Wien retour beginnt mit Aufnahmen einer Zugfahrt. Die Kamera filmt aus dem Fenster, während der Zug über die Nordbahnstrecke durch die Wiener Außenbezirke fährt. Die Eisenbahntrasse führt quer durch Floridsdorf und überquert schließlich die Donau, wo die Baustelle der Donauinsel zu sehen ist. Im 20. Wiener Gemeindebezirk endet die Zugfahrt am Bahnhof Praterstern, dem ehemaligen Nordbahnhof. Während die Kamera die urbane Landschaft aufzeichnet, werden die Opening Credits eingeblendet, als der Zug in den Bahnhof einfährt, setzt ein Voice-over-Kommentar ein.
Die Schauspielerin Paola Loew erklärt in nüchternem Ton, welche Bedeutung der eben zurückgelegte Weg für den Film hat: Der Nordbahnhof war früher die Endstation der Nordbahnstrecke, über ihn waren die Ostgebiete der K.-u.-k.-Monarchie an die Hauptstadt Wien angebunden. Wer aus diesen Gegenden nach Wien reisen wollte, der war auf der selben Strecke unterwegs, wie Ruth Beckermanns Kamera. Heute ist der Praterstern mit U-Bahn oder S-Bahn ans Stadtzentrum angebunden, früher musste man mit der Straßenbahn in die inneren Bezirke weiterreisen. Viele der Ankommenden aus dem Osten, so die Erzählerstimme, setzten ihre Reise jedoch nicht in Richtung Zentrum fort. Sie blieben in der Gegend rund um den Praterstern, im Zweiten Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt. Es waren vor allem jüdische Reisende aus dem Osten der Habsburgermonarchie, die zuallererst Verwandte oder Bekannte in der Leopoldstadt aufsuchten, denn nach dem Ersten Weltkrieg lebten dort rund 60.000 Juden. Das gab dem Stadtviertel den Beinamen „Mazzesinsel“.
Die Mazzesinsel ist auch der Titel eines Buchprojekts von Ruth Beckermann. Eingeleitet von einem Essay von Beckermann, versammelt der Band eine Fülle historischer Materialien – Reportagen, Fotografien, Liedtexte – über das Leben in der Zwischenkriegszeit in diesem jüdisch geprägten Viertel. Das Buch entstand als Folgeprojekt zu Wien retour, denn für den Film hatte Beckermann umfangreiche Recherchen zu dieser Zeit und diesem Stadtteil unternommen. Nicht alle Materialien, auf die sie stieß, konnte sie für den Film verwerten, manches kommt sowohl im Film als auch im Buch vor. Wien retour gab zu einem entscheidenden Zeitpunkt in Beckermanns Karriere den Anstoß zur Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte ihrer Heimatstadt. Die Jahre zuvor hatte Beckermann mit ihren Kollegen vom Filmladen am Verleih und der Produktion politischer Filme gearbeitet, die eine Gegenöffentlichkeit herstellen sollten. Es entstanden Reportagen über aktuelle Streiks und die Situation der Arbeiter in Österreich.
Franz West: Kommunist, Jude
Mit Wien retour wendete sich Beckermann der Vergangenheit zu. In Franz West fand sie einen Protagonisten für ihren Film, der sowohl über die Geschichte der Linken als auch über die Geschichte der Juden in Österreich berichten konnten. Franz West (ursprünglich: Franz Weintraub) war eine bedeutende Figur der kommunistischen Bewegung in Österreich. West wurde 1909 als Sohn einer jüdischen Familie in Magdeburg geboren. Die Familie übersiedelte jedoch 1924 nach Wien, wo sie in den Folgejahren im jüdisch geprägten zweiten Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt, lebte. Bereits in der Schulzeit schloss er sich dem Verband Sozialistischer Mittelschüler (VSM) an. Während seines Jusstudiums (1928–1933) war er im Verband Sozialistischer Studentinnen und Studenten Österreichs (VSStÖ) aktiv, konnte jedoch aufgrund seines politischen Engagements sein Studium nicht abschließen und wurde des Landes verwiesen. Als illegaler Funktionär der verbotenen Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) arbeitete er im Untergrund weiter. Erst als der austro-faschistische Ständestaat von den Nationalsozialisten übernommen wurde, emigrierte er kurz vor dem Anschluss Österreichs nach England. Nach Kriegsende kehrte er zurück nach Österreich, wo er unter anderem als langjähriger Parteifunktionär der KPÖ und als Chefredakteur der kommunistischen Tageszeitung Volksstimme tätig war.
Eine faszinierende Biographie, der sich Beckermann über die eingangs beschriebene Zugfahrt annähert. Nach der Ankunft des Zugs am Bahnhof Praterstern und dem einführenden Kommentar von Paola Loew, der mit der Einblendung historischer Fotografien unterlegt ist, springt die Kamera zur Prater Hauptallee, einer von Bäumen gesäumten Flaniermeile im städtischen Naherholungsgebiets Wiens. Dort tritt Franz West das erste Mal vor Beckermanns Kamera. Er erzählt, zwischen Joggern und Spazierenden, von den Naziaufmärschen Mitte der 30er Jahre an diesem Ort. Nach einer weiteren überleitenden Passage, in der Archivmaterialien gezeigt werden, verlagert sich der Film in Franz Wests Büro. Im weiteren Verlauf des Films beschreibt West das Leben in der Leopoldstadt zwischen 1924 und 1934.
Biographie einer Nation
West ist ein Stellvertreter. Zwar erzählt er aus einer subjektiven Perspektive von seinen Erlebnissen, es gelingt ihm jedoch von seinem eigenen Schicksal zu abstrahieren, über seine eigene Biographie die Geschichte des ganzen Viertels zu erzählen. Wien retour ist eine historische Quelle im Sinne der Oral History, ein Talking-Head-Dokumentarfilm über eine historische Epoche in der Geschichte Wiens und Österreichs und gleichzeitig viel mehr als das. Seine Stimme ist die eines jüdischen Wiener Intellektuellen, mit einer Sprachfärbung, die in der Zwischenkriegszeit kultiviert worden war und mit der jüdischen Kultur des Stadtteils unterging. Heute gibt es niemanden mehr, der so spricht wie Franz West. Zugleich ist er ein meisterhafter Geschichtenerzähler, der bildmächtig das jüdische Leben in der Leopoldstadt der Zwischenkriegszeit beschreibt, das politische Klima im „Roten Wien“, das Erstarken faschistischer Kräfte und die Unterdrückung sozialistischer und demokratischer Kräfte. So übersteigt die audiovisuelle Aufzeichnung seiner Biographie den Rahmen eines historischen Dokuments. Was Stefan Zweig Jahrzehnte vor ihm mit Die Welt von Gestern in Buchform leistete, gelingt Beckermann und West mit Wien retour: eine brillante Studie über die österreichische Seele als Nacherzählung des eigenen Lebens.
