klaren Bildern, die sich nahe an Menschen wagen und denen kaum Schutz gewähren. Außerdem gibt es sicherlich eine Tendenz zur Ästhetisierung  von Gesichtern und Körpern, auch deren Bloßstellung. Dumont betont, dass er gerne in dieser Region drehe, weil er selbst von dort komme und die Menschen dort besser nachvollziehen könne. Ma Loute zeigt das vor allem deshalb so deutlich, weil das Fremdartige bei Dumont nie in der Deformation, nie im langen Studieren nicht-symmetrischer, rauer Gesichter liegt, sondern im Wahnsinn eines Vergrabens und Auslebens animalischer Elemente des menschlichen Daseins. Es liegt im Kontakt, der simplen Geste, es liegt einfach da. es ist nicht schlicht eine Sache des Blicks, sondern der Sekunden danach, Dumont bietet uns etwas an, wir können damit umgehen, er stellt es uns frei. All diese Dinge existieren in einem derart ambivalenten Raum, dass sie eigentlich kaum benennbar sind. Letztlich werfen sie das Auge auf sich selbst zurück und man sieht in den Blicken dieser Laien und deformierten Gesichter die Transformation einer Frage aus dem moralischen, pseudo-politischen Parabelkino, mit dem man sonst gerne konfrontiert wird. Denn statt „Wo stehst du?“ fragt Dumont „Wie stehst du?“.

Cut the grass off the surface: La Nuit du carrefour von Jean Renoir

Ein Film wie der weinende Nebel einer unwirklichen Nacht, Godard nannte ihn den mysteriösesten von Renoir, eine Simenon-Verfilmung am Abgrund einer Dunkelheit; die Zugehörigkeit zum Krimigenre vergisst sich hier einmal mehr selbst und verliert sich im Schwarz einer traurigen Erotik zwischen Schatten, die von Taschenlampen beleuchtet werden und der zerbrechlichen Blässe von Winna Winfried. Als es im Österreichischen Filmmuseum am Abend der Vorführung zu einer unfreiwilligen Unterbrechung kommt und die Filmrolle neu eingelegt werden muss, glaubt man fast, dass dies ein Teil des Zaubers ist. Georges Simenon wollte, dass Renoir diese erste Maigret-Verfilmung auf die Leinwand bringt und wirkte am Drehbuch mit. Irgendwo an einer dieser verlassenen Kreuzungen und Tankstellen (man denkt an Only Angels Have Wings von Howard Hawks oder Ossessione von Luchino Visconti) geschieht ein Mord in einer Garage, allerhand vage Gesichter tummeln sich in einer endlosen Nacht, die auch am Tag ständig wie ein Schatten über die Aufklärung des Falls herfällt. Ein fremdenfeindliches Versteckspiel in einer verbotenen Ländlichkeit, die Renoir mal unschuldig, mal satirisch (P’tit Quinquin is watching) beleuchtet. Es gibt eine Autowerkstatt, einen Dänen mit seiner angeblichen Schwester und es gibt die Eifersucht, die wie ein wütendes Feuer unter dem Nebel brennt. Der Film entstand im Winter des Jahres 1932 außerhalb von Paris, der Nebel ist – wie so oft bei Renoir – keine Erfindung, er ist eine Dokumentation. Als Maigret beobachten wir Pierre Renoir (den Bruder von Jean, der hier viele Freunde besetzte/besetzen musste), irgendwie genauso undurchdringbar wie alles andere in diesem Film. Eine Gewöhnlichkeit und Beiläufigkeit prägt sein Spiel und kleine Bewegungen lassen ihn jederzeit vor uns entstehen.

