Die „vues Lumière“: eine Zeit- und Weltreise

Ruraux au galop von Gabriel Veyre (Vue N° 347)

Dieser Text ist die modifizierte Version eines Vortrags, der am 14.07.2017 bei der Veranstaltungsreihe Objectif 16 in Berlin gehalten wurde. Der Abend begann mit einer Einführung, im Anschluss wurden drei Filmprogramme gezeigt. Im Anschluss an jedes der Programme gab es eine Diskussion.

Die Erfindung des Films kann nicht einem einzigen virtuosen Genie zugeschrieben werden. Geschichtsschreibung funktioniert zwar oft als Heldengeschichte, aber gerade im Fall des Films als industrieller Kunst, wäre es ziemlich verkehrt von einem einzelnen Erfinder zu sprechen. Die Technikgeschichte des Films würde genug Material für einen eigenen Vortrag (oder besser: eine Vortragsreihe) bieten, und ist zudem eng verknüpft mit anderen medialen Formen, die im 19. Jahrhundert existierten, und die man heute gemeinhin als Pre-Cinema bezeichnet.

Vereinfacht gesagt ist ein analoger Filmstreifen nichts anderes als ein Kunststoffstreifen, der mit einer lichtempfindlichen Emulsion beschichtet ist. In der Kamera wird dieser Streifen an einer Öffnung vorbeibewegt, durch die Licht einfällt. Die lichtempfindliche Emulsion hält dann fest, was sich im Moment der Belichtung vor der Öffnung abgespielt hat. Wenn man den Filmstreifen schnell genug bewegt – so das etwa 12-14 Aufnahmen in der Sekunde entstehen – und man das Ganze nach dem Entwickeln mit der gleichen Geschwindigkeit projiziert, dann entsteht durch das Zusammenspiel verschiedener optisch-physiologischer Effekte der Eindruck von Bewegung.

Wie gesagt, mussten also viele verschiedene Dinge erfunden werden, bevor der Film „erfunden“ werden konnte. Es brauchte eine photochemische Emulsion, die lichtempfindlich genug war, dass selbst bei einer Belichtungszeit von einem Bruchteil einer Sekunde eine Aufnahme entsteht. Es brauchte einen widerstandsfähigen Kunststoff, der zwar schmal ist, aber in der nötigen Geschwindigkeit durch den Apparat gezogen werden konnte. Es brauchte einen Mechanismus, der die Öffnung des Shutters, der steuert, wie lange Licht durch die Öffnung einfällt, mit dem Vorbeigleiten des Films synchronisierte. Es brauchte entsprechende Linsen, mit denen das Licht gebündelt werden konnte und Lichtquellen, die stark genug waren, um den Film dann anschließend zu projizieren.

Die „Helden“ der Filmgeschichte

Trotz dieser Schwierigkeiten hat die Geschichtsschreibung dann doch zwei Helden auserkoren, die als Erfinder des Kinos postuliert werden. Und zwar ein Brüderpaar aus einer Industriellenfamilie aus Lyon, Auguste und Louis Lumière. Die beiden haben am 28. Dezember 1895 in einem Salon in Paris ihre neueste Erfindung der Öffentlichkeit präsentiert – den Cinématographe. Dieses Datum gilt gemeinhin als Geburtsstunde des Kinos. Um die Funktionsweise dieses Apparats vorzuführen, haben sie gezeigt, was man mit ihm machen kann, nämlich Filme drehen und sie dann vorführen. Zu diesem Zweck haben sie zuvor bereits einige kürzere Filme in ihrem eigenen Lebensumfeld gedreht – sie sollten eigentlich bloß Vorführungszwecken dienen, denn was verkauft werden sollte, war der Apparat für den Hausgebrauch (wie später 8mm-Kameras oder Camcorder).

Die Lumières hatten sich allerdings verschätzt, denn die Leute interessierten sich mehr für die Filme als für den Apparat. Also änderten sie ihr Geschäftsmodell, bildeten Leute aus, die mit den Kameras umgehen konnten – man nennt sie Operateure – und sendeten sie aus, um mehr Filme zu drehen. Die Operateure waren zunächst in Europa und schließlich in der ganzen Welt unterwegs. Wo sie hinreisten, drehten sie überall eigene Filme – man nennt diese 30-60-sekündigen Aufnahmen „vues“, auf Deutsch wird das meist mit „Ansichten“ übersetzt – und bildeten in den Ländern, die sie bereisten wiederum neue Operateure aus. Die vues, die so entstanden, wurden einerseits vor Ort gezeigt und dann auch in alle Welt herumgeschickt.

Die vues Lumière hatten also eine doppelte Funktion. An dem Ort, wo sie gedreht wurden, zeigten sie dem Publikum das Vertraute. Dadurch konnten die Leute, die diese Form der beweglichen Fotografie noch nie gesehen hatten davon überzeugen, dass es sich tatsächlich, um authentische Aufnahmen der Stadt handelte. Wurden die Filme anschließend verschickt und an anderen Orten gezeigt, boten sie den Reiz des Fremden und Exotisch und gaben Auskunft über Menschen, Kulturen, Architektur, Mode, etc. in anderen Ländern. Insgesamt wurden zwischen 1895 und 1901 über 1.400 der vue Lumière angefertigt, von den fast alle erhalten geblieben sind (nur 18 gelten als verschollen). Online sind sie alle im Catalogue Lumière erfasst.

Zeitkapsel/Sehkapsel

An diesen Filmen faszinieren mich vor allem zwei Aspekte. Zum einen sind sie historische Zeitkapseln und das ist für sich sehr wertvoll. Ich finde es immer wieder spannend zu sehen, wie die Welt vor 120 Jahren ausgesehen hat. Am spannendsten ist das natürlich, wenn man diese Orte in der Gegenwart kennt und vergleichen kann, was sich verändert hat. Aber selbst wenn man die heutigen Orte nicht kennt, haben diese Aufnahmen etwas Geisterhaftes. Es liegt an der Gestaltung der vues Lumière, dass sie einen mehr, als andere Filme, gewahrt werden lassen, dass all diese Menschen, die vor der Kamera zu sehen sind oder sogar direkt in die Kamera blicken, in einer anderen Zeit gelebt haben und schon lange tot sind. Das Gleiche könnte man auch über andere Filme sagen, und doch ertappe ich mich beim Sehen von Filmen aus der Frühzeit der Filmgeschichte öfter dabei, über solche Dinge nachzudenken.

Das hat mit dem zweiten Aspekt zu tun, der mich an den vues fasziniert. Sie sind nicht nur Zeit- sondern auch Sehkapseln. Betrachtet man sie nur als historische Fragmente und bruchstückhafte Dokumente einer vergangenen Zeit, so wird ihnen das nicht gerecht, weil sich mit der Wiederholung der Motive schon bald eine Abstumpfung einstellt. Aber, die weitaus größere Faszination beziehen die vues aus der Art und Weise, wie sie die Welt aufnehmen. Sie unterscheiden sich radikal von Mainstream-Kinofilmen und Fernsehbildern, wie man sie heutzutage zu Gesicht bekommt – man sieht sie anders. Es gibt in ihnen weniger Steuerung, darüber habe ich schon an anderer Stelle geschrieben: Das Auge wird eingeladen über die Leinwand zu schweifen, sich in Details zu verlieren, die gemäldeartigen Ansichten zu betrachten wie ein Gemälde – der fehlende rote Faden, die ungewohnte Bildstruktur werden dann zum herausstechenden Merkmal. Dieser Blick ist nicht auf die vue Lumière beschränkt, an den Rändern des Kinos finden sich Filmemacher wie Sergei Loznitsa, Chantal Akerman oder Tsai Ming-liang deren Arbeiten einen ähnlichen Blick heraufbeschwören. Sie laden wie die vues Lumière zum Vermessen des Bildraums ein. Das unterscheidet sie vom Kino des Eintauchens, des Akzentuierens, des Vorbetens. Die vues – und nicht nur jene, die mit der Exotik ferner Plätze kokettieren – faszinieren zunächst als Seh- und erst dann als Zeitkapseln.

Gezeigte Filme:

Il Cinema Ritrovato 2017: Unsere hohen Lichter

Patrick Holzapfel

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Erster Zwischentitel in Steamboat Bill, Jr.: „Muddy Waters“

Erster Zwischentitel in Neighbors: „The Flower of Love could find no more romantic spot in which to blossom than in this poet’s Dream Garden.“

Traumgärten in Bologna: In einem Gespräch mit Frieda Grafe, Hartmut Bitomsky und Thomas Tode hat Harun Farocki einmal die Frage gestellt, ob man noch Filme machen könne, wenn es schon von allem Filme gäbe. Bologna lehrt mich vor allem, dass es noch viel mehr Filme gibt. Auf einer Ebene ist das befreiend, auf einer anderen einschüchternd. Es entsteht hier nicht nur eine starre Überwältigung und Handlungsunfähigkeit als Filmschaffender, sondern auch als Cinephiler. Das Schauen von Filmen rückt in einen Modus der Akzeptanz dessen, was man nicht sieht. Erstaunlich in welcher Form der Bericht vom Kinogang immer noch von einer Rhetorik des allgemeinen Verständnis geprägt wird und wie wenig von der tatsächlichen Verirrung, in der das Selbstbewusstsein weniger dem Sehenden, als dem überlegenen Kino selbst angehört. Es gibt natürlich Besucher, die einen Überblick über ein solches Programm haben, aber letztlich habe ich dieses Jahr von sehr vielen gehört, dass sie das Festival „entspannter“ angehen, sich mehr treiben lassen und sich weniger dieser wilden Jagd nach den von Serge Daney beschworenen verborgenen Schätzen hingeben wollten. Es gibt also ganz ähnlich den Essayfilmen von Farocki eine Rückbesinnung auf den Autor, in diesem Fall den Autor des Sehens. Es geht weniger um das Programm des Festivals als das persönliche Überleben darin, die Erkenntnis, dass im Traumgarten nicht jede Frucht erreichbar ist. So reif bin ich noch lange nicht und so habe ich die Woche nach dem Festival damit verbracht, Filme zu sehen, die ich auf dem Festival verpasst habe.

Meine persönlichen Momente des Festivals:

Zum einen eine legendäre Tanzsequenz mit Sehnsuchtsträumen, Überblendungsorgien, betrunkenen Hunden und dem magnetischen Gesicht von Ivan Mosjoukine in Kean ou Désordre et génie von Alexandre Volkoff. Eine Szene, die wie vieles in Bologna derart gut musikalisch begleitet wurde, dass mir die Kubelka-Strenge bezüglich der Projektion ohne Musikbegleitung gehörig um die Ohren flog. In meiner Wahrnehmung sollte es immer beide Möglichkeiten geben. Einmal mit und einmal ohne Musik. Eine Szene, in der ein Film spazieren geht. Eine Szene, in der dem Kino erlaubt wird, zu erzittern. Eine Szene, die meiner dieses Jahr auffälligen, überdurchschnittlichen Liebe zu Hunden (auf der Straße und im Kino) in die Karten spielte genau wie eine grenzwertig brutale Szene in Marie Epsteins und Jean Benoit-Lévys Itto, in der einem Hund die Welpen weggenommen werden, was zu Irritation und schließlich ungebremster Wut im Tier führt. Zum Schmerz des entrissenes Kindes hatte auch Frank Borzage in seinem zärtlichen Until They Get Me einiges zu sagen. Dann waren da die Farben im Schwarz von Blood on the Moon von Robert Wise. Und dann Place de la Concorde von Etienne-Jules Marey, ein Film, der eigentlich nicht als solcher gedacht war und einen wie die Lumière-Projektionen auf dem Festival an das Kino erinnert, was das Kino ist und sein könnte, nicht was es war. Im weniger als eine Minute langen Film sieht man das Treiben in der französischen Hauptstadt an einem belebten Tag. Es passiert so viel im Bild, dass es gut getan hat, dass der Film mehrfach gezeigt wurde. Wie Abbas Kiarostami einmal sagte: Man fühlt, dass Dinge interessanter anzusehen sind, wenn ein Rahmen um sie herum ist.