Christa Blümlinger beschrieb Wien retour treffend als ein „Porträt über einen jüdischen Wiener Kommunisten, in dessen Biographie sich die Katastrophen und Widersprüche des vergangenen Jahrhunderts eingeschrieben haben.“ Der Film ist in dieser Hinsicht ein paradigmatisches Werk in der Filmographie Beckermanns. Er ist der Scheitelpunkt, an dem ihr Interesse für filmische Gestaltung, ihre politisch-aktivistischen Ziele zu überschatten beginnt. Auch thematisch steht der Film zwischen den politischen Reportagen der späten 70er und frühen 80er und den Essayfilmen, die kommen sollten. Beckermann selbst beschreibt Wien retour als den letzten ihrer Filme, der entstand, bevor sie ihren persönlichen Filmstil gefunden hat, und den sie dementsprechend heute ganz anders machen würde. Trotz dieser Selbstkritik ist Wien retour aufgrund seiner Materialfülle und nicht zuletzt wegen seines faszinierenden Protagonisten eines der Hauptwerke in Beckermanns Œuvre.
Mit Those who go those who stay zieht Ruth Beckermann nach über dreißig Jahren des Filmemachens in vielerlei Hinsicht Zwischenbilanz. Ein solches Resümee, so könnte man meinen, fasst lose Enden zusammen, ergänzt bisher Nicht-Erzähltes oder Nicht-Gezeigtes, gibt Auskunft über Motivationen für das Filmemachen, schließt ein Kapitel, einen Lebensabschnitt ab. Those who go those who stay ist da anders: das Unabgeschlossene Beckermanns früherer Filme findet hier keinen Abschluss, sondern eine Fortsetzung, kein Gedanken daran verschwendet die mannigfaltigen Themen und Motive ihrer vorherigen Arbeiten in einem letzten Kraftakt zu einem Gesamtkunstwerk abzurunden. Nein, diese Zwischenbilanz ist widerständig. Sie lässt trotzdem deutlicher werden, was Beckermann in ihrem Filmschaffen antreibt. Im Kern geht es nämlich darum, einen Film nicht als endgültiges, unumstößliches Urteil zu verstehen, sondern um eine Auseinandersetzung mit Bildern und Tönen der Welt. Those who go those who stay ist folgerichtig keine Zusammenfassung einer spezifischen Position, sondern ein Angebot noch einmal Bilder und Töne der Welt zu sichten und zu hören, die bisher eine wichtige Rolle in Beckermanns Werk gespielt haben. Ein roter Faden ergibt sich nicht aus der Zusammenführung verschiedener motivischer Stränge, sondern aus der Verdichtung parallellaufender roter Fäden, die sich mal deutlicher, mal weniger deutlich durch ihr Werk zogen.
Assoziative Sprünge durch Raum und Zeit
Die Schwerpunktsetzung lagert Beckermann dabei auf das Publikum aus und geht dabei noch radikaler vor als sie das in ihren früheren Filmen getan hat. Kaum etwas verbindet die kurzen, oft jäh abbrechenden Episoden, die Beckermann zu diesem Film zusammengesetzt hat, außer einem Willen zur Assoziation und vor allem zur Neugier. Welche Orte sind das, die sie bereist: ist das Wien? Paris? Israel? Czernowitz? Italien? Welche Menschen sind das, mit denen Beckermann spricht: ist das ihre Mutter? Freunde? Feinde? Flüchtlinge? Was „erzählt“ ein Film, der so wild durch Raum und Zeit springt: ein Krankenhausbesuch bei der Mutter; dann ein Gespräch mit Matthias Zwilling, einem der letzten Juden in Czernowitz (wo Beckermanns Vater geboren ist); dann wieder ein Besuch einer FPÖ-Veranstaltung am Wiener Stephansplatz; zwischendurch Aufnahmen aus Israel; gegen Ende afrikanische Flüchtlinge in Süditalien – einige Jahre bevor neue Kriege und neues Leid Europa einen Flüchtlingsstrom bescherte, der verheerende politische Kurzschlussreaktionen auslöste.
Mögliche Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Vignetten lassen sich mühelos herstellen. Die Volkstümelei der FPÖ trifft auf die weit entfernte Not abgekämpfter Flüchtlinge, deren Fluchtroute sich zu weiten Teilen mit jener der Mutter deckt, als sie 1938 Wien verlassen musste. Sie floh freilich in die andere Richtung: Nach Israel, dem „Land der einzigen Möglichkeit“, zu dem Beckermann – und viele andere, die dieses Land nicht primär als theologische Konstante verstehen – ein schwieriges Verhältnis hat. Verbindungen über Verbindungen, Querverbindungen über Querverbindungen. Es hilft natürlich, wenn man über ein gewisses Vorwissen besitzt, wenn man Those who go those who stay sieht. Dann lässt sich Beckermanns Verhältnis zu den Menschen und zu den Orten im Film besser ausloten und verstehen. Tatsächlich ist ein solches Vorwissen aber nicht zwingend notwendig. Es war der erste Film von Beckermann, den ich überhaupt gesehen habe und er funktionierte auch ohne viel Verständnis für die persönliche Beziehung der Filmemacherin zu den Sujets ihres Films, denn die Fragen, die der Film verhandelt sind universal, die Gespräche und Gesprächsfragmente geben genug Information, um sich selbst einen Reim zu machen.
Teppich der Erfahrungen
Darin liegt eine Qualität von Beckermanns Filmschaffen: im freien Changieren zwischen Individualität und Universalität. So wie es Franz West in Wien retour gelingt aus seinem eigenen Schicksal auf das Schicksal der österreichischen (und europäischen) Juden zu abstrahieren, so gelingt es Beckermann in ihren Filmen aus einer biographischen Erzählung, über die Existenz und Identität eines ganzen Volks zu reflektieren. Those who go those who stay macht evident, dass eine solche Reflektion nicht über einen philosophischen Kommentar stattfinden muss, der erklärt, wie all diese Bilder und Töne zusammenhängen; und auch nicht über kathartische Momente oder andere Versuche Emotionen zu konstruieren. Die Zusammenhänge stellen sich dann her, wenn die Bilder und Töne aufeinandertreffen – und auf den Erfahrungshorizont des Publikums. Beckermann tritt mit Kamera und Tonaufnahmegerät den Menschen und der Welt gegenüber und breitet einen Teppich aus Fragmenten aus. Ein wirrer, löchriger Teppich ist das, ein Teppich, an den man herantreten muss, an dessen Vervollständigung man selbst arbeiten muss.
Dieser Text ist die modifizierte Version eines Vortrags, der am 14.07.2017 bei der Veranstaltungsreihe Objectif 16 in Berlin gehalten wurde. Der Abend begann mit einer Einführung, im Anschluss wurden drei Filmprogramme gezeigt. Im Anschluss an jedes der Programme gab es eine Diskussion.
Die Erfindung des Films kann nicht einem einzigen virtuosen Genie zugeschrieben werden. Geschichtsschreibung funktioniert zwar oft als Heldengeschichte, aber gerade im Fall des Films als industrieller Kunst, wäre es ziemlich verkehrt von einem einzelnen Erfinder zu sprechen. Die Technikgeschichte des Films würde genug Material für einen eigenen Vortrag (oder besser: eine Vortragsreihe) bieten, und ist zudem eng verknüpft mit anderen medialen Formen, die im 19. Jahrhundert existierten, und die man heute gemeinhin als Pre-Cinema bezeichnet.