La nuit de carrefour2

La Nuit du carrefour interessiert sich für das, was wir gerade noch so erkennen können, der seidene Faden des Lichts. In einer famosen Verfolgungsjagd durch die Nacht taucht das verfolgte Auto nur im aufbrausenden Licht der abgefeuerten Schusswaffen auf. Die Fetzen Licht und die Dunkelheit tanzen hier zwischen einer sozialen und natürlichen Ordnung, der Organisation und der Leidenschaft. Das eine versteckt immerzu das andere und so sehen wir selten und hören noch seltener, was eigentlich los ist. Mit seinen verschleierten Augen ist La Nuit du carrefour auch eine Poesie des Fremden, das sich in einem Surrealismus offenbart, der oft mehr mit Man Ray (man denke an den Fund Maigrets hinter dem Bild oder den Akzent von Else, die mit Bier vergiftet wurde) als mit einem französischem Kriminalfilm zu tun hat. Die zärtliche Rauheit der ersten Tonfilme von Renoir ist hier wie in La Chienne oder Boudu Sauvé des Eaux jederzeit spürbar, sie ist allerdings noch ein wenig wilder, unkontrollierter, zerfallener. Immer wieder brechen Schnitte die Handlung auf. Füße und Zeitungen in den Pfützen vor einem Zeitungsstand oder eine Aufnahme der gefährlichen Nacht während wir in den spärlichen beleuchteten Zimmern zu langsam vorwärtskommen.

Es ist ein Film mehr über die Stimmung und physische Realität dieser Ermittlungsarbeit, als über die Narration eines Kriminalfalls. Renoir filmt die obskure Präsenz einer Welt, in der man, wie er selbst sagt, den Dreck an den Stiefel spürt und den Nebel, der einem die Sicht verdeckt. In diesem Film flirrt eine traurige Erotik in der zerfließenden Vergänglichkeit der Figur von Else, verkörpert von der dänischen Tänzerin Winna Winfried, die wie eine geisterhafte Narbe aus einem Dreyer-Film in einer ewigen Verführung gefangen ist und auf ihre Befreiung wartet bis ihre Handgelenke in einer unvergesslichen Szene Kontakt mit kalten Handschellen machen. Es spricht für Renoir, dass er das improvisierte Ende (zwei Rollen gingen verloren) mit ihrer Befreiung findet, in jener Tiefenschärfe, die er so maßgeblich geprägt hat und die ihm und uns immerzu gerade noch so erlebt, etwas zu erkennen, eine Gleichzeitigkeit, einen Gegensatz, ein Licht.

Das Kino ist ein fatales Spiel

Schon länger regt sich in mir die Frage, ob die Anwesenheit einer Filmkamera eher zu einer Lockerung der Realität beiträgt oder dadurch eine größere Ernsthaftigkeit einsetzt. Vereinbart man in Anwesenheit der Kamera einen Spielcharakter oder ist man im Angesicht dieses Instruments, das Unsichtbares sichtbar macht, ist man noch deutlich mehr in der Bedeutung, dem Sinn und der Sinnlichkeit dieser Realität verhaftet. Ich denke, dass die Lösung immer beides zugleich sein muss. Das Spiel führt letztlich zum Sinn und der Sinn fordert ein Spiel.

Immer wieder arbeiten Filmemacher mit unterschiedlichen Methoden, den Schauspielprozess sichtbar zu machen. Nehmen wir als Beispiel Cristi Puius Trois exercices d’interprétation, der eigentlich gar nicht als Film für die Öffentlichkeit gedacht war. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen filmgewordenen Schauspielworkshop. Drei Gruppen von Schauspielern probieren sich in einer zeitgenössischen Interpretation von Vladimir Solovyovs Three Conversations. Dabei kommen einige Elemente zum Vorschein, die das Schauspiel im modernen Kino definieren. So geht es um das Prinzip der Wiederholung, also das Sichtbarwerden der Arbeit am Schauspiel. Diese Wiederholung gleicher Textpassagen durch unterschiedliche Schauspieler, diese Variation macht uns zugleich auf die Bedeutung und die Möglichkeiten des Schauspiels aufmerksam. Wie ein Satz gesagt wird, hat enorme Relevanz. Der Filmemacher, der wohl am meisten an dieser Arbeit am Spiel gearbeitet hat, ist Jacques Rivette. In Filmen wie L’amour fou oder La Bande des quatre sehen wir immer wieder den Prozess des Spiels, die schmerzende Wiederholung, die Leere nach und von ausgesprochenen Texten, die Schwierigkeit eines Ausdruck, die Zweifel und die Alltäglichkeit im Umgang mit dieser Arbeit, die ein Spiel ist. In neuen Kontexten eröffnen sich neue Perspektiven auf den jeweiligen Text. Rivette verbindet dabei immer private Situationen seiner Figuren mit ihren Rollen im Film. Noch eine Stufe weiter damit ging John Cassavettes in seinem Opening Night, da dort Figuren, Rollen und tatsächliche Schauspieler in einen merkwürdigen Dialog treten.