Das stimmt aber nicht ganz. Schließlich habe ich auch die tosenden Grillen in den Bäumen von Bologna gehört, die im heftigen Gewitter wankenden Blätter eines Bananenbaums im Hof vor unserem Fenster, das Licht, das über die Terrakotta-Gemäuer wandert und dieses Jahr auch endlich das unsichtbare Wasser, das zwischen den Häusern, kaum sichtbar durch die Stadt fließt. Kein Rahmen, trotzdem Kino und zwar in einer Art und Weise, das scheint mir nicht wirklich präsent zu sein, die sich eben abhebt von diesem Streben nach dem neuem Film, dem viele Zuseher und die schreibende Zunft so auf den Leim gehen. Das heißt nicht, dass sich in Bologna nicht auch viele Probleme einer Kulturbranche zeigen, die relativ willkürlich entscheidet, was von der Filmgeschichte erhalten und beleuchtet wird. Das Problem ist, dass eine Kritik dieses Vorgehens jenen vorbehalten wird, die mehr Früchte aus dem Traumgarten kennen, als vom Festival zur Verfügung gestellt werden. Weit entfernt von solchem Wissen möchte ich abschließend noch betonen, dass mir das Prinzip der „Gatekeeper“ in der historischen Auseinandersetzung mit Filmen fatal scheint. Verschiedene Figuren schwingen sich auf zu Experten von diesem oder jenen Kino, sie werden zu Entscheidungsträgern, die letztlich sagen, was relevant ist und was nicht und zu bestimmten Themen scheint es nur sie zu geben, die dazu etwas äußern sollen und können. Was dabei an Tradition gewonnen wird, geht an Lebendigkeit, Offenheit und tatsächlicher Auseinandersetzung mit dem Kino verloren. Nach Bologna fahren sollte man trotzdem und zwar nicht, um wie viele das grandiose Essen und die schöne Stadt zu genießen, sondern um die seltene Chance wahrzunehmen, zu erfahren, dass Kino mehr ist, als man sehen kann und dass nicht nur deshalb das Vergangene im Kino immer von der Gegenwart und Zukunft des Mediums erzählt.

Rainer Kienböck

blood on the moon

Mittlerweile habe ich für mich einen dienstbaren Weg gefunden durch das Programm zu navigieren. Recht willkürlich schließe ich vor Beginn des Festivals ein paar der Programmreihen aus, die mir weniger interessant erscheinen, dann lasse ich mich zu Beginn des Festivals treiben und peile dabei eine gesunde Mischung aus halbverschollenen Raritäten und Klassikern, die ich noch nicht gesehen habe, oder wiedersehen möchte, an. Im dritten Jahr habe ich mich auch endlich damit abfinden können, dass das Il Cinema Ritrovato ein Festival des Verpassens ist: jede Entscheidung für eine bestimmte Vorführung ist zugleich eine Entscheidung gegen andere ebenso interessante Programmpunkte. Es hängt sicherlich mit dem Reiz dieses Festivals zusammen, dass manche dieser Entscheidungen Filme betreffen, die vielleicht für Jahrzehnte nicht mehr gezeigt werden.

Ich war in jedem Fall gut beraten, in der Programmgestaltung vieles dem Zufall zu überlassen. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ich wohl nie zuvor in einem so kurzen Zeitraum so viele Stummfilme gesehen habe. Vor allem die Reihe mit Filmen von vor 100 Jahren hatte es in sich, war 1917 ein annus mirabilis des Kinos oder führt ein sorgfältig kuratierte Auswahl von 50 Filmen aus einem beliebigen Jahr automatisch zu so einem fantastischen Programm? Robert Wienes Furcht mit Conrad Veidt, Tösen från Stormyrtorpet von Victor Sjöström und vor allem Frank Borzages Until They Get Me zählen ohne Zweifel zu den besten Filmen, die ich in Bologna sehen durfte. Und das obwohl kaum einer der 1917er-Filme untertitelt war und die Simultanübersetzungen noch immer so schlecht sind, dass ich im Endeffekt lieber versuche dänische, schwedische oder italienische Zwischentitel zu lesen (es spricht für die Filme, dass sie trotzdem wirken). Until They Get Me muss auch aus einem anderen Grund in diesem Text Erwähnung finden – er spielt in Kanada.

Wie die Zufälligkeiten eines solchen Festivalbesuchs es so wollen, begann mein Bologna-Aufenthalt mit einem Screening von Bill Morrisons Found-Footage-Kompilationsfilm Dawson City. Frozen Time, der sich der Geschichte der namensgebenden Stadt in Nordkanada – einem Zentrum des Gold Rush des späten 19. Jahrhunderts – annimmt. Dawson City war nur der Auftakt für eine überproportionale Menge an Kanada-Western in meinem persönlichen Programm. Neben Borzages Film muss ich an dieser Stelle auch Otto Premingers River of No Return erwähnen: Marilyn Monroe in Cinema Scope und Technicolor und dennoch lebt der Film stärker von der unvergleichlichen Präsenz Robert Mitchums (dem diesjährigen Festival-Posterboy). Nach River of No Return und Blood on the Moon am Folgetag hatte ich mir vorgenommen, zumindest einen Mitchum-Film pro Tag zu schauen. Die Zufälligkeiten wollten es anders, und ich sah zu meinem Bedauern keinen einzigen weiteren.

Aber noch einmal zurück zu den Stummfilmen. In einem längeren Text  habe ich bereits über die grandiosen Lumière-Programme geschrieben, die es in Bologna zu entdecken gibt, samt großartigen Einführungen (ich verweise noch einmal auf Aboubakar Sanogo) und wunderbarer Musikbegleitung – einer der Pianisten hat das Musikrepertoire sogar um seine Stimme ergänzt. Diese Aktion war für mich sicher der skurrilste musikalische Moment des Festivals, bei dem Musik eine große Rolle gespielt hat. Bei den Freiluftvorführungen am Piazza Maggiore gab es gleich zwei solche musikalische Höhepunkte: zum einen die Live-Performance von Maud Nelissen & The Sprockets zu The Patsy von King Vidor und zum anderen Monterey Pop von D.A. Pennebaker, der Konzertfeeling aufkommen ließ. Umgeben von hunderten Leuten, die Soundanlage bis zum Anschlag aufgedreht, der Applaus des Publikums am Piazza mischt sich mit dem Applaus des Publikums im Film. Eine überwältigende Erfahrung, die mich zumindest ein wenig mit der Praxis digitaler Projektion von analog entstandenen Filmen versöhnt – auf konventionellem Weg hätte man den 16mm-Film wohl kaum auf der 20 Meter hohen Leinwand am Piazza zeigen können.

Zum Abschluss noch ein paar weitere Eindrücke vom Piazza, die ich einfach erwähnen muss: L’Atalante auf Riesenleinwand wiederzusehen, über Michel Simons Brillanz zu staunen und natürlich über die vernebelten Traumbilder von Jean Vigo, in denen dennoch das „echte Leben“ pulsiert; der Festival-Trailer, in dem Jimi Hendrix zu Because the Night lipsynched und Brigitte Bardot zum gleichen Lied ein Tänzchen wagt. Leider, leider hat er es (noch) nicht auf die gängigen Video-Plattformen geschafft, um ihn hier zu teilen – es wäre ein würdiger Abschluss für einen Text über die Höhepunkte des Festivals.

Ivana Miloš

danse

Every Love Has Its Landscape

Where architecture and summer join, bringing about a hazy, misty awareness of movement and fiction caught in a tête-à-tête lasting several days, there cinema can soak the streets and inhabit a sanctuary upon a hill, overlooking the landscape with the decisive stance of a searcher akin to Sterling Hayden in the opening shots of Johnny Guitar. Here, only a celebratory blink of the eye separates the fear of being caught in a storm and buried by the rubble of an explosion bringing in the future from the feeling of mercifully basking in the past. Have the images invaded and pervaded your consciousness or has the sun gone to your head? Blissfully, there is no way of telling. Bologna’s Il Cinema ritrovato resembles what Hélène Cixous calls an “exploded” reading, with splitters and fragments building up the experience of a festival, a history, and a cinema.

The cinema revealed in Bologna may well be one of many, but its fruits are more alluring than most and whet the appetite with a delicious twist. If a screening such as the 1917 Pathé Frères’ treasure box Les danses enfantines can serve as a foundation of a festival visit, there is much to be discovered lying in wait in the intertwined shadows of arcades. The study of the movement of young ballerinas thus easily metamorphoses into a glimpse of a mysterious forest glade inhabited by nimble, fawnlike dancers with inimitable expressions, secrets, and promises. Chief among them is the promise of motion, made manifest by the rise and fall of feet cushioned upon grass, divulging the magic of dancing bodies with a touch of the camera shutter responsible for the wondrous slow motion of the dancers. Mechanical marvels commingle with revelations of (almost) unknown realities, as the program section of hundred-year-old films featured every year eloquently goes to show. Étienne-Jules Marey’s Place de la Concorde, a 88mm wide and 19m long filmstrip also breathes mystery when projected as it was never intended to be. These early sprouts of an art, their intentions partly uncertain, partly ignored and reassembled for the present, meet and traverse the humanity of Frank Borzage’s Until They Get Me (1917), Tay Garnett’s hyperbolized Destination Unknown (1933) and Tamizo Ishida’s lacework masterpiece Hana Chirinu (1938).

Then there is Arne Sucksdorff’s My Home is Copacabana (1965), riveting in its image-capturing skillfulness, whose spirit exactly matches its sapling protagonists. Somewhere between the sea and the sky, real-life yet fictional favela orphans Lici, Jorginho, Paulinho and Rico reimagine themselves based on the stories they have experienced and related to the director. Their feverish, incredibly fragile existence is led on the Atlantic shore of the beach in Copacabana and the ramshackle shelter they built for themselves on top of Morro da Babilônia. Both of these are at all times open to invasion, unwelcome intervention and the heedlessness of others. The children may and do try to defend them, but failure is pre-inscribed in their actions. My Home is Copacabana portrays the lack of home by gently, but unsparingly sculpting the spaces of its non-existence. But the issue of homelessness does not bring on an edifying, moralizing or pitying perspective; the film remains as clear and respectful as can be towards the children’s struggle to survive. A wild, dancing kite criss-crossing the skies during the opening credits personifies the quicksilver nature of a ruthlessly shaky life as well as the succulence of short-lived delights characteristic for and belonging to a child. When the children get chased away from their hill shack by bandits, they take to sleeping in fishermen’s boats on the beach. Dream meets devastation in the contours that envelop their lithe forms. The framing is flawless. One evening, a ritual is performed for Yemanja, the goddess of the sea, and a fire started on the beach outshines the darkness. A dance carries sand, sea, and laughter back into the skies.

Dance works towards resistance and the construction of two more universes: that of Med Hondo’s West Indies (1979), presented as a part of the Film Foundation’s World Cinema Project and Jean Rouch’s La Goumbé des jeunes noceurs (1964-65), well-concealed in the depths of the Documents and Documentaries section. The most elementally precious element of Hondo’s work (alongside his incomparable introduction) is the opening shot of the lurid setting of his story of relentless migrations between Africa, Europe and the Caribbean, a story of colonization and repression, on a giant slave ship located inside an industrial warehouse. This in itself is a dance; one of choice and skill, of camerawork chosen as the means of storytelling embarked on a ship just as so many of its participants had been throughout history.

