Woche der Kritik: Wenn Bilder sich gegenseitig verschlingen

Nakorn-Sawan von Puangsoi Rose

Woche der Kritik Tag 2 – Donnerstag, der 7. Februar 2019

Am zweiten Abend hat die Woche der Kritik ein Double Feature mit zwei Werken junger FilmemacherInnen gezeigt. Zunächst wurde Nakorn-Sawan von der in Deutschland tätigen thailändischen Regisseurin Puangsoi Rose Aksornsawang gezeigt, im Anschluss Gulyabani von Gürcan Keltek aus der Türkei. Die beiden Filme sowie das nachfolgende Gespräch (dem ich leider nicht beiwohnen konnte) wurden unter dem vielversprechenden Titel „Widerstand gegen das Verschwinden“ angekündigt. Ist das nicht die Kernaufgabe eines jeden Künstlers, um so mehr eines Filmemachers? Ist seine Arbeit nichts anderes, als Bilder vor dem Auslöschen und dem Vergessen zu retten? Und gilt es nicht in einem noch wichtigeren Maß für uns Zuschauer, die in der künstlich erzeugten Dämmerung des Kinosaals nur danach streben, dem einen Bild zu begegnen? Dem kleinen Irrlicht, das wir, alsbald auf der Leinwand nichts mehr zu sehen ist, bei uns, in den Tiefen unseres Gedächtnisses, wach zu halten versuchen? In einem vielleicht konkreteren Sinne ging es in den zwei Filmen um das große Thema „Verschwinden“, sei es auf der Ebene einer Familiengeschichte (Roses Film) oder auf einer abstrakteren, fabelhafteren und zugleich politischeren Stufe (genau das, was Keltek in den gelungensten Momenten seines Filmes in Bilder fasst).

In Nakorn-Sawan inszeniert Puangsoi Rose ihre Rückkehr nach Thailand, zu ihrer Familie und deren Kautschukplantage. Sie hat einen längeren Aufenthalt in Deutschland hinter sich, wo sie gelebt und Kunst studiert hat. Die ersten Bilder sind – absichtlich, wie es sich später herausstellt – in etwas mittelmäßiger Video-Qualität gedreht. Die ersten Minuten, ruhig, wortkarg, mal rätselhaft, zeigen den Alltag der Eltern im Wald, als Zuschauer könnte ich mich damit zufriedenstellen, doch kommt plötzlich der Bruch, der alles zerstört, ja, der alles Vergnügen, allen Spaß am Beobachten verdirbt. Auf einmal wird das Bild sauberer, der Einstellungsrahmen sorgsamer eingerichtet, die Eltern, der Wald, die Eltern im Wald sind verschwunden, durch andere Figuren ersetzt, von denen man sofort begreift, dass sie Darsteller sind. Weg mit dem Wirklichen, mit dem Dokumentarischen, mitten hinein in die Fiktion, scheint uns die Filmemacherin damit zu treiben. Durch diese zweite narrative Ader, die viel statischer ist als die erste, findet sich Rose in der Figur einer jungen Frau und ehrgeizigen Filmstudentin wieder, die anscheinend eine besonders starke Beziehung zu ihrer Mutter pflegt. Einen Bezug zwischen den zwei erzählerischen Linien gibt es schon, nur ist es legitim, zu fragen, was genau sich aus diesem Kollidieren zwischen Fiktion und Dokumentarfilm ergibt. Denn schnell hat man den Eindruck, vor einem überaus willkürlichen, wenig ausgedachten Zusammengesetztem zu sitzen. Die dokumentarischen Stellen scheinen das nie wirklich zur Durchführung kommende Versprechen echten visuellen Funkelns in sich zu bergen, dahingegen fühlt sich die Fiktion sehr kalt, fast leblos, an.

Mit ihrem letzten Film, No Home Movie, war es Chantal Akerman gelungen, eine ganze Welt von Erinnerungen, Filmbildern, Geisterbildern, Fiktionen, ausschließlich mittels einer kleinen HD-Kamera aufzutun. Wie bei Roses Nakorn-Sawan ging es in Akermans Film um die leidenschaftliche, nie richtig zu entschlüsselnde Verbindung zur Mutterfigur. Doch wo die belgische Filmemacherin eine ganze Flut an Bildmaterial – nicht zuletzt einen pixeligen Laptopschirm während einer Skype-Unterhaltung – für ihre Erzählung nutzte, bleibt Rose bei einem überraschungsarmen theoretischen Ansatz stehen. Im Abspann („in memory of my mother“) versteht man, dass diese Mutter verschwunden ist, dass der Film sie wiederbeleben möchte. Dass ich an keiner Stelle richtig berührt worden bin, kann ich nur dadurch erklären, dass dieser Mutter stets eine konkrete, räumliche Anwesenheit verweigert wird. In einer Szene zum Beispiel, filmt Rose – man hört ihre Stimme im Off – ihre Eltern als sie dabei sind, sich einen ihre Kurzfilme auf dem Laptop anzuschauen. Der Screen wird uns aber nie gezeigt. In einer anderen Szene, im letzten Teil des Filmes, wirft die Mutter einen emotionalen Blick auf alte Familienfotos, sagt der ihr gegenüber sitzenden Tochter bei jedem Bild, das sie in ihrer Hand festhält: „Erinnerst du dich?“ Ab und zu fängt sie sogar an, ihr ein Foto zu reichen, doch jedes Mal unterbricht sie plötzlich diese Bewegung des Reichens in dem Moment, in dem die Vorderseite des Fotos sichtbar werden könnte, als wäre sie dazu aufgefordert, diese Bilder auf keinen Fall zu zeigen.