L'amour fou von Jacques Rivette

L’amour fou von Jacques Rivette

Durch dieses Spiel mit dem Spiel wird also zugleich auf eine Meta-Ebene des Schauspiels verwiesen und diese Meta-Ebene durch eine Intimität gebrochen. Denn was wir jederzeit sehen, ist die Menschwerdung von Rollen, etwas Individuelles, Körperliches und Sinnliches dringt durch die gleichen oder ähnlichen Textpassagen und verändert deren Ton. Die Kamera erzeugt diese Intimität und zerstört sie zugleich. Es überrascht nicht, dass wir am Ende des Films genau mit dieser Frage konfrontiert werden von Puiu. Ist eine völlige Konzentration, eine völlige Intimität vor einer Kamera überhaupt möglich? Oder „spielen“ wir immerzu etwas, weil die Kamera Konsequenzen hat? Die Angst vor dem Sichtbarmachen greift um sich und das liegt nicht daran, dass die Kamera Intimität zerstört, sondern daran dass sie Intimität erhöht. Man denkt an das frühe Kino oder direct cinema und die Interaktion von Passanten mit der Kamera, man denkt an dieses ewige Posieren. Daran liegt es vielleicht auch, dass mir Dokumentationen, in denen die Protagonisten zumindest ab und an in die Kamera blicken logischer vorkommen als solche, in denen man sich verkrampft darum bemüht, dass es keinen Kamerablick gibt. Wozu? Um die Fiktion zu wahren? Wenn man sich beispielsweise Raymond Depardons Faits divers ansieht, wird man immer wieder kurze Interaktionen mit der Kamera bemerken, die nichts von der Direktheit und Intimität nehmen, sondern ganz im Gegenteil, zu diesen beitragen.

La bande des quatre von Jacques Rivette

La bande des quatre von Jacques Rivette

Beim Spiel kommen bei den besseren Filmemachern immer die Menschen und Körper hinter den Spielern zum Vorschein. In unserer Zeit hat sich der Schauspielbegriff längst von seinen naturalistischen oder rhetorischen Funktionen gelöst. Vielmehr geht es uns beim Spiel um eine Erfahrung, in deren Dauer wir Zeuge einer Menschwerdung sein dürfen. Natürlich hängen daran immer noch naturalistische Ideale, aber diese zielen jetzt im eigentlichen Sinne darauf, dass der Schauspieler als Person verschwindet. Nicht die realistische Darstellung interessiert Filmemacher wie Cristi Puiu oder Claire Denis, sondern das Spiel selbst, diese schmale Linie zwischen der Fiktion und der Dokumentation des Prozesses, indem wir gleichzeitig die Illusion einer Identifikation spüren und uns doch ermahnt fühlen, weil wir lernen zu wissen, dass die Erscheinung eines Menschen und sein Spiel immer dazu dienen, etwas essentielles zu verbergen. Diese Essenz finden wir genau dann, wenn wir beides zugleich sehen. Das Ergebnis der Erscheinungsarbeit und die Arbeit an der Illusion. Ansonsten ist das Spiel auch die Flüchtigkeit und Bescheidenheit der Darstellung. Es geht beim Spiel für das Kino nicht um den großen Schauspielmoment, den Monolog, der tränenreiche Abschied, vielmehr geht es um den Körper, der alles erfährt und dadurch erfahrbar macht, es geht um die Sinnlichkeit. Wir haben Respekt vor dieser Sinnlichkeit und es ist keine Überraschung, dass nicht erst seit Robert Bresson immer wieder der Laiendarsteller gesucht wird, um sozusagen diese Sinnlichkeit in aller Naivität und Unschuld vor die Kamera zu werfen. Dieses Vorgehen wird heute deutlich schwieriger, weil auch die meisten Laien mit Mechanismen der fatalen Kamera vertraut sind und darin geübt, ihre Sinnlichkeit zu verstecken. Als Folge greift die Arbeit mit dem Spiel im Kino zu extremeren Mitteln, die sich in Filmemachern wie Albert Serra, der so lange dreht bis seine Laien völlig erschöpft sind und nicht mehr kontrollieren können, was sie tun oder Bruno Dumont, der Schauspielern keine Information über ihre Position oder den Kontext der Szene gibt und beständig auf eine Deformation von Verhaltensweisen setzt, äußert. Vor allem Serra ist dabei auf der Suche nach einer Unschuld, eine Unschuld, die alle jagen im Schauspiel, diesen Moment, in dem etwas zum ersten Mal passiert und man es sieht. In diesem Zusammenhang ist es keine Überraschung, dass Erich von Stroheim unbedingt einen echten Messerstich am Ende von Greed haben wollte. Er wollte den Schmerz in den Augen seines Darstellers sehen. Er hat ihn nicht bekommen.