Another migration, that of the inhabitants of French Upper Volta to the city of Abidjan in the Côte d’Ivoire, acts as a starting point for Rouch’s incredible engulfment in an association of migrants shaped around the goumbé, a traditional dance they rely on in the desire to maintain a community and ensure mutual solidarity and assistance in a foreign land. While the secretary-general reads out the statute and the names and occupations of the chief members of the association, each is presented in a series of perfectly rounded portraits, miniatures of every worker at their workplace and their home. The film flows and feels like a simple, devotedly woven cloth – it wraps itself around its participants purposefully, letting them breathe as freely as they wish. If humanity could take on the unostentatious garb of these images, of their fabric and tone, the promises of movement made a hundred years ago could come to life with true vigour. Hence, Rouch shows the goumbé in motion, in splendour, as a halo of brightness on fire. And if the dance of cinema is going to catch fire again, it better develop the radiant rupture of triumphant life and spread its wings in the night. Nobody will strike at a firefly in the darkness.

Valerie Dirk

sara

Zeitreisen auf der Piazza Maggiore: Obwohl ich bereits das dritte Jahr zum Cinema Ritrovato fahre, habe ich heuer zum ersten Mal die Kinomagie der Piazza Maggiore für mich entdeckt, auf der ich das Kino, noch intensiver als sonst, als Zeit- und Raummaschine erfahren habe.

Mit A Propos de Nice von Jean Vigo (nach Place de la Concorde von Etienne-Jules Marey) im Vogelflug über das Nizza von 1930 und mitten hinein in die Stadt während des Karnevals. L’Atalante  fährt auf Hochzeitsreise durch nordfranzösische Kanäle und sucht das Bild der Geliebten (Dita Parlo !) im Wasser. Während Johnny Guitar von Nicolas Ray mit der großartigen Joan Crawford (die Farbe ihrer Hemden, ihre Haltung) und ihrer Gegenspielerin Mercedes McCambridge, spaziere ich von der ersten in die letzte Reihe. Kino kann man (zumindest kurzzeitig) auch im Gehen genießen. Monterey Pop von D. A. Pennebaker entführt die ZuschauerInnen in das Kalifornien von 1968, also in eine Zeit, in der die Geschichte der Popmusik und des direct cinema geschrieben wird. Sweet nostalgia schwemmt über die Piazza, denn das ist die Musik, mit der ich und viele andere aufwuchsen (die Schallplatten des Vaters). Totale Bewunderung für die Performances von Otis Redding, The Who, Janis Joplin und Grace Slick von Jefferson Airplane. Jimmy Hendrix enttäuscht dagegen, er ist zu vollgedröhnt. Die missbrauchte Gitarre hat gut daran getan, nicht flammend zu lodern. The Patsy von King Vidor erwärmt durch die wunderbare Komik der Marion Davies und dem live Jazz-Orchester. Es ist meine letzte Reise auf der Piazza.

Med Hondo: Der afrikanische Regisseur ist meine persönliche Neuentdeckung. Ab Afrique sur Seine und Soleil Ô hänge ich am Köder. Verhandlungen afrikanischer Identität in Frankreich, dabei ohne schwarz-weiß-Malerei, mit Humor und zugleich tiefster Depression. Realistisches schwarz-weiß, sehr direkt, Straßenszenen und ein bißchen früher Fassbinder. Ich glaube zu wissen, was ich bei den anderen beiden Filmen zu erwarten habe. Und werde getäuscht: West Indies, ein knallbuntes Musical im Bauch eines Schiffs, rhythmische Choreografien, Zeitsprünge vom 16. Jahrhundert in die Jetzt-Zeit (1979), Migration und Sklaverei werden auf spannende Weise zusammen gedacht. Sarraounia wiederum ganz anders. Ein Kriegsfilm über den Widerstand einer nigerianischen Stammesführerin, die gegen die Eroberungszüge der Franzosen und die Intrigen der afrikanisch-muslimischen Stammesführer Stand hält. Cinemascope, Farbe, Musik, Wüste. Ein Epos. Med Hondo ist auch zu Gast. Oft den Tränen nah, so determiniert in seinem Glauben an eine Gemeinschaft, an die Anderen, an das Kollektiv, an den Sozialismus/ Kommunismus und so ablehnend gegenüber einem Kino des l’art pour l’art.

En plus: Helmut Käutners Ludwig II und die Sprache O. W. Fischers. Douglas Sirk und das humanistisch-sakrale Melodrama (The Magnificent Obsession). Die Schönheit, Tragik und Aufrichtigkeit Rock Hudsons. Caffè, Apperitivo und holpriges Italienisch. Frühmorgens Universal Filme mit „bad-sad-gal“ Mary Nolan: Outside The Law und Young Desire. Letzterer rührt zu Tränen, so hoch schwebt sie empor, so schnell fällt sie.

Sebastian Bobik

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Da dies mein allererstes mal beim Il Cinema Ritrovato war, muss ich natürlich als erstes Highlight das Festival an sich hervorheben. Ein schöner Ort, gutes Wetter, ein tolles Programm… Ich kann eigentlich nur gut von diesem Festival sprechen. Natürlich sind die Konditionen in manchen Kinos etwas kompliziert (wenn die Klimaanlage mal ausfällt kann der Kinobesuch schon recht hart werden) und die Sprachbarriere ist noch ein Problem, an deren Lösung gearbeitet werden muss, doch das alles wird locker wieder wett gemacht durch die wunderbare Atmosphäre vor Ort.

Bevor ich nun meine Filmhighlights aufliste sollte ich noch kurz ein bisschen Platz für den Festivaltrailer finden. Der hat dieses Jahr besonders begeistert und man kann nur hoffen, dass sich das Festival entschließt ihn im Internet zu veröffentlichen.

Nun zu meinen persönlichen Höhepunkten, die ich hier in der Chronologie auflisten werde, in denen ich die Filme gesehen habe:
Gleich am Abend meiner Ankunft begab ich mich noch zum Piazza Maggiore um Jean Vigos wunderbaren Film L’Atalante zu sehen. Ist Michel Simon hier sogar besser, als in Boudu sauvé des eaux von Jean Renoir? Doch nicht nur Michel Simon ist wunderbar bei Vigo: der ganze Film ist voller traumhafter Momente. Sei es die berühmte Sequenz unter Wasser, oder die erste Kamerafahrt über das Schiff (ein Moment der mir Gänsehaut bescherte). Dennoch war L’Atalante nicht mein größtes Highlight an dem Abend. Davor wurde nämlich A Propos De Nice, der ebenfalls von Vigo ist, vorgeführt. Ich war ohne jegliche Information über diesen Film hingegangen und was mich überwältigte war eine Freiheit, die man nicht mehr oft in Filmen sieht. Besonders beeindruckt hatte mich eine simple Bewegung: Ein Gebäude neigt sich um 90 Grad. Es ist eine Bewegung, die man sonst nur in verspielten Amateuraufnahmen sieht, die auf Camcordern gedreht wurden. Eine Bewegung, die einem in einer Filmschule sofort ausgeredet wird, und eine Verspieltheit ausdrückt, die man oft vermisst. Was darauf folgte, war ein mit herrlichen Aufnahmen gespicktes Portrait von Nizza. Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich einen Fluss von Bildern: Eine Frau auf einem Sessel, verschiedene Outfits an ihr werden überblendet bis sie plötzlich nackt ist, eine bizarre Parade und die schwingenden Beine von Frauen, die in Zeitlupe tanzen. Gleich am folgenden Abend sah ich ebenfalls auf dem Piazza Maggiore Johnny Guitar von Nicholas Ray. Auf einer riesigen Leinwand mich unglaublichen Farben und großem Publikum war der Film einfach ein wunderbares Erlebnis.

Am Tag darauf entdeckte ich Hana Chirinu von Tamizo Ishida. Dessen Entdeckung ist für mich wohl der absolute Höhepunkt meiner Zeit in Bologna. Tage später sah ich den ebenso wunderbaren Mukashi No Uta ebenfalls von Ishida. Beide Filme wurden in schlechten Kopien gezeigt. Das Bild war zum Teil unerkennbar dunkel. Trotzdem konnte dies den Filmen kein bisschen schaden. Ishida ist ein Regisseur, der zumindest in diesen beiden Filmen mit wunderbaren Einsichten, Szenen, Figuren und Beziehungen dieser überrascht, und jemand, der hoffentlich bald auch jenseits von Bologna wiederentdeckt wird. Die Welt verdient es, diese wunderschönen Filme sehen zu können.

Ein weiteres Highlight, das auf der Piazza Maggiore extrem an Erfahrungswerten gewann, war Monterey Pop von D.A. Pennebaker. Dieser war selber anwesend um seinen Film einzuführen und sichtlich gerührt, ihn vor so großem Publikum zeigen zu dürfen. Im Film gibt es großartige Auftritte (vor allem Janis Joplin, Otis Redding & Jimi Hendrix). Es herrschte eine mitreißende  Stimmung auf der Piazza und Applaus, bei dem man nicht wusste, ob er eigentlich im Film, oder auf der Piazza stattfand.

Der letzte Film auf dem Festival, den ich gesehen habe war Decasia von Bill Morrison. Es war schon am späteren Abend und ich war ziemlich müde. Als diese Bilderflut begann auf mich herabzuregnen, wurde ich sehr schnell wieder wach. Es ist schwer die Erfahrung des Filmes in Worte zu fassen, er ist einfach ein Erlebnis. Ein Film, den man über sich kommen lassen muss, wie eine Welle. Er kann einem das Gleichgewicht nehmen, doch wenn man sich mit ihm gehen lässt ist es eine unvergessliche Erfahrung. Für mich war es der einzige Horrorfilm, den ich auf dem Festival sah.

Andrey Arnold

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Mädchen in Uniform: Die sensible Manuela wurde vom preußischen Mädchenstift kaputtdiszipliniert. Jetzt schleppt sie sich langsam das Stiegenhaus hinauf, will sich von oben in die Tiefe stürzen. Doch als sie kurz davor ist, schleudern ihr ihre Mitschülerinnen, die sich ein paar Stockwerke tiefer scharen, ihre geballte Empathie entgegen: In einer koordinierten Bewegung recken sie die Arme in die Luft und rufen „Nein!“ (oder dergleichen). Das Zielobjekt wird von dieser kraftvollen Gemeinschaftsgeste erfasst und zur Besinnung gebracht, wie von Zauberhand. Es ist ein starker Moment, eine hochgradig künstliche Pathos-Pfeilspitze, die die Kollektivromantik und den Widerstandsgeist des Films perfekt auf den Punkt bringt – aber auch dessen unheimliche, präfaschistische Vision kathartischer Gruppenekstasen.

Johnny Guitar: Ich habe diesen Über-Film in Bologna zum zweiten Mal gesehen, aber eigentlich zum ersten Mal. Seine unfassbare Kraft ist mir erst hier richtig bewusst geworden. Andere können besser ausdrücken, was es mit ihr auf sich hat. Als Emma gegen Ende von Vienna erschossen wird, wurde in einigen Ecken gejubelt. Ich kenne diese Art von Jubel und will ihn im Kino niemandem vergällen. Dennoch hoffe ich, dass die Jubelnden den Film noch öfter sehen. Und irgendwann nicht mehr jubeln, möglicherweise.

West Indies: Schwarze Komplizen der französischen Kolonialmacht führen weiße Touristen durch die Karibik (ein buchstäbliches Sklavenschiff, weil in diesem Film alles beim Namen genannt wird) und preisen die örtlichen Attraktionen. Stolz verweisen sie auf die willfährige Arbeiterschaft, die emsig mit ihren Macheten hantiert. Ein Schwenk fokussiert ihre Choreografie (weil dieser Film auch ein Musical ist) und verweilt darauf – gerade lange genug, um sich vorzustellen, dass die tanzenden Klingen keine Werkzeuge sind, sondern Waffen.