Man könnte sich wohl denken, dass dieses Ausweichen vorm Bildhaften ganz bewusst erzeugte Lücken sind, die zu einer Ästhetik des Unsichtbarmachens, der Verfremdung, beitragen. Diese Hypothese ist jedoch, angesichts des dürftigen, viel zu psychologischen fiktiven Teils, überhaupt nicht haltbar – man denke zum Beispiel an eine der letzten Szenen der „Fiktion“, in der die junge Frau sich mit einem ehemaligen Liebhaber im Hotelzimmer, irgendwo in einer unbenannten Stadt, trifft. Bedeutungsschweres Schweigen und etwas faule Nahaufnahmen sorgen für ein sofortiges Verständnis der Situation: die wachsende Reue, dass die große Liebe gescheitert ist. Gut, und weiter? Nakorn-Sawan ist also ein Film, der sich durch eine Welt, ja, einen Makrokosmos an Bildern durchwühlen möchte, der sich dabei aber leider selber im Wege steht, weil er sich an fast keiner Stelle die Zeit nimmt, diesen Bildern zu folgen. Paradoxerweise wird das Retten vorm Verschwinden langsam zum unausweichlichen Verschwinden aller Visionen. Eine Zusammenstückelung von verstreuten Vignetten, deren Verstreuung einfach zu nichts führt.

Gulyabani von Gürcan Keltek

Gulyabani von Gürcan Keltek

In Gulyabani von Gürcan Keltek wird eine andere Art von Verschwinden inszeniert, zudem in einer viel experimentelleren Herangehensweise. Der Film beginnt mit sehr körnigen, in grauen und brauen Farbtönen gehaltenen Aufnahmen. Laub ist zu sehen, ruhig auf dem kalten Wasser treibende Baumblätter. Stellenweise bricht ein schwaches Licht durch die Baumkrone, während auf der Tonspur die herrliche Ruhe und die wilde Polyphonie der Umgebung die Bilder sanft ins Schwanken bringt. Gleichzeitig beginnt im Off eine ebenso sanfte weibliche Stimme, eine Geschichte zu erzählen. Eine Mischung aus einer historischen Chronik der modernen Türkei, archaischer Mythologie und Sci-Fi-artigen Zügen, das ein Gegengewicht zu den konkreten, bodenverhafteten Bildern darstellt. Es folgen langsame Aufnahmen der Naturelemente – Regen, der in dicken Tropfen vom Dach herabfällt, der Schmutz auf Wandflächen –, die sich in eine „wässrige Dichte“ zusammenflechten. Ein Vergleich mit den Filmen von Andrei Tarkovsky drängt sich auf. Eine Filmerinnerung, die jedoch niemals störend oder akademisch wirkt, da der Schnitt diesem feinen Geflecht eine sehr nüchterne Zerbrechlichkeit verleiht. Gerade diese teils durchsichtige, nicht aufzubewahrende visuelle Dichte ist es, die uns der Film in seinen schönsten Momenten anbietet – eine Konkretion der Elemente, die auch im Bruch zwischen den zwei Teilen der Erzählung ziemlich geschickt ins Spiel gebracht wird. Diese mündet bald in eine viel mineralischere, trockenere und buntere Welt, während die Stimme im Off an politischem Ärger gewinnt. Doch die Überanwesenheit der Off-Stimme ist schon vor ein paar Minuten zum störenden Trick geworden, genauso wie das Sounddesign, das den Film zum Ende hin immer stärker mit elektronischen Tönen durchdringt.

Ich spüre einen in mir wachsenden Ärger, dass ich mir diese kryptische Tongestaltung anhören muss, während die Bilder allmählich einen faszinierenden Schwindel von Farben und Lichteffekten aufbauen. Wo die Bilder sich wie von allein auf den Weg zu Neuem, Unerwarteten machen, so blickt der Ton einfallslos in die Vergangenheit des Kinos, indem er versucht, Filme wie Chris Markers Sans soleil nachzumachen (eben diese elektronischen Tönen, verbunden mit der im Off erzählten Geschichte eines Mannes, der quer durch die Epochen und durch die Zeit, bis weit in die Zukunft hinein reist, auf der Suche nach seinen Erinnerungen). Für ein paar Minuten, kurz vor Ende des Filmes, verstummt die Stimme stellenweise und Gulyabani wird zu einem hypnotischen Erlebnis. Durch Emulsionen auf Film, das Auge durchstechende Cuts auf schwarzweiße Straßenaufnahmen und einen sehr schönen epileptischen „Splitscreen“. Nach der Vorführung bin ich ganz wach, der schläfrige Zuschauer vom Beginn hat sich gewandelt, ist komplett verschwunden. Das Screening ist zu Ende. Nun ist es an der Zeit, dass ich verschwinde, obwohl der Abend und die Diskussion noch nicht vorüber sind.