Aurora von Cristi Puiu

Aurora von Cristi Puiu

Es ist aber auch klar, dass eine Freude am Spiel in diesen Unschuldschoreographien kaum zum Vorschein kommen kann (zumindest dachte ich das bis P’tit Quinquin). Was ich damit sagen will, äußert sich womöglich auch in der beständigen Verwendung professioneller Schauspieler im Neuen Rumänischen Kino, dass doch eigentlich von seiner Verortung hin zu einem Bazin-Realismus nach Laiendarstellern schreit. Doch wenn wir Cristi Puius eigene Performance in Aurora ausklammern, werden bei den großen Namen des zeitgenössischen rumänischen immerzu professionelle Darsteller benutzt. Woran könnte das liegen? Eine Überlegung wäre, dass die Filmemacher des italienischen Neorealismus an einer dokumentarischen Wahrheit interessiert waren, die heute schon lange überholt ist. Die Rumänen scheinen vielmehr Interesse am Wesen der Fiktion zu haben beziehungsweise am Verhältnis zwischen Fiktion und Realität. Ein Film wie Corneliu Porumboius When Evening falls on Bucharest or Metabolism behandelt auch folgerichtig das Leben hinter dieser Illusion, das Spiel hinter dem Spiel. Ist dann alles ein Spiel?

Wenn es nach Arnaud Desplechin geht, dann ist zumindest das Kino ein Spiel. Darum geht es, um das Spiel. In seinem La vie des morts zeigt sich, dass nicht die Offenbarung einer komplexen Charakterpsychologie entscheidend für Identifikation und Menschwerdung im Kino sind, sondern die versteckte Existenz dieser Psychologie in den Körpern der Darsteller. Wir müssen spüren, dass hinter den Fassaden ein Leben lauert. Wie Desplechin, Olivier Assayas oder die schon erwähnte Claire Denis kann man dieses Leben durch kurze, flüchtige Momente spürbar machen, eine Geste, ein Blick (und es ist klar, dass der Schauspieler selbst hier genauso verantwortlich ist wie die Montage oder die Kamera). Eine andere Möglichkeit liegt in der Sprache. Das Verhältnis von Schauspieler und Text wurde im deutschen Kino nie vielschichtiger behandelt als von Rainer Werner Fassbinder. Bei ihm verraten sprachliche Formulierungen das Sinnliche und Politische hinter dem Spiel, obwohl sie jederzeit als solches markiertes Spiel sind. Ein solches Vorgehen wird im deutschen Kino heute oft hinter angestrengten und noch häufiger scheiternden Realismusbemühungen liegen gelassen. Der Meister im Umgang mit dem Verhältnis zwischen Text und Schauspieler ist aber sowieso ein Franzose, Éric Rohmer. Bei ihm geht es beim fatalen Spiel im Kino um eine Energie, die aus einem Text oder einer Idee etwas Konkretes macht, etwas Gegenwärtiges, das trotz aller Gegenbehauptungen nicht nur dem Theater sondern auch dem Kino eigentümlich ist. Bei Rohmer geht es nicht nur darum, was gesagt wird, sondern immerzu auch darum wie es gesagt wird. Der moralische Diskurs seiner Filme wird erst durch die Stimmen manifest, man könnte ihn zwar schreiben und lesen, aber erst dadurch, dass die Moral bei Rohmer an Körper gebunden ist, wird sie relevant. Jeder Satz, jedes Zucken kann etwas über eine Figur oder Menschen aussagen.