Bildnis einer Unbekannten: Ein Film voller Freuden (und Ambivalenzen), nicht zuletzt dank des Schauspiels von Ruth Leuwerik und O.W. Fischer. Aber auch ein Film, der sehr stark über Sprache funktioniert und über den Dialog. Und bei mir (wieder einmal) die Frage aufwarf, inwieweit sich Filme „übersetzen“ lassen – und wie viele Fehlurteile gefällt wurden, weil jemand (ich zum Beispiel) nicht imstande war, die Eigenheiten eines spezifischen Idioms wahrzunehmen. Natürlich muss man nicht Deutsch können, um Käutners Film zu genießen. Und natürlich können einem trotz (oder wegen) sprachlicher Unkenntnis Dinge auffallen, die einem Native Speaker (oder Beinahe-Native-Speaker) verschlossen bleiben. Aber wird man das einzigartige Wechselspiel zwischen Gestik, Mimik, Rhythmus, Duktus, Timbre, Inhalt, Charakter, Wortwahl und Pointiertheit, mit der Fischer an einer Stelle sagt: „Ich bin gar nicht reizend, ich bin reiz-bar“, mit dieser fabulösen Pause zwischen den Silben des letzten Wortes, wirklich zu schätzen wissen? Bei der schönsten Überblendung des Films stellt sich diese Frage jedenfalls nicht: Ein Porträt der „Unbekannten“ verbrennt langsam im Kamin und verschmilzt mit einer Nahaufnahme ihres Gesichts, das eines der tollen Lieder des Films singt: „Ist denn mein Mund ein Vagabund, der ewig wandern muss, von Kuss zu Kuss…“

Arkasha zhenitsya: Die lustigste russische Stummfilmkomödie, die ich je gesehen habe (ich habe noch nicht viele russische Stummfilmkomödien gesehen). Ein Mann betrinkt sich am Vorabend seiner Hochzeit. Am nächsten Tag die Ausnüchterungskur. Er dreht den Wasserhahn auf, um sich frischzumachen – und schläft promt unter dem Becken ein. Das Wasser läuft über. Er glaubt, es regnet, schlägt den Kragen hoch. Später: Ein Spaziergang im Park – mit Frack, Zylinder und Gehstock (die Bourgeoise war schon vor der Oktoberrevolution Zielscheibe des Spotts). Schläft im Stehen ein, der Stock ist notdürftige Stütze. Lausebengel stoßen sie weg. Pardauz! Wer jemals einen über den Durst trank und am nächsten Tag zeitig aufstehen musste, weiß: It’s funny cause it’s true.

Die kleine Veronika: Ich habe mir die Projektion des Films auf der Piazetta Pasolini leider nicht angesehen. Aber ich habe die betörende Musikbegleitung von Florian Kmet gehört, während ich abends im Hof der Cineteca saß, umgeben von neuen und alten Bekannten, einen schönen Festivaltag im Herzen. Und das reicht.

 

Il Cinema Ritrovato 2017: La nuit américaine von François Truffaut

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Lass uns gleich ins kalte Wasser springen. Es gibt in La nuit américaine mehrere Szenen, in denen sich Cast und Crew in einen freien Nachmittag oder Abend verabschieden. Der Schauspieler Alphonse, der im Film von Jean-Pierre Léaud gespielt wird, sagt seinen Kollegen dabei jedes Mal ab und geht lieber allein ins Kino. Eigentlich ein running gag, aber als Kinobegeisterter findet man sich denke ich automatisch in dieser Figur wieder. Es ist prinzipiell sehr charmant von Truffaut die cinephile Schrulligkeit – hier, aber auch in anderen Szenen – zu würdigen, aber so sehr ich mich mit diesen Figuren und Momenten identifizieren kann, so sehr erschöpft sich diese Geste aber auch, wenn ich länger darüber nachdenke.

Sebastian: Du hast natürlich recht. So charmant dieser Witz ist, es wirkt manchmal fast so, als ob Truffaut versucht seine Cinephilie zu beweisen. Dass gerade Jean-Pierre Léaud, diesen Satz immer wieder sagt, ist auch auffallend. Obwohl Truffaut selbst in diesem Film spielt, erscheint Léaud immer noch wie eine Art Alter Ego. Aber irgendwie ist das Ganze sehr passend für den Film. Allgemein entwirft er ein Bild, das vor allem behauptet, dass alle Filmschaffenden absolut verrückt nach Kino sind. Es gibt ja auch die Szene, in der Truffaut selbst verschiedenste Bücher über große Filmemacher (Bunuel, Godard, Dreyer…) zeigt. In einer Szene in der nicht gedreht werden kann, und deshalb Hintergrundgeräusche für den Film gemacht werden, muss der Tonassistent darauf hinweisen, dass sich bitte niemand über Filme unterhalten soll. Ob das Bild realistisch ist, darüber kann man wohl streiten. Es scheint natürlich sehr utopisch, andererseits habe ich vor kurzem ein Interview von Kogonada gehört, in dem er erzählt, wie überrascht er war, dass Johnnie Cho ein riesiger Truffaut-Fan ist (wie passend), und das einer seiner Produzenten, der bei Twilight mitgewirkt hat, ein riesiger Ozu-Fan ist. Vielleicht ist die Darstellung der Filmlandschaft in La nuit américaine gar nicht so realitätsfern, wie man zuerst denken mag.

Außerdem passt das Ganze (auch wenn es schon sehr dick aufgetragen ist) ganz gut zu einem der Themen des Filmes. Truffaut scheint zu behaupten: Film ist gegenüber dem wahren Leben zu bevorzugen.

Rainer: Es geht mir da gar nicht um Realitätsnähe oder -ferne, und auch nicht darum, ob ein Filmemacher seine Vorbilder so offensiv nach außen tragen sollte, sondern darum, was er daraus macht. Er macht das ja zunächst sehr raffiniert: ein Film über das Filmemachen, der aber nicht den Anspruch erhebt, einen authentischen Blick hinter die Kulissen eines Filmdrehs zu werfen, sondern eine Art Parallelwelt konstruiert. Diese Welt setzt sich aus diversen anekdotenhaften Episoden zusammen, bei denen auch ohne viel Fantasie vorstellbar ist, dass sie sich tatsächlich hätten zutragen können. Die Frage, die ich mir stelle, ist nur, wo darin die Liebeserklärung an das Kino aufhört und wo eine narzisstische Liebeserklärung an sich selbst beginnt. Das ist jetzt gar nicht als rhetorische oder Suggestivfrage gemeint, sondern ich stelle sie mir tatsächlich. Ich mochte den Film auch, aber irgendetwas daran, lässt mich doch sauer aufstoßen.

Sebastian: Wenn man dem Film eines vorwerfen kann, dann wahrscheinlich das. Truffaut spielt selber den Filmregisseur und lässt seine Figur keine böse Tat vollbringen. Er ist oft gestresst, vielleicht sogar etwas überfordert (sein Kontakt mit den Schauspielern ist immer unbeholfen), dennoch immer gutmütig. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, dann nur, dass er einen schlechten Film macht. Auch die Tatsache, dass er die Figur zumindest scheinbar biographisch anlegt (die Episode mit dem Stehlen von Filmbildern in seiner Kindheit) lässt das ganze als verherrlichendes Selbstbild wirken.

Die Liebeserklärung an das Kino ist eine Liebeserklärung an den Filmschaffenden. Dieser wird von Truffaut gespielt. Ob der Film weniger selbstverherrlichend wirken würde, wenn Truffaut nicht die Rolle des Regisseurs selbst übernommen hätte?

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Vielleicht hilft es, sich genauer anzusehen, welcher Film da eigentlich gedreht wird. Ein junges Ehepaar reist zur Familie des Mannes, um die Schwiegertochter vorzustellen. Die brennt aber schließlich mit dem Vater durch. Der Cast ist international, die Finanzierung ebenfalls und allgemein scheint der Film eher ein mittelgroßes Allerweltsprojekt eines Studios zu sein, als ein Autorenfilm. Truffaut dreht hier einen Film im Film, den er auf diese Weise so wohl nie gedreht hätte, aber in einem System und in einer Größenordnung, die den Hollywood-Produktionen nahekommt, die seine cinephile Generation in Frankreich sehr stark geprägt hat. Umso mehr ich darüber nachdenke, umso weniger sehe ich den Film vor lauter Verbeugungen.

Die Vermischungen zwischen tatsächlicher, imaginierter und vergangener Produktionsrealität, zwischen Parodie und Loblied, zwischen Verherrlichung des Autorengenies und seiner Dekonstruktion sehe ich dann doch etwas problematisch, denn sie verleihen dem Film keine Brüchigkeit, sondern nehmen ihm ganz einfach seine Transparenz, seine Ehrlichkeit. Mit Ehrlichkeit meine ich, wie gesagt, nicht eine vermeintliche Realitätsnähe, sondern die Frage, ob sich der Film seinem Publikum auf Augenhöhe annähert.

Sebastian: Ich verstehe schon, welche fehlende Ehrlichkeit du da ausmachst. Der Film scheint sich jeglicher Haltung zu entziehen. Als Godard Truffaut für diesen Film kritisierte, nannte er ihn einen Lügner. Vielleicht ist Truffaut gar nicht so sehr ein Lügner. Die Frage ist, ob der Film nur ein naives Loblied aufs Kino ist, oder ob mehr dahinter steckt. Allerdings ist das unmöglich auszumachen. Der Film hat im Endeffekt keine Haltung.

Das Einzige, was ich ausmachen kann, scheint die Behauptung zu sein, dass Filmemachen eine Tugend ist. Dabei ist egal, ob der Film gut, oder schlecht ist. Hauptsache man macht Filme. Gesund erscheint mir die Haltung nicht. Dennoch ist sie die einzige, die ich stützen kann. Truffaut selbst sagt im Film „Cinema is King“, alles andere ist irrelevant. Wenn Filme wirklich „wie Züge in der Nacht“ sind… Wohin fährt dieser Zug?

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Ich würde glaub ich nicht ganz so weit gehen, wie Godard, aber gerade wenn man sich ansieht, wie konsequent Godard in seinen Filmen eine Haltung zur Welt artikuliert, dann lässt La nuit américaine so eine Haltung schon vermissen. Denn, wie du sagst, interessiert sich der Film weniger für die Welt, als für eine filmische Sphäre, die nach ihren eigenen Regeln abläuft und ganz gut ohne die Welt zurechtkommt. Diese Fantasie ist natürlich sehr schön und verführend – gerade für jemanden, der das Kino liebt –, aber sie ist auch gefährlich.

Es tut mir fast etwas leid, dass ich so hart mit dem Film ins Gericht gehe, weil es gibt ohne Zweifel viele, viele Filme, die in vielerlei Hinsicht problematischer sind. Der Film hat auch mich bis zu einem gewissen Grad verführt, aber in Retrospektive fällt es mir ein wenig schwer zu akzeptieren, dass diese Verführung kaum einer Reflektion standhält.

Sebastian: Man kann dem Film vielleicht zugutehalten, dass er selber Bescheid weiß. Darüber, wie sehr er sich der Welt verschließt. Er ist wie eine Einladung diese falsche Welt zu akzeptieren. Alles weist auf diese Falschheit hin. Der Titel „Die amerikanische Nacht“ weißt auf ein filmisches Verfahren hin, bei dem Nachtszenen untertags gedreht werden mit einem besonderen Filter. Es könnte also eine Einladung zu einer Abwendung von weltlichen Problemen sein. Genauso wie eine Filmcrew sich ein paar Wochen zusammen zurückzieht, um einen Film zu drehen (mit ihren eigenen Konflikten und Problemen), so ist dieser Film ein Rückzug für zwei Stunden.

Das ist natürlich legitim. Truffaut beschränkt sich in gewisser Weise in diesen zwei Stunden nichts anderes zu tun, als das Kino zu preisen. Es geht um Freude, um Emotionen und für Truffaut um einen Sinn fürs Leben.