Vereinfacht gesagt ist ein analoger Filmstreifen nichts anderes als ein Kunststoffstreifen, der mit einer lichtempfindlichen Emulsion beschichtet ist. In der Kamera wird dieser Streifen an einer Öffnung vorbeibewegt, durch die Licht einfällt. Die lichtempfindliche Emulsion hält dann fest, was sich im Moment der Belichtung vor der Öffnung abgespielt hat. Wenn man den Filmstreifen schnell genug bewegt – so das etwa 12-14 Aufnahmen in der Sekunde entstehen – und man das Ganze nach dem Entwickeln mit der gleichen Geschwindigkeit projiziert, dann entsteht durch das Zusammenspiel verschiedener optisch-physiologischer Effekte der Eindruck von Bewegung.
Wie gesagt, mussten also viele verschiedene Dinge erfunden werden, bevor der Film „erfunden“ werden konnte. Es brauchte eine photochemische Emulsion, die lichtempfindlich genug war, dass selbst bei einer Belichtungszeit von einem Bruchteil einer Sekunde eine Aufnahme entsteht. Es brauchte einen widerstandsfähigen Kunststoff, der zwar schmal ist, aber in der nötigen Geschwindigkeit durch den Apparat gezogen werden konnte. Es brauchte einen Mechanismus, der die Öffnung des Shutters, der steuert, wie lange Licht durch die Öffnung einfällt, mit dem Vorbeigleiten des Films synchronisierte. Es brauchte entsprechende Linsen, mit denen das Licht gebündelt werden konnte und Lichtquellen, die stark genug waren, um den Film dann anschließend zu projizieren.
Die „Helden“ der Filmgeschichte
Trotz dieser Schwierigkeiten hat die Geschichtsschreibung dann doch zwei Helden auserkoren, die als Erfinder des Kinos postuliert werden. Und zwar ein Brüderpaar aus einer Industriellenfamilie aus Lyon, Auguste und Louis Lumière. Die beiden haben am 28. Dezember 1895 in einem Salon in Paris ihre neueste Erfindung der Öffentlichkeit präsentiert – den Cinématographe. Dieses Datum gilt gemeinhin als Geburtsstunde des Kinos. Um die Funktionsweise dieses Apparats vorzuführen, haben sie gezeigt, was man mit ihm machen kann, nämlich Filme drehen und sie dann vorführen. Zu diesem Zweck haben sie zuvor bereits einige kürzere Filme in ihrem eigenen Lebensumfeld gedreht – sie sollten eigentlich bloß Vorführungszwecken dienen, denn was verkauft werden sollte, war der Apparat für den Hausgebrauch (wie später 8mm-Kameras oder Camcorder).
Die Lumières hatten sich allerdings verschätzt, denn die Leute interessierten sich mehr für die Filme als für den Apparat. Also änderten sie ihr Geschäftsmodell, bildeten Leute aus, die mit den Kameras umgehen konnten – man nennt sie Operateure – und sendeten sie aus, um mehr Filme zu drehen. Die Operateure waren zunächst in Europa und schließlich in der ganzen Welt unterwegs. Wo sie hinreisten, drehten sie überall eigene Filme – man nennt diese 30-60-sekündigen Aufnahmen „vues“, auf Deutsch wird das meist mit „Ansichten“ übersetzt – und bildeten in den Ländern, die sie bereisten wiederum neue Operateure aus. Die vues, die so entstanden, wurden einerseits vor Ort gezeigt und dann auch in alle Welt herumgeschickt.
Die vues Lumière hatten also eine doppelte Funktion. An dem Ort, wo sie gedreht wurden, zeigten sie dem Publikum das Vertraute. Dadurch konnten die Leute, die diese Form der beweglichen Fotografie noch nie gesehen hatten davon überzeugen, dass es sich tatsächlich, um authentische Aufnahmen der Stadt handelte. Wurden die Filme anschließend verschickt und an anderen Orten gezeigt, boten sie den Reiz des Fremden und Exotisch und gaben Auskunft über Menschen, Kulturen, Architektur, Mode, etc. in anderen Ländern. Insgesamt wurden zwischen 1895 und 1901 über 1.400 der vue Lumière angefertigt, von den fast alle erhalten geblieben sind (nur 18 gelten als verschollen). Online sind sie alle im Catalogue Lumière erfasst.
Zeitkapsel/Sehkapsel
An diesen Filmen faszinieren mich vor allem zwei Aspekte. Zum einen sind sie historische Zeitkapseln und das ist für sich sehr wertvoll. Ich finde es immer wieder spannend zu sehen, wie die Welt vor 120 Jahren ausgesehen hat. Am spannendsten ist das natürlich, wenn man diese Orte in der Gegenwart kennt und vergleichen kann, was sich verändert hat. Aber selbst wenn man die heutigen Orte nicht kennt, haben diese Aufnahmen etwas Geisterhaftes. Es liegt an der Gestaltung der vues Lumière, dass sie einen mehr, als andere Filme, gewahrt werden lassen, dass all diese Menschen, die vor der Kamera zu sehen sind oder sogar direkt in die Kamera blicken, in einer anderen Zeit gelebt haben und schon lange tot sind. Das Gleiche könnte man auch über andere Filme sagen, und doch ertappe ich mich beim Sehen von Filmen aus der Frühzeit der Filmgeschichte öfter dabei, über solche Dinge nachzudenken.
Das hat mit dem zweiten Aspekt zu tun, der mich an den vues fasziniert. Sie sind nicht nur Zeit- sondern auch Sehkapseln. Betrachtet man sie nur als historische Fragmente und bruchstückhafte Dokumente einer vergangenen Zeit, so wird ihnen das nicht gerecht, weil sich mit der Wiederholung der Motive schon bald eine Abstumpfung einstellt. Aber, die weitaus größere Faszination beziehen die vues aus der Art und Weise, wie sie die Welt aufnehmen. Sie unterscheiden sich radikal von Mainstream-Kinofilmen und Fernsehbildern, wie man sie heutzutage zu Gesicht bekommt – man sieht sie anders. Es gibt in ihnen weniger Steuerung, darüber habe ich schon an anderer Stelle geschrieben: Das Auge wird eingeladen über die Leinwand zu schweifen, sich in Details zu verlieren, die gemäldeartigen Ansichten zu betrachten wie ein Gemälde – der fehlende rote Faden, die ungewohnte Bildstruktur werden dann zum herausstechenden Merkmal. Dieser Blick ist nicht auf die vue Lumière beschränkt, an den Rändern des Kinos finden sich Filmemacher wie Sergei Loznitsa, Chantal Akerman oder Tsai Ming-liang deren Arbeiten einen ähnlichen Blick heraufbeschwören. Sie laden wie die vues Lumière zum Vermessen des Bildraums ein. Das unterscheidet sie vom Kino des Eintauchens, des Akzentuierens, des Vorbetens. Die vues – und nicht nur jene, die mit der Exotik ferner Plätze kokettieren – faszinieren zunächst als Seh- und erst dann als Zeitkapseln.