La vie des morts von Arnaud Desplechin

La vie des morts von Arnaud Desplechin

Doch das Spiel – zumal im Kino – ist natürlich auch eine Sache der Verwandlung. Wie Jean-Luc Godard bemerkte, ist das Kino eine Kunst der Masken und Verwandlungen. Die Möglichkeit einer ständigen Transformation; wenn das Kino ein Spiel ist, dann spielt es auch mit seiner Kontinuität und seiner Wahrscheinlichkeit. Filme wie Holy Motors von Leos Carax, Phoenix von Christian Petzold oder Time von Kim Ki-duk arbeiten mit der Verwandlung und der ewig faszinierenden Frage nach dem Erkennen und der Identität. Oft wird dann die Dramaturgie zu einem Spiel, man sieht Figuren dabei zu wie sie sich unerkannt in einer Rolle bewegen, aber man kennt ihr Geheimnis und wird so Zeuge eines Spiels statt einer Sinnlichkeit bis plötzlich aus diesem Spiel eine Sinnlichkeit bricht. Es ist klar, dass dieses Spiel mit der Verwandlung auch ein Spiel mit der Form beherbergt. Es ist keine Überraschung, dass die meisten Filmemacher, die sich Gedanken über das Spiel im Kino machen, sich auch Gedanken über das Spiel des Kinos machen. Die Kombination zweier Bilder oder das Abpassen des exakten Moments eines Schnitts sind mir immer vorgekommen wie ein Spiel. Insbesondere im digitalen Zeitalter trifft das wohl mehr denn je zu. Erstaunlich aus heutiger Sicht wie man auf eine derartige Kunst Regeln legen konnte. Aber wie wir sehen ist das Regelhafte und das Wahrhaftige im Kino immer in einem spannenden Wechselverhältnis, ganz ähnlich wie die Unschuld und das Spiel.

Mit Masken wird das Spiel auch zu einer Flucht, die das eigentliche Leben verbirgt und gerade dadurch bewusst macht. Jean-Luc Nancy hat geschrieben, dass der Sinn der Erscheinung in der Realität liegt, die sie verbirgt. Ähnliches gilt für das Spiel im Kino, obwohl das Kino weniger Verantwortung hat als die Erscheinung an sich. Damit will ich sagen, dass es im Kino manchmal auch reicht, eine Freude am Spiel auszudrücken wie das nicht zuletzt in Holy Motors geschieht oder auch in American Hustle von David O. Russell. Doch selbst diese Flucht gelingt nicht ganz, weil der Zuseher immerzu in der Lage ist, das filmische Schauspiel mit dem täglichen Schauspiel zu vergleichen. So wird die Freude des Spiels im Kino bei Carax ganz schnell zu einer Kritik des Spiels im Leben. Ist das so? Das Spiel liegt aber auch im Unsichtbaren. Erich von Stroheim war ein Meister dieser Inszenierungen, die man nicht wirklich sieht, aber spürt. So hat er sich bekanntermaßen bis hin zu den korrekten Unterhosen (selbst wenn diese nie sichtbar waren) seiner Komparsen um das Unsichtbare des Spiels bemüht. All das Wissen, all die Arbeit, die man im Ergebnis nicht mehr sieht, aber spürt. Sie hängt mit Körperhaltung, spontanen Gesten oder auch nur der Dauer zwischen Frage und Antwort zusammen. Oder würde jemand daran zweifeln, dass man mit seidenen Unterhosen, auf die das kaiserliche Emblem Österreichs gestickt ist, anders durch Reih und Glied geht, als mit seiner normalen Baumwollunterwäsche?