Il Cinema Ritrovato 2017: Alexandre Promio in Ägypten

Les Pyramides (Vue Générale) von Alexandre Promio

Die ersten Gehversuche des Kinos würde ich als „acquired taste“ einordnen. Als ich zum ersten Mal Filme der Gebrüder Lumière und ihrer Operateure sah, maß ich ihnen eher historische als künstlerische Bedeutung bei. Die kurzen, ausschnitthaften Ansichten von öffentlichen Plätzen, Gebäuden und Sehenswürdigkeiten erscheinen recht willkürlich, außer dem einen oder anderen Blick eines Passanten in die Kamera fehlt das Spektakel. Dem Auge fehlt der rote Faden, dem es folgen kann, wie es das gewohnt ist.

Ein „acquired taste“

Kurz: Lange Zeit fand ich es eher mühsam und etwas langweilig mir eine halbe Stunde am Stück diese Filme anzusehen (und ich vermute, es ging nicht nur mir so). Es war hier in Bologna, wo ich in den letzten Jahren eine neue Wertschätzung für die vues Lumière entwickeln konnte. Das hat vielerlei Gründe: Zunächst bekommt man hier eine breite Auswahl an unterschiedlichem Material vorgesetzt, das über die paar dutzend anerkannten, und immer wieder gezeigten Lumière-Klassiker der ersten Stunde (von L’arrivée d’un train über La sortie de l’usine bis zu Repas de bébé), hinausgeht. Zudem sind die Programme exzellent zusammengestellt, ob nach ausführenden Operateuren, geographischen Begebenheiten oder wiederkehrenden Motiven. Und außerdem, und das ist vielleicht der gewichtigste Grund, wird die Präsentation den Filmen gerecht: ein dunkler Kinosaal, eine große Leinwand, Live-Begleitung am Klavier, ein lebendiges Publikum.

Die Seherfahrung in dieser Konstellation ist eine andere, als bei einem pixeligen Youtube-Video zuhause oder in einem zu hellen und technisch schlecht ausgestatteten Hörsaal. Diese Filme können sich am besten entfalten, wenn sie sich entfalten können, wenn das Auge eingeladen wird über die Leinwand zu schweifen, sich in Details zu verlieren, die gemäldeartigen Ansichten zu betrachten wie ein Gemälde – der fehlende rote Faden, die ungewohnte Bildstruktur werden dann zum herausstechenden Merkmal. Ich erkennen meinen Blick wieder, mit dem ich Lumière-Filme sehe, er ist verwandt mit der Art, wie ich Loznitsa sehe, wie ich Akerman sehe, wie ich Tsai Ming-liang sehe, man könnte diese Liste weiter fortsetzen.

Rue Sayeda-Zeinab von Alexandre Promio (Vue N° 374)

Rue Sayeda-Zeinab von Alexandre Promio (Vue N° 374)

Kino des Vermessens

Die vues Lumière laden zum Vermessen des Bildraums ein. Das unterscheidet sie vom Kino des Eintauchens, des Akzentuierens, des Vorbetens. Die Ansichten – und nicht nur jene, die mit der Exotik ferner Plätze kokettieren – faszinieren zunächst als Seh- und dann als Zeitkapseln. Es ist, denke ich, nötig hinzuweisen, dass sich diese Filme nicht in ihrer Funktion als historische Aufzeichnungen erschöpfen. Selbstverständlich hat die Faszination mit den Filmen auch damit zu tun, dass sie einen Blick auf die Vergangenheit freigeben, die Möglichkeit bieten mit den Augen eines Menschen von vor einhundertzwanzig Jahren zu sehen, den Vergleich zwischen Damals und Heute nahelegen. Zu gleichen Teilen sind sie aber Beispiele für eine filmgeschichtlich vernachlässigte Form des Sehens, und für das Öffnen des Bilds für den Zufall, wenn Passanten die Kamera blockieren oder wenn Pferde scheuen (ich habe bereits letztes Jahr kurz darüber geschrieben, wie die Unreinheiten diese Filme bereichern).

Stummfilme sind selbst in den meisten Programmkinos und Cinematheken nur selten zu sehen, auch ihre Restaurierung hat keinen hohen Stellenwert. Was historischen Wert hat wird gerne (wie auch Wochenschauen) als Materialsammlung veröffentlicht, auf DVD oder gar in einer Online-Mediathek. Die Vermittlung dieser Filme wird aus dem Kinosaal ausgelagert auf die eigenen vier Wände des Publikums. Obwohl gerade diese Filme von einer lebendigen Auseinandersetzung profitieren. Hier in Bologna sprach Aboubakar Sanogo über die Ägypten-Filme des produktivsten Lumière-Operateurs Alexandre Promio.

Für mehr Lumière in den Kinos!

Sanogos Kommentare waren augenöffnend. Da ging es weniger um die Entstehungsgeschichte der Filme oder um ihre genaue Verortung und Verzeitlichung, sondern um allgemeine Fragen des Filmischen. Er problematisierte die Besonderheit der Seherfahrung, den dokumentarischen Gehalt dieser Bilder und wie sie sich von anderen unterscheiden – von anderen Bildern aus der gleichen Zeit, die an anderen Orten aufgenommen wurden, und von nachfolgenden Bildern, die andere Politisierungen der Orte und Menschen zum Ziel haben (die Filme der Lumières waren Produkte des Kolonialismus).

Es scheint, kaum eine Filminstitution fühlt sich heute mehr verpflichtet diese Filme zu zeigen, die wunderbar katalogisiert, in passablem Zustand und recht gut verfügbar sind. Das ist ein Versäumnis, denn nicht nur wer nach Bologna reist, sollte Gelegenheit dazu bekommen sich diesen „acquired taste“ anzueignen.

Il Cinema Ritrovato 2017: Niedzielne igraszki von Robert Gliński

Niedzielne igraszki von Robert Gliński

Niedzielne igraszki von Robert Gliński endet mit einem Freeze Frame. Die Kamera filmt aus dem Innenhof eines städtischen Wohnhauses hinaus auf die Straße, wo ein großes Plakat von Josef Stalin angebracht ist. Wir schreiben das Jahr 1953, Stalin ist soeben gestorben, das Wohnhaus steht in Warschau und ist noch immer vom Krieg gezeichnet. Der Film verlässt den Hinterhof nie, nur einzelne Personen, die nach draußen gehen oder von außen kommen, zeugen von der Existenz einer Welt außerhalb.

Am Anfang des Films herrscht Hektik. Die Familien machen sich bereit an diesem Sonntag auszugehen. Die einen gehen in die Kirche, die anderen zum Trauerzug für den sowjetischen Obergenossen. Nur wenige bleiben zurück: einige Kinder, die sich vor den sonntäglichen Verpflichtungen gedrückt haben oder von ihren Eltern nicht mitgenommen wurden, eine verrückte Frau, ein Babykätzchen. Draußen geben sich die Repräsentanten des sozialistischen Polens staatstragend, ein erheblicher Teil ihrer Mitbürger sucht in den verpönten Kirchen, drinnen bilden die Kinder einen eigenen gesellschaftlichen Mikrokosmos. Dieser ist mindestens ebenso von Intrigen, Misstrauen und Verleumdung durchsetzt, wie die Außenwelt – statt eines neuen besseren Menschen, züchtet das pervertierte Terrorsystem kleine Spitzel, Mitläufer und Monster heran.

Brüchiger Sozialrealismus

Ästhetisch bleibt der Film zunächst den sozialrealistischen Parteivorgaben treu: Im Hinterhof lebt die Arbeiterklasse, die nüchterne Schwarzweißfotografie fängt ihren Alltag ein. Der Alltag, das sind an diesem Sonntagvormittag die Spiele der Kinder. Was sind das für Spiele? Man spielt „Statue“, die Kinder nehmen heroische Posen ein und wer sich als Erster bewegt verliert, man tollt im abgesperrten, bombengeschädigten Nebenhof umher, kümmert sich um eine verwaiste Babykatze, man übt sich im Exerzieren. Es herrscht militärischer Befehlston, wie ihn die Kinder aus Jugendorganisationen, Kino und Elternhaus kennen und eine klare Hierarchie. Ganz oben in der pseudo-militärischen Hackordnung steht Józek, ein dicklicher Junge und glühender Sozialist, weit darunter Rychu, Sohn des Hausbesorgers, ganz unten ein namenloses Mädchen, das gar nicht erst an den Spielen teilnehmen darf.

Viel von der Dynamik des Films hängt an diesen drei Figuren. In ihrer kindlichen Parallelwelt ist ihnen ein fester Platz zugewiesen, der zunächst scheinbar mit ihren Familienverhältnissen korrespondiert. Józeks Vater ein Militär, Rychus Vater ein in Ungnade gefallener Widerstandskämpfer, das Mädchen ein nicht zuordenbares Störelement. Nach sozialrealistischem Schema F würde man nun jeder dieser Figuren ein bestimmtes Verhalten zuordnen: gesellschaftliche Position, so sahen das die sozialistischen Granden gerne, hat mit Tugend und Moral zu tun.

Niedzielne igraszki von Robert Gliński

Verkehrte Welt

An dieser Stelle widersetzt sich Niedzielne igraszki dem parteiideologischen Konsens. Rychu erfüllt noch am ehesten seine Rollenvorgaben. Er hat ein gutes Herz, wehrt sich gegen Józeks Alleinherrschaft, aber wenn es hart auf hart kommt, ist er Opportunist genug, um seinen Widerstand aufzugeben und sich unterzuordnen, um nicht gesellschaftlich geächtet zu werden. In letzter Konsequenz fügt er sich dem Gruppendruck und nicht einer höheren Moral, denn der Gruppendruck, und das ist eine weitere Bruchstelle des Films, ist nie ein positiver. Er zeugt nicht von der moralischen Überlegenheit der Gemeinschaft über den Einzelnen, sondern bringt, im Gegenteil, das Schlechte in ihnen zum Vorschein.

Das liegt vor allem am Wortführer dieser Gemeinschaft. Józek zeichnet sich nicht nur durch sozialistischen Eifer aus, sondern vor allem durch autoritären Führungsstil und einen Hang zu martialischer Grausamkeit. Er vereint ein großes Mundwerk, Selbstgefälligkeit und fehlendes Rückgrat – der Film zeichnet ihn als idealtypischen Funktionär. Józek ist es schließlich auch, der Rychu, dem Verlierer des Statuenspiels, befiehlt das Katzenbaby zu erwürgen, um Teil der Spielgemeinschaft zu bleiben. Alle Kinder unterstützen ihn bei dieser Forderung. Rychu weigert sich zunächst, ist aber im Begriff sich der Masse zu beugen, als das namenlose Mädchen die Katze rettet. Eine Hetzjagd beginnt. Nicht die erste im Film, denn schon zuvor hat das Mädchen einige Male korrigierend eingegriffen, als sich der Sadismus der Gruppe entladen hat.

Die Intervention kostet sie schließlich das Leben. Sie wird von den anderen Kindern lebendig begraben. Die Einzige im Gemeinschaftsverbund, die sich nicht der irren Gewaltherrschaft unterordnet wird von den Anderen zum Schweigen gebracht. Ein bitterer Schlusspunkt und eine noch bittere Lektion. Die Allegorie hat ihr Ende gefunden. Eine einstündige Miniatur des sozialistischen Polens und doch schlagfertig genug, um verboten zu werden: Niedzielne igraszki durfte erst 1988, vier Jahre nach seiner Fertigstellung, erstmals gezeigt werden.

Dossier Beckermann: Aufgeschrieben (Unzugehörig, Die Mazzesinsel)

Ein flüchtiger Zug nach dem Orient von Ruth Beckermann

Zum Filmemachen kam Ruth Beckermann erst relativ spät. Sie studierte zunächst Publizistik, Kunstgeschichte und Fotografie. Während ihrer Studienzeit an der School of Visual Arts in New York entstanden erste 8mm-Filme, im Zuge der Arena-Besetzung 1977 dann mit Arena besetzt! eine im Kollektiv entstandene Video-Dokumentation der Ereignisse. Nach einigen Reportagen über Arbeiterstreiks Ende der 70er, Anfang der 80er folgte 1983 mit Wien retour Beckermanns erster Langfilm. Wien retour stellt in mehrerlei Hinsicht ein Schlüsselwerk in Beckermanns Entwicklung dar: einerseits findet sie darin die Ansätze einer Poetik von Bild und Ton, die nicht mehr notwendig verknüpft sind, andererseits stellt der Film den Beginn der Hinwendung zum jüdischen Leben und der jüdischen Kultur in Österreich dar.