Erster Zwischentitel in Steamboat Bill, Jr.: „Muddy Waters“
Erster Zwischentitel in Neighbors: „The Flower of Love could find no more romantic spot in which to blossom than in this poet’s Dream Garden.“
Traumgärten in Bologna: In einem Gespräch mit Frieda Grafe, Hartmut Bitomsky und Thomas Tode hat Harun Farocki einmal die Frage gestellt, ob man noch Filme machen könne, wenn es schon von allem Filme gäbe. Bologna lehrt mich vor allem, dass es noch viel mehr Filme gibt. Auf einer Ebene ist das befreiend, auf einer anderen einschüchternd. Es entsteht hier nicht nur eine starre Überwältigung und Handlungsunfähigkeit als Filmschaffender, sondern auch als Cinephiler. Das Schauen von Filmen rückt in einen Modus der Akzeptanz dessen, was man nicht sieht. Erstaunlich in welcher Form der Bericht vom Kinogang immer noch von einer Rhetorik des allgemeinen Verständnis geprägt wird und wie wenig von der tatsächlichen Verirrung, in der das Selbstbewusstsein weniger dem Sehenden, als dem überlegenen Kino selbst angehört. Es gibt natürlich Besucher, die einen Überblick über ein solches Programm haben, aber letztlich habe ich dieses Jahr von sehr vielen gehört, dass sie das Festival „entspannter“ angehen, sich mehr treiben lassen und sich weniger dieser wilden Jagd nach den von Serge Daney beschworenen verborgenen Schätzen hingeben wollten. Es gibt also ganz ähnlich den Essayfilmen von Farocki eine Rückbesinnung auf den Autor, in diesem Fall den Autor des Sehens. Es geht weniger um das Programm des Festivals als das persönliche Überleben darin, die Erkenntnis, dass im Traumgarten nicht jede Frucht erreichbar ist. So reif bin ich noch lange nicht und so habe ich die Woche nach dem Festival damit verbracht, Filme zu sehen, die ich auf dem Festival verpasst habe.
Meine persönlichen Momente des Festivals:
Zum einen eine legendäre Tanzsequenz mit Sehnsuchtsträumen, Überblendungsorgien, betrunkenen Hunden und dem magnetischen Gesicht von Ivan Mosjoukine in Kean ou Désordre et génie von Alexandre Volkoff. Eine Szene, die wie vieles in Bologna derart gut musikalisch begleitet wurde, dass mir die Kubelka-Strenge bezüglich der Projektion ohne Musikbegleitung gehörig um die Ohren flog. In meiner Wahrnehmung sollte es immer beide Möglichkeiten geben. Einmal mit und einmal ohne Musik. Eine Szene, in der ein Film spazieren geht. Eine Szene, in der dem Kino erlaubt wird, zu erzittern. Eine Szene, die meiner dieses Jahr auffälligen, überdurchschnittlichen Liebe zu Hunden (auf der Straße und im Kino) in die Karten spielte genau wie eine grenzwertig brutale Szene in Marie Epsteins und Jean Benoit-Lévys Itto, in der einem Hund die Welpen weggenommen werden, was zu Irritation und schließlich ungebremster Wut im Tier führt. Zum Schmerz des entrissenes Kindes hatte auch Frank Borzage in seinem zärtlichen Until They Get Me einiges zu sagen. Dann waren da die Farben im Schwarz von Blood on the Moon von Robert Wise. Und dann Place de la Concorde von Etienne-Jules Marey, ein Film, der eigentlich nicht als solcher gedacht war und einen wie die Lumière-Projektionen auf dem Festival an das Kino erinnert, was das Kino ist und sein könnte, nicht was es war. Im weniger als eine Minute langen Film sieht man das Treiben in der französischen Hauptstadt an einem belebten Tag. Es passiert so viel im Bild, dass es gut getan hat, dass der Film mehrfach gezeigt wurde. Wie Abbas Kiarostami einmal sagte: Man fühlt, dass Dinge interessanter anzusehen sind, wenn ein Rahmen um sie herum ist.
Das stimmt aber nicht ganz. Schließlich habe ich auch die tosenden Grillen in den Bäumen von Bologna gehört, die im heftigen Gewitter wankenden Blätter eines Bananenbaums im Hof vor unserem Fenster, das Licht, das über die Terrakotta-Gemäuer wandert und dieses Jahr auch endlich das unsichtbare Wasser, das zwischen den Häusern, kaum sichtbar durch die Stadt fließt. Kein Rahmen, trotzdem Kino und zwar in einer Art und Weise, das scheint mir nicht wirklich präsent zu sein, die sich eben abhebt von diesem Streben nach dem neuem Film, dem viele Zuseher und die schreibende Zunft so auf den Leim gehen. Das heißt nicht, dass sich in Bologna nicht auch viele Probleme einer Kulturbranche zeigen, die relativ willkürlich entscheidet, was von der Filmgeschichte erhalten und beleuchtet wird. Das Problem ist, dass eine Kritik dieses Vorgehens jenen vorbehalten wird, die mehr Früchte aus dem Traumgarten kennen, als vom Festival zur Verfügung gestellt werden. Weit entfernt von solchem Wissen möchte ich abschließend noch betonen, dass mir das Prinzip der „Gatekeeper“ in der historischen Auseinandersetzung mit Filmen fatal scheint. Verschiedene Figuren schwingen sich auf zu Experten von diesem oder jenen Kino, sie werden zu Entscheidungsträgern, die letztlich sagen, was relevant ist und was nicht und zu bestimmten Themen scheint es nur sie zu geben, die dazu etwas äußern sollen und können. Was dabei an Tradition gewonnen wird, geht an Lebendigkeit, Offenheit und tatsächlicher Auseinandersetzung mit dem Kino verloren. Nach Bologna fahren sollte man trotzdem und zwar nicht, um wie viele das grandiose Essen und die schöne Stadt zu genießen, sondern um die seltene Chance wahrzunehmen, zu erfahren, dass Kino mehr ist, als man sehen kann und dass nicht nur deshalb das Vergangene im Kino immer von der Gegenwart und Zukunft des Mediums erzählt.
Rainer Kienböck
Mittlerweile habe ich für mich einen dienstbaren Weg gefunden durch das Programm zu navigieren. Recht willkürlich schließe ich vor Beginn des Festivals ein paar der Programmreihen aus, die mir weniger interessant erscheinen, dann lasse ich mich zu Beginn des Festivals treiben und peile dabei eine gesunde Mischung aus halbverschollenen Raritäten und Klassikern, die ich noch nicht gesehen habe, oder wiedersehen möchte, an. Im dritten Jahr habe ich mich auch endlich damit abfinden können, dass das Il Cinema Ritrovato ein Festival des Verpassens ist: jede Entscheidung für eine bestimmte Vorführung ist zugleich eine Entscheidung gegen andere ebenso interessante Programmpunkte. Es hängt sicherlich mit dem Reiz dieses Festivals zusammen, dass manche dieser Entscheidungen Filme betreffen, die vielleicht für Jahrzehnte nicht mehr gezeigt werden.