Holy Motors von Leos Carax

Holy Motors von Leos Carax

Wir bemerken also, dass es einen Unterschied gibt zwischen Filmen, die einen avancierten Umgang mit dem Spiel wählen und solchen, die das Spiel zelebrieren. Zu letzteren gehört sicherlich Hong Sang-soo, der ähnlich wie Puiu in seinem Schauspielworkshop viel mit der Wiederholung von Konstellationen und Dialogen arbeitet. In neueren Werken wie Our Sunshi oder In another country greift durch den eigenwilligen Einsatz des Spiels im Kino eine Art augenzwinkernder Surrealismus, der letztlich doch genau durch diese Unwahrscheinlichkeiten und simplifizierten Konstellationen eine sinnliche Wahrheit und Komplexität der Realität offenbart. Nehmen wir In another country, in dem Isabelle Huppert drei verschiedene Französinnen in Korea spielt, die immer wieder in ganz ähnliche Situationen geworfen wird und immer wieder auf einen grandiosen Life Guard, der immer vom selben Schauspieler gespielt wird, trifft. Dieses clevere Spiel mit dem Cast ermöglicht auf der einen Seite ein Anzeigen der Konstruktion des Films, wieder diese Meta-Ebene, aber zugleich ermöglicht es eine sinnliche Erfahrung von Traumzuständen, Sehnsüchten und dem Verhalten zwischen Fremden, eine Art Erforschung von Unbeholfenheit. Genau umgekehrt in der Besetzung ging bekanntlich Luis Buñuel in seinem Cet obscur objet du désir vor, in dem eine Figur von zwei verschiedenen Schauspielerinnen gespielt wird. Wieder wird dadurch der Schauspielprozess sichtbar, aber gleichzeitig offenbart sich eine Sinnlichkeit, die mit unserer Wahrnehmung zu tun hat.

Our Sunshi von Hong Sang-soo

Our Sunshi von Hong Sang-soo

Es stellt sich auch die Frage, welche Distanz ein Filmemacher wählen muss, um das Kino zum Spiel werden lassen. Es scheint klar, dass in klassischen Schuss-Gegenschuss Auflösungen weniger Raum für wahrhaftiges Spiel bleibt, die Totale jedoch verneint ganz oft das Gesicht, in dessen Regungen sich doch die schärfste und zugleich feinste Linie zwischen dem Spiel und der Realität des Kinos finden lässt. Auf der anderen Seite kann man das Spiel mit dem Spiel so ziemlich aus allen Perspektiven betreiben. Schuss-Gegenschuss kann im Gesicht von Jimmy Stewart ähnliche Gleichzeitigkeiten zwischen Sinnlichkeit und Meta-Ebene erzeugen wie eine Totale bei Hou Hsiao-Hsien. Es geht hierbei um eine Balance zwischen Freiraum und Käfig, die ewige Debatte über Kontrolle und Freiheit im Kino. Beim Spiel gibt es beide Extreme. Es gibt Filmemacher wie Bresson, David Fincher oder Jean-Pierre Melville, die alles kontrollieren und gerade dadurch eine Art Freiheit im Spiel erreichen und es gibt Filmemacher wie Serra, Lisandro Alonso oder eben Puiu, die sehr viel vom Leben, von der Welt hineinlassen in das Spiel und dadurch gerade das Spiel in den Vordergrund rücken. Ein perfekter Kompromiss findet sich in der letzten Szene von Beau travail von Claire Denis. Dort reagiert wie so oft bei Agnès Godard die Kamera auf den Schauspieler, sie wahrt die Distanz für den Freiraum und beginnt dann mit ihm zu tanzen. Letztlich geht es beim fatalen Spiel im Kino um diesen Tanz, der erst das Fatale ermöglicht (und das wollen wir doch). Die Kraft zwischen Kamera und Spiel, eine Liebesgeschichte mit einem unendlichen Spektrum an möglichen Emotionen.