In den 80er Jahren erschien mit Die papierene Brücke nur noch ein weiterer Film von Beckermann. Dafür war sie zu dieser Zeit publizistisch sehr umtriebig. Aus der Beschäftigung mit der Zwischenkriegszeit und der jüdischen Gemeinde Wiens für Wien retour entstand ein Sammelband aus historischen Fotografien und Texten zur Wiener Leopoldstadt (Die Mazzesinsel, 1984) und als Abrechnung zur Waldheim-Affäre Beckermanns große Bestandsaufnahme des jüdischen Nachkriegswiens und der Generation der Nachgeborenen (Unzugehörig, 1989).

Wien retour von Ruth Beckermann

Wien retour von Ruth Beckermann

Es war einmal

Die Mazzesinsel lässt sich recht nahtlos in Beckermanns Œuvre einfügen, nicht nur, weil das Buch mit seinem Schwerpunkt auf die jüdische Vergangenheit Wiens Filmen wie Wien retour, Die papierene Brücke oder Homemad(e) thematisch nahesteht, sondern aufgrund seines formalen Zugangs. Der Band versammelt eine Reihe von Texten jüdischer Autoren mit Wienbezug, darunter autobiographische Erfahrungsberichte, journalistische Reportagen und Liedtexte, sowie historische Fotografien, die das Alltagsleben und wichtige kulturelle Zentren in der Leopoldstadt zeigen. Die Leopoldstadt, der zweite Wiener Gemeindebezirk, war von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1938 das Zentrum jüdischen Lebens in Wien. Dort lebten 60.000 der rund 180.000 Juden Wiens – das war rund die Hälfte der Bevölkerung des Bezirks. Der umgangssprachliche Name für den Stadtteil, „Mazzesinsel“, gibt dem Buch seinen Titel.

Die Fotografien und literarischen Beschreibungen zeugen von einer besonderen Welt, die „anders gewesen sein [muss] als das übrige Wien und doch so sehr ein Teil dieser Stadt, dass sie schon nichts Exotisches mehr war.“ Nicht ohne Nostalgie schreibt Beckermann in ihrem einführenden Essay über diese Zeit und die besondere kulturelle und gesellschaftliche Sphäre in diesem Bezirk. Es ist aber keine Nostalgie für ein unwiederbringliches Gestern, sondern für eine potenzielle Gegenwart, die es nie geben wird, weil sie durch die Vernichtungspolitik der Nazis geraubt wurde. Ein Stadtteil, eine Kultur, ein Volk und sogar die Erinnerung wurden zerstört.

In diesem Licht betrachtet, stellt Die Mazzesinsel den Versuch dar, die spärlichen Erinnerungen zu sammeln und zu bündeln, aus Fotografien, Liedern, Kindheitserinnerungen, Alltagsbeschreibungen das Stimmungsbild eines Vorher zu zeichnen; eine Rückführung der gestohlenen Erinnerungen.

Es ist immer noch

Unzugehörig ist ein unvergleichlich wütenderes Buch. Eine Abrechnung mit der Verlogenheit der österreichischen Innen- und Außendarstellung in der Zeit nach 1945. Beckermann verfasste das Buch 1988, zu einer Zeit als die politische Stimmung in Österreich aufgrund der Affäre um die NS-Vergangenheit des Bundespräsidenten und früheren UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim aufgeladen war. Das politische Brodeln im Land spürt man beim Lesen des Buchs sehr deutlich. Ende der 80er Jahre war die Aufarbeitung der Nazizeit in Österreich, anders als in Deutschland, noch kaum vorangeschritten. Man beschränkte sich auf die offizielle Darstellung Österreichs als erstes Opfer Nazideutschlands und trotz der höchsten Dichte an NSDAP-Mitgliedern im gesamten Gebiet des Deutschen Reichs, blieb ein gesellschaftlicher Umbruch aus.

Beckermann erzählt aus der Perspektive eines Mitglieds des stark geschrumpften jüdischen Bevölkerungsteils und als Vertreter der zweiten Generation, als Nachgeborene, die die Entscheidung ihrer Eltern sich in Wien niederzulassen hinterfragt. „Jüdische Kinder im Wien der fünfziger Jahre. Jedes Kind ein Wunder“, schreibt sie über ein Foto, das bei der Feier zu ihrem dritten Geburtstag aufgenommen wurde. „Wunderlicherweise“, schreibt sie später, sei sie hier geboren und aufgewachsen, ständig antisemitischen Schikanen ausgesetzt, während sich das offizielle Österreich so sehr in der Opferrolle gefiel, dass Aufarbeitung nicht als notwendig angesehen wurde.

Unzugehörig ist eine Anklage an einen Staat, der seine historische Verantwortung nie wahrhaben wollte, an eine Gesellschaft, die sich nie entnazifiziert hat, an die jüdische Gemeinde, die immer stumm und staatstreu geblieben ist, um ja nicht unangenehm aufzufallen. Das Buch ist der Versuch eines Ausbruchs aus dem Schattendasein, ein Kampf um Sichtbarkeit, um eine Gegenöffentlichkeit – und damit gar nicht einmal so weit entfernt von den politisch motivierten Bestrebungen der Filmreportagen und des Filmladen-Verleihs, an denen Beckermann noch wenige Jahre zuvor beteiligt war, damals noch aus dem Geist des politischen Aktivismus

Homemad(e) von Ruth Beckermann

Homemad(e) von Ruth Beckermann

Immerhin, durch die Waldheim-Affäre und das Interesse der zweiten Generation am Trauma ihrer Eltern hat auch in Österreich die historische Aufarbeitung der NS-Zeit Fahrt aufgenommen. Es gibt auch von offizieller Seite ein klareres Bekenntnis zur Entschädigung von Opfern und zur Restitution von Raubgütern, die Opferrolle ist nicht mehr Staatsdoktrin. Auf der anderen Seite hat der Aufstieg der FPÖ den offenen Antisemitismus und Rassismus salonfähiger gemacht als je zuvor in der Zweiten Republik. Unzugehörig mag eine historische Zeitkapsel sein, aber die Erfahrung, die Stimmung und die Gefahren, die Beckermann darin beschreibt, haben nichts an Aktualität verloren.

Dossier Beckermann: Heimatsuche (Die papierene Brücke)

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

In manchen Fällen kann es aufschlussreich sein, Filme einem Umfeld auszusetzen, das ihnen nicht gerecht wird. Schlechte Sichtungsbedingungen können die Wahrnehmung derart beeinträchtigen, dass sich daraus neue Perspektiven auf einen Film ergeben. Das kann sehr produktiv sein. Ein Beispiel für so eine durch äußere Einflüsse verschobene Perspektive war ein rezentes Screening von Ruth Beckermanns Die papierene Brücke im Raum mit der vielleicht schlechtesten vorstellbaren Akustik. Er befindet sich ironischerweise im filmwissenschaftlichen Institut der FU Berlin, wo die Räumlichkeiten doch eigentlich dafür geeignet sein sollten audiovisuelles Material zu präsentieren. (Freilich ist das kein exklusives Problem dieses Instituts, denn die Seminarräume des TFM-Instituts in der Wiener Hofburg sind ähnlich schlecht für Filmvorführungen geeignet.)

Die Kombination aus unterirdisch schlechtem Ton-Setup, mittelmäßigen Boxen und mieser Akustik machte es beinahe unmöglich zu verstehen, was die Personen im Film sprachen. Da nur das Voice-Over einigermaßen zu verstehen war, blieb uns (einer Gruppe deutscher Muttersprachler) nichts Anderes übrig, als nach einiger Zeit die englischen Untertitel der DVD zu aktivieren, um den Erzählungen der Protagonisten folgen zu können.

Untertitel können den Klang und die Melodie der menschlichen Stimme jedoch nicht ersetzen. Eine Binsenweisheit, aber gerade im Fall von Die papierene Brücke, konnte man hören (oder eben: nicht hören), was durch die schlechte Tonqualität verloren ging. Dazu später mehr.

Eine Reise in die Erinnerung

Die papierene Brücke markiert einen Bruch im Filmschaffen Beckermanns. Waren ihre ersten Filme noch aus dem Geist der Arena-Bewegung als Form des politischen Aktivismus entstanden, so folgte mit Wien retour ein langsamer Übergang zu einem selbst- und formbewussteren Filmemachen. Nach einigen Jahren verstärkter publizistischer Tätigkeit hat Beckermann in Die papierene Brücke einen Stil entwickelt, den sie auch in ihren folgenden Filmen beibehalten sollte. Die stilistische Entwicklung lässt sich einerseits an einer Abkehr vom Reportagestil der früheren Filme festmachen (wenngleich das bereits zu großen Teilen auf Wien retour zutrifft) und andererseits an einer Wendung hin zum Persönlichen.

Mit Die papierene Brücke rückt die Familiengeschichte und die eigene Biographie ins Zentrum des Beckermann’schen Filmkosmos. Anders als noch in Wien retour, tritt Beckermann kraft ihrer Stimme nun selbst als Erzählerin auf. Zu Beginn des Films erzählt sie von ihrer Großmutter, die den Zweiten Weltkrieg als U-Boot überlebte, indem sie sich stumm stellte und phasenweise obdachlos durch die Straßen streunte. Während Beckermann das erzählt, filmt sie mit ihrer Kamera aus einer Straßenbahn, die am Wiener Ring entlangfährt – der Auftakt für eine filmische Reisebewegung, die sie auf die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit führt.

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Sie reist nach Osten, nach Czernowitz, an die ehemalige Ostgrenze des k.u.k.-Reichs, in die damalige Sowjetunion, in die heutige Westukraine, in die Geburtsstadt ihres Vaters Salo Beckermann. Sie sucht nach Bildern zu den Erzählungen und Erinnerungen ihrer Verwandtschaft, ein aussichtsloses Unterfangen, denn die Erinnerung lässt sich schlicht nicht bebildern, und nur mühevoll mit der Realität konfrontieren.

Der Film lebt von dieser produktiven Differenz vom Damals, das Beckermann nur aus Erzählungen und Büchern kennt, und vom Heute, das die Kamera aufzeichnet. Die Vergangenheit manifestiert sich in Spuren, ist (noch) nicht ganz verschwunden, lebt vielleicht so lange, wie die wenigen alten Männer und Frauen der jüdischen Gemeinde von Czernowitz den Sabbat feiern – die Jungen sind nach Israel gezogen, um dort eine bessere Zukunft zu gestalten, eine Utopie, die heute bereits Geschichte geworden ist.

„Gibt es ein Ankommen, das nicht Ende heißt?“

Beckermanns Reise ist eine Reise ohne klares Ziel. Sie grast Czernowitz und die umliegenden Dörfer ab und kehrt dann wieder zurück. Sie überquert Grenzen, legt Distanzen zurück, die damals, als ein Eiserner Vorhang Europa durchteilte, unendlich größer waren, als heute. Die Reise ist das Ziel. Eine weitere Binsenweisheit, doch selten so treffend wie in Die papierene Brücke: die langen Fahrten mit dem Auto, die investigative Spurensuche, die Begegnungen mit den letzten Resten einer Vergangenheit, die prägend für Beckermanns Selbstverständnis, aber trotzdem nicht die eigene ist. Die Reise ist der Katalysator für die Reflektion, wo sie genau hingeht, und welche Etappen dabei absolviert werden ist dabei gar nicht so entscheidend.