Ich war in jedem Fall gut beraten, in der Programmgestaltung vieles dem Zufall zu überlassen. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ich wohl nie zuvor in einem so kurzen Zeitraum so viele Stummfilme gesehen habe. Vor allem die Reihe mit Filmen von vor 100 Jahren hatte es in sich, war 1917 ein annus mirabilis des Kinos oder führt ein sorgfältig kuratierte Auswahl von 50 Filmen aus einem beliebigen Jahr automatisch zu so einem fantastischen Programm? Robert Wienes Furcht mit Conrad Veidt, Tösen från Stormyrtorpet von Victor Sjöström und vor allem Frank Borzages Until They Get Me zählen ohne Zweifel zu den besten Filmen, die ich in Bologna sehen durfte. Und das obwohl kaum einer der 1917er-Filme untertitelt war und die Simultanübersetzungen noch immer so schlecht sind, dass ich im Endeffekt lieber versuche dänische, schwedische oder italienische Zwischentitel zu lesen (es spricht für die Filme, dass sie trotzdem wirken). Until They Get Me muss auch aus einem anderen Grund in diesem Text Erwähnung finden – er spielt in Kanada.
Wie die Zufälligkeiten eines solchen Festivalbesuchs es so wollen, begann mein Bologna-Aufenthalt mit einem Screening von Bill Morrisons Found-Footage-Kompilationsfilm Dawson City. Frozen Time, der sich der Geschichte der namensgebenden Stadt in Nordkanada – einem Zentrum des Gold Rush des späten 19. Jahrhunderts – annimmt. Dawson City war nur der Auftakt für eine überproportionale Menge an Kanada-Western in meinem persönlichen Programm. Neben Borzages Film muss ich an dieser Stelle auch Otto Premingers River of No Return erwähnen: Marilyn Monroe in Cinema Scope und Technicolor und dennoch lebt der Film stärker von der unvergleichlichen Präsenz Robert Mitchums (dem diesjährigen Festival-Posterboy). Nach River of No Return und Blood on the Moon am Folgetag hatte ich mir vorgenommen, zumindest einen Mitchum-Film pro Tag zu schauen. Die Zufälligkeiten wollten es anders, und ich sah zu meinem Bedauern keinen einzigen weiteren.
Aber noch einmal zurück zu den Stummfilmen. In einem längeren Text habe ich bereits über die grandiosen Lumière-Programme geschrieben, die es in Bologna zu entdecken gibt, samt großartigen Einführungen (ich verweise noch einmal auf Aboubakar Sanogo) und wunderbarer Musikbegleitung – einer der Pianisten hat das Musikrepertoire sogar um seine Stimme ergänzt. Diese Aktion war für mich sicher der skurrilste musikalische Moment des Festivals, bei dem Musik eine große Rolle gespielt hat. Bei den Freiluftvorführungen am Piazza Maggiore gab es gleich zwei solche musikalische Höhepunkte: zum einen die Live-Performance von Maud Nelissen & The Sprockets zu The Patsy von King Vidor und zum anderen Monterey Pop von D.A. Pennebaker, der Konzertfeeling aufkommen ließ. Umgeben von hunderten Leuten, die Soundanlage bis zum Anschlag aufgedreht, der Applaus des Publikums am Piazza mischt sich mit dem Applaus des Publikums im Film. Eine überwältigende Erfahrung, die mich zumindest ein wenig mit der Praxis digitaler Projektion von analog entstandenen Filmen versöhnt – auf konventionellem Weg hätte man den 16mm-Film wohl kaum auf der 20 Meter hohen Leinwand am Piazza zeigen können.
Zum Abschluss noch ein paar weitere Eindrücke vom Piazza, die ich einfach erwähnen muss: L’Atalante auf Riesenleinwand wiederzusehen, über Michel Simons Brillanz zu staunen und natürlich über die vernebelten Traumbilder von Jean Vigo, in denen dennoch das „echte Leben“ pulsiert; der Festival-Trailer, in dem Jimi Hendrix zu Because the Night lipsynched und Brigitte Bardot zum gleichen Lied ein Tänzchen wagt. Leider, leider hat er es (noch) nicht auf die gängigen Video-Plattformen geschafft, um ihn hier zu teilen – es wäre ein würdiger Abschluss für einen Text über die Höhepunkte des Festivals.
Ivana Miloš
Every Love Has Its Landscape
Where architecture and summer join, bringing about a hazy, misty awareness of movement and fiction caught in a tête-à-tête lasting several days, there cinema can soak the streets and inhabit a sanctuary upon a hill, overlooking the landscape with the decisive stance of a searcher akin to Sterling Hayden in the opening shots of Johnny Guitar. Here, only a celebratory blink of the eye separates the fear of being caught in a storm and buried by the rubble of an explosion bringing in the future from the feeling of mercifully basking in the past. Have the images invaded and pervaded your consciousness or has the sun gone to your head? Blissfully, there is no way of telling. Bologna’s Il Cinema ritrovato resembles what Hélène Cixous calls an “exploded” reading, with splitters and fragments building up the experience of a festival, a history, and a cinema.
The cinema revealed in Bologna may well be one of many, but its fruits are more alluring than most and whet the appetite with a delicious twist. If a screening such as the 1917 Pathé Frères’ treasure box Les danses enfantines can serve as a foundation of a festival visit, there is much to be discovered lying in wait in the intertwined shadows of arcades. The study of the movement of young ballerinas thus easily metamorphoses into a glimpse of a mysterious forest glade inhabited by nimble, fawnlike dancers with inimitable expressions, secrets, and promises. Chief among them is the promise of motion, made manifest by the rise and fall of feet cushioned upon grass, divulging the magic of dancing bodies with a touch of the camera shutter responsible for the wondrous slow motion of the dancers. Mechanical marvels commingle with revelations of (almost) unknown realities, as the program section of hundred-year-old films featured every year eloquently goes to show. Étienne-Jules Marey’s Place de la Concorde, a 88mm wide and 19m long filmstrip also breathes mystery when projected as it was never intended to be. These early sprouts of an art, their intentions partly uncertain, partly ignored and reassembled for the present, meet and traverse the humanity of Frank Borzage’s Until They Get Me (1917), Tay Garnett’s hyperbolized Destination Unknown (1933) and Tamizo Ishida’s lacework masterpiece Hana Chirinu (1938).
Then there is Arne Sucksdorff’s My Home is Copacabana (1965), riveting in its image-capturing skillfulness, whose spirit exactly matches its sapling protagonists. Somewhere between the sea and the sky, real-life yet fictional favela orphans Lici, Jorginho, Paulinho and Rico reimagine themselves based on the stories they have experienced and related to the director. Their feverish, incredibly fragile existence is led on the Atlantic shore of the beach in Copacabana and the ramshackle shelter they built for themselves on top of Morro da Babilônia. Both of these are at all times open to invasion, unwelcome intervention and the heedlessness of others. The children may and do try to defend them, but failure is pre-inscribed in their actions. My Home is Copacabana portrays the lack of home by gently, but unsparingly sculpting the spaces of its non-existence. But the issue of homelessness does not bring on an edifying, moralizing or pitying perspective; the film remains as clear and respectful as can be towards the children’s struggle to survive. A wild, dancing kite criss-crossing the skies during the opening credits personifies the quicksilver nature of a ruthlessly shaky life as well as the succulence of short-lived delights characteristic for and belonging to a child. When the children get chased away from their hill shack by bandits, they take to sleeping in fishermen’s boats on the beach. Dream meets devastation in the contours that envelop their lithe forms. The framing is flawless. One evening, a ritual is performed for Yemanja, the goddess of the sea, and a fire started on the beach outshines the darkness. A dance carries sand, sea, and laughter back into the skies.