Die einzige Übung, das einzige Spiel ist letztlich das Kino selbst, die Umsetzung. Alles andere ist reine Theorie. Es gibt als zugleich kein Spiel und nur Spiel im Kino. Und es ist das Kino, das uns immerzu mitteilt wie ernst es ist und wie weit weg von der Realität es ist. Zum Schluss nochmal Cristi Puiu:

“So this is how cinema has to be made now, I think—every film must be an exercise. Though these specific exercises were not made with the intention of being shown publicly, I am very happy that programmers are now inviting the film to festivals. I think that it deserves to be seen, and that the exposure is great for the people I worked with. “Actors” is really an administrative term. We live in society without wanting anarchy, so we say that some people are actors, others are directors, others are cinematographers, physicists, mathematicians, doctors, and so on. But I don’t believe this to be true. Anybody can be anything, the only differences come from your choices to study one domain or another. I am working with a camera, you have a computer to type on, others are using medical equipment, and there are no professions. There are only people trying to understand the world better by using different sets of tools.”

2014: Ein Bildgedicht

P'tit Quinquin von Bruno Dumont

2014 ist….

…Erwachsenwerden.

Boyhood von Richard Linklater

Boyhood von Richard Linklater

…Licht, Schatten und Ventura.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa

…Eintauchen in unendliche Kinowelten.

Guardians of the Galaxy von James Gunn

Guardians of the Galaxy von James Gunn

…philippinischer Dschungel.

Mula sa kung ano ang noon von Lav Diaz

Mula sa kung ano ang noon von Lav Diaz

…Awesome!

The Lego Movie von Phil Lord/Chris Miller

The Lego Movie von Phil Lord/Chris Miller

…Erinnerung an einen guten Freund.

Life Itself von Steve James

Life Itself von Steve James

…ein Land der Wunder.

Le Meraviglie von Alice Rohrwacher

Le Meraviglie von Alice Rohrwacher

…All that Jazz!

Whiplash von Damien Chazelle

Whiplash von Damien Chazelle

…stumme Gewalt.

Plemya von Myroslav Slaboshpytskiy

Plemya von Myroslav Slaboshpytskiy

…ein Puzzle.

Gone Girl von David Fincher

Gone Girl von David Fincher

…Kappadokische Kammerspiele.

Kış Uykusu von Nuri Bilge Ceylan

Kış Uykusu von Nuri Bilge Ceylan

…endloser Konflikt.

Das erste Meer von Clara Trischler

Das erste Meer von Clara Trischler

…Fußballspielen im Schnee.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu

…die Bestie Mensch.

The Salt of the Earth von Wim Wenders und Julian Ribeiro Salgado

The Salt of the Earth von Wim Wenders und Julian Ribeiro Salgado

…ein Doppelgänger.

Enemy von Denis Villeneuve

Enemy von Denis Villeneuve

…Entschleunigung.

Journey to the West von Tsai Ming-liang

Journey to the West von Tsai Ming-liang

…schräge Vögel.

Birdman von Alejandro González Iñárritu

Birdman von Alejandro González Iñárritu

…ein Unterschlupf in einer kalten Winternacht.

L'Abri von Fernand Melgar

L’Abri von Fernand Melgar

…lebendige Kunst, lebendige Geschichte.

National Gallery von Frederick Wiseman

National Gallery von Frederick Wiseman

…Christbäume und Einsamkeit.

Christmas Again von Charles Poekel

Christmas Again von Charles Poekel

…nicht in Worte zu fassen.

P'tit Quinquin von Bruno Dumont

P’tit Quinquin von Bruno Dumont

…im Kinosaal erblinden.

Adieu au Langage von Jean-Luc Godard

Adieu au Langage von Jean-Luc Godard

…ein Besuch bei einer Erinnerung.

Gyeongju von Zhang Lu

Gyeongju von Zhang Lu

…Liebe und Unschuld.

Still the Water von Naomi Kawase

Still the Water von Naomi Kawase