Der Holocaust als einschneidendes Familienerlebnis, das von den Überlebenden und Nachkommen geteilt wird. Es lässt Beckermann nicht los. Sie fragt, weshalb so viele starben, und manche überlebten. Sie ist nicht die einzige die diese Frage stellt. Ihre Gesprächspartner, die sich zum Teil untereinander in Diskussionen verwickeln, scheitern ebenfalls an einer Erklärung. Ist es das, das oftmals proklamierte Nicht-Darstellbare am Holocaust? Die Frage nach dem Warum?

Jacques Rancière hat dazu geschrieben, dass das Problem der Darstellbarkeit der Katastrophe nicht, wie so gerne nach 1945 von Theoretikern, Intellektuellen und Philosophen verkündet, zur Ohnmacht führt, sondern dazu, dass neue Möglichkeiten der Formgebung entstehen. Rancière bezog sich dabei auf Claude Lanzmanns Shoah, doch Die papierene Brücke stützt sein Argument ebenfalls. Reportage, Essayfilm, Biographie, irgendwo zwischen journalistischem, politisch-motiviertem Willen zur Vermittlung und cinephil-geschultem Willen zur Kunst (in dieser Zeit war Chris Marker ihre wichtigste Referenz).

Die Stimme, ein Leben

Zurück zu dieser besonderen Sichtung mit ihren Tonproblemen. Beckermann besucht ein Filmset, wo österreichische Juden als Komparsen für eine US-Doku über ein Konzentrationslager eingesetzt werden. In den Drehpausen diskutieren sie energisch, werfen ihre jeweiligen Biographien und Familiengeschichten ins Gefecht. Alle sprechen deutsch, die Untertitel geben wieder, was nur schwer zu verstehen ist. Unter besseren Bedingungen würde man noch viel mehr hören, als Lebensgeschichten und Meinungen zu politischen und historischen Entwicklungen. Die Stimmen ergänzen das Gesagte. Da ist eine alte Frau, die mit einem starken englischen Akzent spricht. Sie diskutiert mit einer jüngeren Frau, die mit schwachem österreichischem Akzent spricht. An einem anderen Tisch streitet ein alter Wiener mit einem jüngeren Mann, der nur gebrochen Deutsch, mit jugoslawischem Akzent spricht. Was sie in den Gesprächen von sich preisgeben wird ergänzt durch den Klang ihrer Stimme.

Markante Sprachfärbungen spielen bei Beckermann immer wieder eine Rolle. Der Akzent des Vaters spielt im Film eine prominente Rolle, findet sich auch Adi Doft, dem letzten Tuchhändler der Marc-Aurel-Straße, in Homemad(e). Das Sprachpotpourri in Zorros Bar Mizwa muss hier ebenfalls Erwähnung finden: Sophie hat einen englischen Vater, Sharon georgische Eltern, Moishys Familie spricht mit der fast ausgestorbenen, typischen Sprachfärbung der Jüdischen Gemeinde von Wien – Beckermann hat diese Spielart des Wienerischen durch ihr langes Interview mit Franz West in Wien retour für die Nachwelt dokumentiert.

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Immer wieder drehen sich Beckermanns Filme um Menschen, die ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrer (Mutter-) Sprache haben. Die Auswanderer, die die deutsche Sprache vergessen wollen, um ihre bittere Vergangenheit zu vergessen. Neuankömmlinge in einem fremden Land (Sehnsuchtsland: Israel), wo das Gebrochene (Englisch, Deutsch, Russisch, Hebräisch) Landessprache ist. Diese Filme finden auch in den Nuancen dieser Sprachunterschiede statt, und wenn man das nicht hört, hat man den Film nur halb gesehen.

Zum Abschluss ein Satz in markant osteuropäisch-jiddisch gefärbten Deutsch: „Was soll ich in Israel machen?“ Salo Beckermann sagt diesen Satz gegen Ende des Films im Gespräch über seine Entscheidung nach dem Krieg in Wien zu bleiben. Aus dieser gewichtigen Entscheidung und der damit verknüpften Frage entsteht Beckermanns nächster Film Nach Jerusalem, wo sie dieses „Land der einzigen Möglichkeit“ filmisch vermisst und die Frage für sich beantworten möchte. Das größte Vermächtnis der Eltern, soviel wird klar, ist die Entscheidung für Wien. Wien ist Referenz-, Dreh- und Angelpunkt des (filmischen) Lebens von Ruth Beckermann. Jede Reise, die sie von dort wegführt – und das ist vielleicht entscheidender als Reiseziele, die es in ihren Filmen kaum gibt – ist letztlich rückgebunden an diesen Ort, von dem sie aufgebrochen ist, und den sie dadurch besser versteht, dass sie ihn für einige Zeit verlässt.

Film und Baukunst: Zu einigen Filmen von Manoel de Oliveira

Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira

Ein sichtlich betrunkener Nachtwächter torkelt durch die Gassen eines heruntergekommenen Viertels in Lissabon. Mit jedem Schritt über die grob gepflasterten Treppen, meint man ihn Fallen zu sehen. Jedes Mal hält er aber die Balance, bekommt eine Mauer, ein Geländer zu greifen. Er kramt in seiner Tasche, holt einen Flachmann hervor, genehmigt sich einen weiteren Schluck, während es langsam hell wird. Dieser Nachtwächter tritt zu Beginn von Manoel de Oliveiras A Caixa auf, einem schwierig einzuordnenden Film, zwischen Schmierenkomödie, Milieustudie und griechischer Tragödie. Im weiteren Verlauf des Films spielt der Nachtwächter keine Rolle mehr, doch abgesehen davon, dass diese Anfangsszene brillante Slapstick-Einlagen zeigt, hat sie noch eine andere wichtige Funktion. Sie vermisst den Ort des Geschehens, durchwandert die engen, ansteigenden Gassen dieses Viertels, dass der Film nie verlassen wird. Die hohen, aber schmalen Häuser, der Handlauf in der Mitte des gepflasterten Wegs, die Torbögen und Durchgänge, die das Ende der Gasse darstellen und sich hin zu einem anderen Lissabon öffnen, das der Film vollkommen ausschließt.

Oliveira und die Orte

Es kommt nicht von ungefähr, dass ein Film von Manoel de Oliveira mit so einer filmischen Kartographie eines bestimmten Ortes beginnt. Orte sind für Oliveira sehr wichtig, das können Häuser, Stadtviertel oder ganze Städte sein, allen voran natürlich seine Heimatstadt Porto, in der die meisten seiner Filme spielen und der er mit Porto da minha infância einen eigenen Film gewidmet hat. Aber mehr noch als das Aufspüren, das Kennenlernen und das Auswählen eines Ortes, haben Oliveiras Filme eine unbestimmte Qualität diese Orte in Szene zu setzen. Entscheidender noch, als der Umstand, dass A Caixa mit einer Vorstellung eines Ortes beginnt, ist die Art und Weise, wie Oliveira ihn vorstellt: Das leichte Schwanken der Kamera, die dem Nachtwächter folgt, das langsame Durchtasten des engen Raums der Häuserschlucht, die Menschenleere, die langsam der morgendlichen Hast weicht, der die leicht heruntergekommenen Häuserfassaden trotzen.

Die Art der Inszenierung wiederum hat mit Oliveiras Verbindung zur Architektur zu tun. Orte, Bauwerke, Architektur, Filme: Patrick hat einmal einen Vortrag zu diesem Themenkomplex in den Filmen von Oliveira am Beispiel von Visita ou Memórias e Confissões gehalten. An anderer Stelle hat er nochmal über denselben Film geschrieben. Ich möchte seine beiden Texte als Grundstock nutzen, um auf andere Stellen in Oliveiras Filmographie hinweisen, in denen Architektur eine bedeutende Rolle spielt.

Es gibt viele Meinungen darüber, wie sich das Kino zur Architektur verhält. Helmut Färber hat vor Jahren einmal ein Buch darüber geschrieben, was sie verbindet (und trennt). Peter Kubelka spricht oftmals über Architektur, dass sie eigentlich nur in der Bewegung wahrgenommen werden kann und dass deshalb ein Film, um Architektur fassbar zu machen, das Umherschweifen des Blicks nur durch eine rasche Abfolge von Einzelbildern simulieren kann. Konträr dazu funktionieren manche Filme aus dem Genre des Architekturfilms, wie etwa die Architekturstudien von Heinz Emigholz, die lange, statische Einstellungen aneinanderreihen. Andere Architekturfilme wiederum, beispielsweise jene von Lotte Schreiber oder Sasha Pirker, bemühen sich eher darum die Atmosphäre eines Bauwerks einzufangen, als seine äußere Erscheinung filmisch zu reproduzieren.

Architektur, Filme

Manoel de Oliveira macht keine Architekturfilme. Aber es fällt ins Auge, wie prominent manche Bauwerke in seinen Filmen in Szene gesetzt werden, und wie anders das bei ihm aussieht, als bei anderen Filmemachern, immer scheint er genau die richtigen Punkte eines Gebäudes und die richtige Perspektive darauf zu finden, um seinen Geist zu erschließen. Im Fall von Visita ou Memórias e Confissões funktioniert beinahe der ganze Film nach diesem Muster. Das langsame Annähern von außen, schweifende Blicke durch die Innenräume. Oliveira kannte dieses Haus sehr gut, er hatte fast vierzig Jahre darin gelebt, und er wusste, wo er die Kamera positionieren muss, um den richtigen Eindruck davon zu vermitteln.

Chafariz das Virtudes von Manoel de Oliveira

Chafariz das Virtudes von Manoel de Oliveira

Für den Viennale-Trailer 2014 filmte er den Brunnen Chafariz das Virtudes in Porto. In einer einzigen Einstellung zeigt er nur die beiden wasserspeienden Köpfe am Fuß des barocken Brunnens, der einige Meter hoch ist. Eine Detailaufnahme eines Bauwerks, die keiner Ergänzung bedarf.

Großartig auch die Szene am Grabmal des Schriftstellers Camilo Castelo Branco am Ende von O dia dos desespero. Mit nur wenigen Einstellungen rahmt Oliveira hier den Film über den Schriftsteller, dessen Roman Amor de Perdição er einige Jahre zuvor verfilmt hatte. Das Grabmal als Monument, das einerseits die sterblichen Überreste des Autors beherbergt, und andererseits den Film abschließt.

In der Bovary-Variation Vale Abraão spielen gleich drei Häuser eine zentrale Rolle. Romesal ist das Geburtshaus von Ema, auf dessen Terrasse die Protagonistin als 14-Jährige den vorbeifahrenden Autolenkern den Kopf verdreht und Unfälle verursacht; nach ihrer Hochzeit zieht sie nach Vale Abraão, dem Herrenhaus der Familie ihres Ehemanns; nachdem die Ehe sie langweilt und frustiert, flüchtet sie sich schließlich nach Vesúvio, dem Wohnsitz von Fernando Osorio, einem Freund der Familie und Emas halbgeheimen Liebhaber. Während der Film Romesal und Vale Abraão zumeist von innen zeigt, bekommt Vesúvio seinen ersten Auftritt in einer großzügigen Totale. Freistehend, am Ufer des Douro ist es minutenlang in einer statischen Einstellung zu sehen, während eine Stimme aus dem Off die Vorkommnisse im Inneren schildert. Ein starker erster Eindruck für einen Ort, der anders als die beiden vorangegangenen Häuser kein Ort der Ruhe, der Heimeligkeit, der Familie ist, sondern einer des Abenteuers, des Geheimen, das ausgespäht werden will.