Dance works towards resistance and the construction of two more universes: that of Med Hondo’s West Indies (1979), presented as a part of the Film Foundation’s World Cinema Project and Jean Rouch’s La Goumbé des jeunes noceurs (1964-65), well-concealed in the depths of the Documents and Documentaries section. The most elementally precious element of Hondo’s work (alongside his incomparable introduction) is the opening shot of the lurid setting of his story of relentless migrations between Africa, Europe and the Caribbean, a story of colonization and repression, on a giant slave ship located inside an industrial warehouse. This in itself is a dance; one of choice and skill, of camerawork chosen as the means of storytelling embarked on a ship just as so many of its participants had been throughout history.
Another migration, that of the inhabitants of French Upper Volta to the city of Abidjan in the Côte d’Ivoire, acts as a starting point for Rouch’s incredible engulfment in an association of migrants shaped around the goumbé, a traditional dance they rely on in the desire to maintain a community and ensure mutual solidarity and assistance in a foreign land. While the secretary-general reads out the statute and the names and occupations of the chief members of the association, each is presented in a series of perfectly rounded portraits, miniatures of every worker at their workplace and their home. The film flows and feels like a simple, devotedly woven cloth – it wraps itself around its participants purposefully, letting them breathe as freely as they wish. If humanity could take on the unostentatious garb of these images, of their fabric and tone, the promises of movement made a hundred years ago could come to life with true vigour. Hence, Rouch shows the goumbé in motion, in splendour, as a halo of brightness on fire. And if the dance of cinema is going to catch fire again, it better develop the radiant rupture of triumphant life and spread its wings in the night. Nobody will strike at a firefly in the darkness.
Valerie Dirk
Zeitreisen auf der Piazza Maggiore: Obwohl ich bereits das dritte Jahr zum Cinema Ritrovato fahre, habe ich heuer zum ersten Mal die Kinomagie der Piazza Maggiore für mich entdeckt, auf der ich das Kino, noch intensiver als sonst, als Zeit- und Raummaschine erfahren habe.
Mit A Propos de Nice von Jean Vigo (nach Place de la Concorde von Etienne-Jules Marey) im Vogelflug über das Nizza von 1930 und mitten hinein in die Stadt während des Karnevals. L’Atalante fährt auf Hochzeitsreise durch nordfranzösische Kanäle und sucht das Bild der Geliebten (Dita Parlo !) im Wasser. Während Johnny Guitar von Nicolas Ray mit der großartigen Joan Crawford (die Farbe ihrer Hemden, ihre Haltung) und ihrer Gegenspielerin Mercedes McCambridge, spaziere ich von der ersten in die letzte Reihe. Kino kann man (zumindest kurzzeitig) auch im Gehen genießen. Monterey Pop von D. A. Pennebaker entführt die ZuschauerInnen in das Kalifornien von 1968, also in eine Zeit, in der die Geschichte der Popmusik und des direct cinema geschrieben wird. Sweet nostalgia schwemmt über die Piazza, denn das ist die Musik, mit der ich und viele andere aufwuchsen (die Schallplatten des Vaters). Totale Bewunderung für die Performances von Otis Redding, The Who, Janis Joplin und Grace Slick von Jefferson Airplane. Jimmy Hendrix enttäuscht dagegen, er ist zu vollgedröhnt. Die missbrauchte Gitarre hat gut daran getan, nicht flammend zu lodern. The Patsy von King Vidor erwärmt durch die wunderbare Komik der Marion Davies und dem live Jazz-Orchester. Es ist meine letzte Reise auf der Piazza.
Med Hondo: Der afrikanische Regisseur ist meine persönliche Neuentdeckung. Ab Afrique sur Seine und Soleil Ô hänge ich am Köder. Verhandlungen afrikanischer Identität in Frankreich, dabei ohne schwarz-weiß-Malerei, mit Humor und zugleich tiefster Depression. Realistisches schwarz-weiß, sehr direkt, Straßenszenen und ein bißchen früher Fassbinder. Ich glaube zu wissen, was ich bei den anderen beiden Filmen zu erwarten habe. Und werde getäuscht: West Indies, ein knallbuntes Musical im Bauch eines Schiffs, rhythmische Choreografien, Zeitsprünge vom 16. Jahrhundert in die Jetzt-Zeit (1979), Migration und Sklaverei werden auf spannende Weise zusammen gedacht. Sarraounia wiederum ganz anders. Ein Kriegsfilm über den Widerstand einer nigerianischen Stammesführerin, die gegen die Eroberungszüge der Franzosen und die Intrigen der afrikanisch-muslimischen Stammesführer Stand hält. Cinemascope, Farbe, Musik, Wüste. Ein Epos. Med Hondo ist auch zu Gast. Oft den Tränen nah, so determiniert in seinem Glauben an eine Gemeinschaft, an die Anderen, an das Kollektiv, an den Sozialismus/ Kommunismus und so ablehnend gegenüber einem Kino des l’art pour l’art.
En plus: Helmut Käutners Ludwig II und die Sprache O. W. Fischers. Douglas Sirk und das humanistisch-sakrale Melodrama (The Magnificent Obsession). Die Schönheit, Tragik und Aufrichtigkeit Rock Hudsons. Caffè, Apperitivo und holpriges Italienisch. Frühmorgens Universal Filme mit „bad-sad-gal“ Mary Nolan: Outside The Law und Young Desire. Letzterer rührt zu Tränen, so hoch schwebt sie empor, so schnell fällt sie.
Sebastian Bobik
Da dies mein allererstes mal beim Il Cinema Ritrovato war, muss ich natürlich als erstes Highlight das Festival an sich hervorheben. Ein schöner Ort, gutes Wetter, ein tolles Programm… Ich kann eigentlich nur gut von diesem Festival sprechen. Natürlich sind die Konditionen in manchen Kinos etwas kompliziert (wenn die Klimaanlage mal ausfällt kann der Kinobesuch schon recht hart werden) und die Sprachbarriere ist noch ein Problem, an deren Lösung gearbeitet werden muss, doch das alles wird locker wieder wett gemacht durch die wunderbare Atmosphäre vor Ort.
Bevor ich nun meine Filmhighlights aufliste sollte ich noch kurz ein bisschen Platz für den Festivaltrailer finden. Der hat dieses Jahr besonders begeistert und man kann nur hoffen, dass sich das Festival entschließt ihn im Internet zu veröffentlichen.