Alle diese Momente haben kein einendes Element, anhand dessen man die Beziehung von Oliveira zur Architektur kurz und knapp charakterisieren könnte. Jedes Gebäude, so scheint es, verlangt seine eigene Inszenierungsstrategie: das bewundernswerte ist aber – Oliveira scheint immer die richtige zu finden, scheint immer den richtigen Sinnzusammenhang zu finden, in dem er die Bauwerke präsentiert. Diese Sinnzusammenhänge entstehen durch eine bunte Mischung von Motiven aus anderen Künsten für die Oliveira im Laufe der Jahre eine ausgefeilte Kombinatorik gefunden hat.

Es gibt wenige Filmemacher (Straub-Huillet zählen sicher dazu), die so präzise und souverän mit den Ideen anderer umgehen, Material aus anderen Künsten in ihre Filme einfließen lassen, und daraus einen eigenen Stil entwickeln. So wie sich ein Text über Oliveiras Verhältnis zur Architektur verfassen lässt, so könnte man auch darüber schreiben, wie er literarische Stoffe umsetzt, etwa die langen Voice-over-Passagen in Vale Abraão, O dia dos desespero, oder Amor de Perdição, einem Film, der wie wenige das Gefühl des Romanlesens evoziert und dabei trotzdem dem Filmischen total verhaftet bleibt. Oder aber man könnte über den auffälligen Einsatz von (klassischer) Musik schreiben, am prominentesten vielleicht jene von Felix Mendelssohn in O Passado e o Presente. Interessant ist auch die Beziehung von Oliveiras Filmen zum Theater, etwa die Operettenszene in Porto da minha infância, in der Oliveira selbst einen portugiesischen Operettenstar seiner Jugend verkörpert oder seine Adaption von José Regios gleichnamigem Theaterstück in Benilde ou A Virgem Mãe – Luís Miguel Cintra, der selbst in einigen von Oliveiras Filmen mitgespielt hat, hat dieses Themenfeld für Cinema Comparat/ive abgedeckt.

Der große „Borger“

Cintra spielt in A Caixa die Rolle des blinden Mannes, dem die namensgebende Büchse gehört, mit der er Almosen sammelt. Er sitzt vor einem der Häuser, die die enge Gasse säumen, die Oliveira so unnachahmlich in Szene setzt. Eine Häuserschlucht in einem Armenviertel, der er mit ebenso viel Respekt begegnet wie den majestätischen Villen im Dourotal. Die Bälle, die in diesen Herrenhäusern für die Oberen Zehntausend abgehalten werden, finden ihre Entsprechung in der surrealistischen Ballettsequenz in A Caixa, in denen die heruntergekommenen Gassen zur Theaterbühne werden. Auch hier gilt: die Architektur entfaltet sich durch die Zusammenführung mit „geborgten“ Elementen anderer Künste.

Oliveira ist der große „Borger“ der Filmgeschichte. Film als Kunst gestaltet sich bei ihm als eine (keineswegs willkürliches) Sammelsurium aus äußeren Einflüssen, die er zu einem feinen Muster verwebt. Tanz, Theater, Literatur und eben Architektur sind seine Referenzpunkte. Die mediale Vermittlung über den Film nimmt er sehr ernst, so ernst, dass sich daraus ein ganz eigener Stil entwickelt, der sehr viel mit intellektueller Überforderung zu tun hat. In Filmen, die scheinbar stringent einer Erzählung folgen, tut sich ein Meer aus Bezügen auf – und genau darin liegt die filmische Qualität Oliveiras: das Vermögen des Films andere Künste in sich aufzunehmen und zusammen mit ihnen zu wachsen.

Rainer on the Road: Mit Tizian im Museum

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Wir befinden uns in einer aufregenden Zeit, vor allem was die Veränderungen der Kino- und Filmlandschaft betrifft. Abseits der obligatorischen Totsagungen wird innerhalb des filmischen Diskurses wild diskutiert: Wie soll man auf die Umstellung des Kinobetriebs von analog auf digital reagieren? Was machen mit den abertausenden Filmrollen in den Archiven, die nun kaum mehr gezeigt werden können? Wie lässt sich der Politik und der Öffentlichkeit klarmachen, dass es mit der Digitalisierung des Filmbestands nicht getan ist? Lassen sich Digitalisate überhaupt sinnvoll langzeitarchivieren? Welche Eingriffe sind bei der digitalen Restaurierung eines Films ethisch vertretbar? Was tun mit der unüberschaubaren Masse an Bewegtbildern, die tagtäglich von Smartphones und Digitalkameras aufgenommen und ins Netz gestellt werden (oder auf Festplatten schlummern)?

Präsentation der Jungfrau im Tempel von Tizian

Präsentation der Jungfrau im Tempel von Tizian

Fragen über Fragen also, denen allzu oft mit kaum mehr als halbgaren Ideen und Spekulationen gegenübergetreten wird. Die Filmwelt sieht sich einschneidenden Veränderungen gegenüber, denn anders als noch vor 15 oder 20 Jahren ist es heute nicht mehr so klar, was „Film“ überhaupt bedeutet. Was mich immer wieder erstaunt ist jedoch, wie sehr man sich im filmischen Diskurs in einer Ausnahmestellung wähnt, wie wenig man sich öffnet, um Erfahrungen anderer Disziplinen und Bereiche aufzunehmen und daran zu wachsen. Die digitale Wende betrifft, so viel ist klar, nicht nur das filmische Erbe und das Kino. Mehr noch, es gibt andere Bereiche, die ähnliche Umbrüche in den vergangenen Jahrhunderten schon in ähnlicher Form durchlebt (und überlebt) haben.

Es ist mir ein Rätsel, weshalb Filmarchivare und -kuratoren sich so selten an den Kustoden der Kunstmuseen und den Archivaren der naturwissenschaftlichen Sammlungen orientieren, die über Jahrhunderte Maßnahmenkataloge erarbeitet haben, wie mit ihren Werken angesichts eines wandelnden medialen Umfelds umgegangen werden soll. Ebenfalls erstaunlich, wie wenig man in Fragen der Werktreue, oder in kniffligen Konflikten, wie dem zwischen Original und Faksimile auf die Kunstgeschichte rekurriert.

Museum und Kirche

Eine lange Vorrede für einen Reisebericht aus Venedig. Vor rund 500 Jahren war die Lagunenstadt in Norditalien der Nabel der Kunstwelt. Die Venezianischen Meister der Renaissance zählen zu den höchstgepriesenen Künstlern der Geschichte. Ihre Werke haben sich in den letzten Jahrhunderten über den ganzen Erdball verstreut, doch ein Gutteil davon ist in der Stadt verblieben. Von diesem künstlerischen Erbe zeugt die absurd hohe Dichte an Kunstmuseen und Galerien, die in der Stadt zu finden sind, wie auch die unüberschaubare Masse an Kirchen.

Die Gallerie dell’Accademia (kurz: Accademia) ist Venedigs erste Anlaufstelle für Kunstliebhaber. Das Museum beherbergt die weltweite größte Sammlung venezianischer Malerei, darunter Werke namhafter Künstler wie Canaletto, Giovanni Bellini, Paolo Veronese, Jacopo Tintoretto oder Tizian. Der Kernbestand der Sammlung stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, als für die Studenten der Kunstakademie eine Galerie geschaffen wurde. Die Bilder, die dafür notwendig waren, wurden zu großen Teilen aus aufgelassenen Kirchen und Klöstern entnommen. Bilder, die zuvor Altare schmückten, wurden auf kahle Steinmauern gehängt. Statt Buntglasfenstern und Kerzenschein sorgten von nun an großflächige Oberlichter für ausreichende Beleuchtung.

Heute mag es natürlich scheinen diese Werke in einem hohen, weißgestrichenen Museumsraum zu sehen, heute stört sich kaum jemand daran (vorausgesetzt Hängung und Lichtverhältnisse sind zufriedenstellend), dass diese Werke an einem solchen Platz eigentlich nicht heimisch sind. Man könnte sagen, die Fresken und Gemälde sind ihrem ursprünglichem „working system“ entnommen, sind approbiert worden und haben sich im Museumsraum neu etabliert. Jahrzehnte der Kunstbetrachtung in Galerien und Ausstellungsräumen haben uns daran gewöhnt Kunst auf diese Art und Weise wahrzunehmen. Regelmäßig brandet Kritik auf, dass der White Cube womöglich nicht die beste Form der Kunstpräsentation ist, aber niemand würde dagegen ernsthaft ins Feld führen, all diese Bilder wieder zurück in Kirchen oder Kloster zu hängen, um dort ihr künstlerisches Potenzial zur Entfaltung zu bringen.

Tizian bleibt Tizian

Sofern man sich in den gewundenen Gassen nicht verläuft, braucht man der Accademia rund zwanzig Minuten zur Santa Maria Gloriosa dei Frari (kurz Frari). Die Frari ist eine der größten gotischen Kirchen Venedigs und sticht selbst aus der Masse der prachtvollen Kirchen Venedigs heraus. Seit fast genau 500 Jahren, seit dem 19. April 1518 um genau zu sein, ist über dem Hochaltar der Frari Tizians monumentale Mariä Himmelfahrt angebracht (über hundert Jahre, von 1817 bis 1921 war das Gemälde jedoch in der Accademia ausgestellt). Neben diesem Hauptwerk Tizians finden sich auch Werke anderer venezianischer Meister wie Giovanni Bellini, Paolo Veneziano und Bartolomeo Vivarini in der Kirche. Obwohl Hängung und Lichtgebung in der Accademia vorbildlich sind, die Präsentation der Bilder dort mitdenkt, auf welche Weise diese Bilder ihre Betrachter adressieren, so bietet der direkte Kontrast zu den Bildern innerhalb des „working systems“ katholische Kirche einen Vergleich, was beide Formen der Kunstpräsentation voneinander unterscheidet. (Auch außerhalb sakraler Räumlichkeiten kann es natürlich solche „working systems“ geben. Ein Beispiel dafür ist das monumentale Wandgemälde im Dogenpalast, über das ich im Text zu meiner letzten Venedig-Reise vor zwei Jahren geschrieben habe.)

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Es geht mir ganz und gar nicht darum zu sagen, dass sich diese Art von Kunst nur in der sakralen Umgebung entfalten kann, für die sie konzipiert wurde. Das Gegenteil ist der Fall: die Gemälde Tizians in der Accademia sind ebenso brillant wie die Gemälde Tizians in der Frari. Man sieht die Bilder in unterschiedlichen Kontexten auf andere Weise und es lässt sich darüber reflektieren, wo die Unterschiede liegen, aber im Kern bleiben die Werke davon unberührt. Man kann womöglich darüber rätseln, wo und wie ein Gemälde besser (oder weniger wertend, anders) an diesem oder jenem Ort zur Geltung kommt, aber es verliert auf keinen Fall seine Wirkung dadurch. Eine solche Behauptung würde das Werk selbst schmälern.

An diesem Punkt lässt sich offensichtlich mit Betrachtungen zu Film und Kino anschließen. Nicht ohne Grund habe ich oben dem filmischen Diskurs den Begriff „working system“ entlehnt, mit dem das Verhältnis von Film im Kino beschrieben werden kann: Die Filmkopie wird in der Projektion als performativer Akt zur Aufführung vor einem Publikum gebracht. Ähnlich wie im Fall der Gemälde Tizians haben sich im Laufe der Filmgeschichte jedoch alternative Wege etabliert, Film außerhalb dieses „working systems“ zu rezipieren (der Vergleich ist natürlich nicht perfekt – der Film als reproduzierbares Kunstwerk, wie auch als zeitbasierte Kunstform, was mit ihrer spezifischen Aufführungspraxis zusammenhängt, hat seine Eigenheiten – dennoch finde ich, dass die fruchtbaren Anknüpfungspunkte eines solchen Vergleichs die partikularen Kritikpunkte überwiegen). Ohne das Kino als primären Ort filmischer Wahrnehmung in Frage zu stellen, lässt sich , wie ein Blick in die Kunstwelt zeigt, womöglich dennoch einiges aus dem Vergleich des Kinofilms als „working system“ und seinen diversen Faksimilierungen gewinnen.