Nun zu meinen persönlichen Höhepunkten, die ich hier in der Chronologie auflisten werde, in denen ich die Filme gesehen habe:
Gleich am Abend meiner Ankunft begab ich mich noch zum Piazza Maggiore um Jean Vigos wunderbaren Film L’Atalante zu sehen. Ist Michel Simon hier sogar besser, als in Boudu sauvé des eaux von Jean Renoir? Doch nicht nur Michel Simon ist wunderbar bei Vigo: der ganze Film ist voller traumhafter Momente. Sei es die berühmte Sequenz unter Wasser, oder die erste Kamerafahrt über das Schiff (ein Moment der mir Gänsehaut bescherte). Dennoch war L’Atalante nicht mein größtes Highlight an dem Abend. Davor wurde nämlich A Propos De Nice, der ebenfalls von Vigo ist, vorgeführt. Ich war ohne jegliche Information über diesen Film hingegangen und was mich überwältigte war eine Freiheit, die man nicht mehr oft in Filmen sieht. Besonders beeindruckt hatte mich eine simple Bewegung: Ein Gebäude neigt sich um 90 Grad. Es ist eine Bewegung, die man sonst nur in verspielten Amateuraufnahmen sieht, die auf Camcordern gedreht wurden. Eine Bewegung, die einem in einer Filmschule sofort ausgeredet wird, und eine Verspieltheit ausdrückt, die man oft vermisst. Was darauf folgte, war ein mit herrlichen Aufnahmen gespicktes Portrait von Nizza. Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich einen Fluss von Bildern: Eine Frau auf einem Sessel, verschiedene Outfits an ihr werden überblendet bis sie plötzlich nackt ist, eine bizarre Parade und die schwingenden Beine von Frauen, die in Zeitlupe tanzen. Gleich am folgenden Abend sah ich ebenfalls auf dem Piazza Maggiore Johnny Guitar von Nicholas Ray. Auf einer riesigen Leinwand mich unglaublichen Farben und großem Publikum war der Film einfach ein wunderbares Erlebnis.
Am Tag darauf entdeckte ich Hana Chirinu von Tamizo Ishida. Dessen Entdeckung ist für mich wohl der absolute Höhepunkt meiner Zeit in Bologna. Tage später sah ich den ebenso wunderbaren Mukashi No Uta ebenfalls von Ishida. Beide Filme wurden in schlechten Kopien gezeigt. Das Bild war zum Teil unerkennbar dunkel. Trotzdem konnte dies den Filmen kein bisschen schaden. Ishida ist ein Regisseur, der zumindest in diesen beiden Filmen mit wunderbaren Einsichten, Szenen, Figuren und Beziehungen dieser überrascht, und jemand, der hoffentlich bald auch jenseits von Bologna wiederentdeckt wird. Die Welt verdient es, diese wunderschönen Filme sehen zu können.
Ein weiteres Highlight, das auf der Piazza Maggiore extrem an Erfahrungswerten gewann, war Monterey Pop von D.A. Pennebaker. Dieser war selber anwesend um seinen Film einzuführen und sichtlich gerührt, ihn vor so großem Publikum zeigen zu dürfen. Im Film gibt es großartige Auftritte (vor allem Janis Joplin, Otis Redding & Jimi Hendrix). Es herrschte eine mitreißende Stimmung auf der Piazza und Applaus, bei dem man nicht wusste, ob er eigentlich im Film, oder auf der Piazza stattfand.
Der letzte Film auf dem Festival, den ich gesehen habe war Decasia von Bill Morrison. Es war schon am späteren Abend und ich war ziemlich müde. Als diese Bilderflut begann auf mich herabzuregnen, wurde ich sehr schnell wieder wach. Es ist schwer die Erfahrung des Filmes in Worte zu fassen, er ist einfach ein Erlebnis. Ein Film, den man über sich kommen lassen muss, wie eine Welle. Er kann einem das Gleichgewicht nehmen, doch wenn man sich mit ihm gehen lässt ist es eine unvergessliche Erfahrung. Für mich war es der einzige Horrorfilm, den ich auf dem Festival sah.
Andrey Arnold
Mädchen in Uniform: Die sensible Manuela wurde vom preußischen Mädchenstift kaputtdiszipliniert. Jetzt schleppt sie sich langsam das Stiegenhaus hinauf, will sich von oben in die Tiefe stürzen. Doch als sie kurz davor ist, schleudern ihr ihre Mitschülerinnen, die sich ein paar Stockwerke tiefer scharen, ihre geballte Empathie entgegen: In einer koordinierten Bewegung recken sie die Arme in die Luft und rufen „Nein!“ (oder dergleichen). Das Zielobjekt wird von dieser kraftvollen Gemeinschaftsgeste erfasst und zur Besinnung gebracht, wie von Zauberhand. Es ist ein starker Moment, eine hochgradig künstliche Pathos-Pfeilspitze, die die Kollektivromantik und den Widerstandsgeist des Films perfekt auf den Punkt bringt – aber auch dessen unheimliche, präfaschistische Vision kathartischer Gruppenekstasen.
Johnny Guitar: Ich habe diesen Über-Film in Bologna zum zweiten Mal gesehen, aber eigentlich zum ersten Mal. Seine unfassbare Kraft ist mir erst hier richtig bewusst geworden. Andere können besser ausdrücken, was es mit ihr auf sich hat. Als Emma gegen Ende von Vienna erschossen wird, wurde in einigen Ecken gejubelt. Ich kenne diese Art von Jubel und will ihn im Kino niemandem vergällen. Dennoch hoffe ich, dass die Jubelnden den Film noch öfter sehen. Und irgendwann nicht mehr jubeln, möglicherweise.
West Indies: Schwarze Komplizen der französischen Kolonialmacht führen weiße Touristen durch die Karibik (ein buchstäbliches Sklavenschiff, weil in diesem Film alles beim Namen genannt wird) und preisen die örtlichen Attraktionen. Stolz verweisen sie auf die willfährige Arbeiterschaft, die emsig mit ihren Macheten hantiert. Ein Schwenk fokussiert ihre Choreografie (weil dieser Film auch ein Musical ist) und verweilt darauf – gerade lange genug, um sich vorzustellen, dass die tanzenden Klingen keine Werkzeuge sind, sondern Waffen.
Bildnis einer Unbekannten: Ein Film voller Freuden (und Ambivalenzen), nicht zuletzt dank des Schauspiels von Ruth Leuwerik und O.W. Fischer. Aber auch ein Film, der sehr stark über Sprache funktioniert und über den Dialog. Und bei mir (wieder einmal) die Frage aufwarf, inwieweit sich Filme „übersetzen“ lassen – und wie viele Fehlurteile gefällt wurden, weil jemand (ich zum Beispiel) nicht imstande war, die Eigenheiten eines spezifischen Idioms wahrzunehmen. Natürlich muss man nicht Deutsch können, um Käutners Film zu genießen. Und natürlich können einem trotz (oder wegen) sprachlicher Unkenntnis Dinge auffallen, die einem Native Speaker (oder Beinahe-Native-Speaker) verschlossen bleiben. Aber wird man das einzigartige Wechselspiel zwischen Gestik, Mimik, Rhythmus, Duktus, Timbre, Inhalt, Charakter, Wortwahl und Pointiertheit, mit der Fischer an einer Stelle sagt: „Ich bin gar nicht reizend, ich bin reiz-bar“, mit dieser fabulösen Pause zwischen den Silben des letzten Wortes, wirklich zu schätzen wissen? Bei der schönsten Überblendung des Films stellt sich diese Frage jedenfalls nicht: Ein Porträt der „Unbekannten“ verbrennt langsam im Kamin und verschmilzt mit einer Nahaufnahme ihres Gesichts, das eines der tollen Lieder des Films singt: „Ist denn mein Mund ein Vagabund, der ewig wandern muss, von Kuss zu Kuss…“
Arkasha zhenitsya: Die lustigste russische Stummfilmkomödie, die ich je gesehen habe (ich habe noch nicht viele russische Stummfilmkomödien gesehen). Ein Mann betrinkt sich am Vorabend seiner Hochzeit. Am nächsten Tag die Ausnüchterungskur. Er dreht den Wasserhahn auf, um sich frischzumachen – und schläft promt unter dem Becken ein. Das Wasser läuft über. Er glaubt, es regnet, schlägt den Kragen hoch. Später: Ein Spaziergang im Park – mit Frack, Zylinder und Gehstock (die Bourgeoise war schon vor der Oktoberrevolution Zielscheibe des Spotts). Schläft im Stehen ein, der Stock ist notdürftige Stütze. Lausebengel stoßen sie weg. Pardauz! Wer jemals einen über den Durst trank und am nächsten Tag zeitig aufstehen musste, weiß: It’s funny cause it’s true.
Die kleine Veronika: Ich habe mir die Projektion des Films auf der Piazetta Pasolini leider nicht angesehen. Aber ich habe die betörende Musikbegleitung von Florian Kmet gehört, während ich abends im Hof der Cineteca saß, umgeben von neuen und alten Bekannten, einen schönen Festivaltag im Herzen. Und das reicht.
Rainer: Lass uns gleich ins kalte Wasser springen. Es gibt in La nuit américaine mehrere Szenen, in denen sich Cast und Crew in einen freien Nachmittag oder Abend verabschieden. Der Schauspieler Alphonse, der im Film von Jean-Pierre Léaud gespielt wird, sagt seinen Kollegen dabei jedes Mal ab und geht lieber allein ins Kino. Eigentlich ein running gag, aber als Kinobegeisterter findet man sich denke ich automatisch in dieser Figur wieder. Es ist prinzipiell sehr charmant von Truffaut die cinephile Schrulligkeit – hier, aber auch in anderen Szenen – zu würdigen, aber so sehr ich mich mit diesen Figuren und Momenten identifizieren kann, so sehr erschöpft sich diese Geste aber auch, wenn ich länger darüber nachdenke.
Sebastian: Du hast natürlich recht. So charmant dieser Witz ist, es wirkt manchmal fast so, als ob Truffaut versucht seine Cinephilie zu beweisen. Dass gerade Jean-Pierre Léaud, diesen Satz immer wieder sagt, ist auch auffallend. Obwohl Truffaut selbst in diesem Film spielt, erscheint Léaud immer noch wie eine Art Alter Ego. Aber irgendwie ist das Ganze sehr passend für den Film. Allgemein entwirft er ein Bild, das vor allem behauptet, dass alle Filmschaffenden absolut verrückt nach Kino sind. Es gibt ja auch die Szene, in der Truffaut selbst verschiedenste Bücher über große Filmemacher (Bunuel, Godard, Dreyer…) zeigt. In einer Szene in der nicht gedreht werden kann, und deshalb Hintergrundgeräusche für den Film gemacht werden, muss der Tonassistent darauf hinweisen, dass sich bitte niemand über Filme unterhalten soll. Ob das Bild realistisch ist, darüber kann man wohl streiten. Es scheint natürlich sehr utopisch, andererseits habe ich vor kurzem ein Interview von Kogonada gehört, in dem er erzählt, wie überrascht er war, dass Johnnie Cho ein riesiger Truffaut-Fan ist (wie passend), und das einer seiner Produzenten, der bei Twilight mitgewirkt hat, ein riesiger Ozu-Fan ist. Vielleicht ist die Darstellung der Filmlandschaft in La nuit américaine gar nicht so realitätsfern, wie man zuerst denken mag.
Außerdem passt das Ganze (auch wenn es schon sehr dick aufgetragen ist) ganz gut zu einem der Themen des Filmes. Truffaut scheint zu behaupten: Film ist gegenüber dem wahren Leben zu bevorzugen.
Rainer: Es geht mir da gar nicht um Realitätsnähe oder -ferne, und auch nicht darum, ob ein Filmemacher seine Vorbilder so offensiv nach außen tragen sollte, sondern darum, was er daraus macht. Er macht das ja zunächst sehr raffiniert: ein Film über das Filmemachen, der aber nicht den Anspruch erhebt, einen authentischen Blick hinter die Kulissen eines Filmdrehs zu werfen, sondern eine Art Parallelwelt konstruiert. Diese Welt setzt sich aus diversen anekdotenhaften Episoden zusammen, bei denen auch ohne viel Fantasie vorstellbar ist, dass sie sich tatsächlich hätten zutragen können. Die Frage, die ich mir stelle, ist nur, wo darin die Liebeserklärung an das Kino aufhört und wo eine narzisstische Liebeserklärung an sich selbst beginnt. Das ist jetzt gar nicht als rhetorische oder Suggestivfrage gemeint, sondern ich stelle sie mir tatsächlich. Ich mochte den Film auch, aber irgendetwas daran, lässt mich doch sauer aufstoßen.
Sebastian: Wenn man dem Film eines vorwerfen kann, dann wahrscheinlich das. Truffaut spielt selber den Filmregisseur und lässt seine Figur keine böse Tat vollbringen. Er ist oft gestresst, vielleicht sogar etwas überfordert (sein Kontakt mit den Schauspielern ist immer unbeholfen), dennoch immer gutmütig. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, dann nur, dass er einen schlechten Film macht. Auch die Tatsache, dass er die Figur zumindest scheinbar biographisch anlegt (die Episode mit dem Stehlen von Filmbildern in seiner Kindheit) lässt das ganze als verherrlichendes Selbstbild wirken.
Die Liebeserklärung an das Kino ist eine Liebeserklärung an den Filmschaffenden. Dieser wird von Truffaut gespielt. Ob der Film weniger selbstverherrlichend wirken würde, wenn Truffaut nicht die Rolle des Regisseurs selbst übernommen hätte?
Rainer: Vielleicht hilft es, sich genauer anzusehen, welcher Film da eigentlich gedreht wird. Ein junges Ehepaar reist zur Familie des Mannes, um die Schwiegertochter vorzustellen. Die brennt aber schließlich mit dem Vater durch. Der Cast ist international, die Finanzierung ebenfalls und allgemein scheint der Film eher ein mittelgroßes Allerweltsprojekt eines Studios zu sein, als ein Autorenfilm. Truffaut dreht hier einen Film im Film, den er auf diese Weise so wohl nie gedreht hätte, aber in einem System und in einer Größenordnung, die den Hollywood-Produktionen nahekommt, die seine cinephile Generation in Frankreich sehr stark geprägt hat. Umso mehr ich darüber nachdenke, umso weniger sehe ich den Film vor lauter Verbeugungen.
Die Vermischungen zwischen tatsächlicher, imaginierter und vergangener Produktionsrealität, zwischen Parodie und Loblied, zwischen Verherrlichung des Autorengenies und seiner Dekonstruktion sehe ich dann doch etwas problematisch, denn sie verleihen dem Film keine Brüchigkeit, sondern nehmen ihm ganz einfach seine Transparenz, seine Ehrlichkeit. Mit Ehrlichkeit meine ich, wie gesagt, nicht eine vermeintliche Realitätsnähe, sondern die Frage, ob sich der Film seinem Publikum auf Augenhöhe annähert.
Sebastian: Ich verstehe schon, welche fehlende Ehrlichkeit du da ausmachst. Der Film scheint sich jeglicher Haltung zu entziehen. Als Godard Truffaut für diesen Film kritisierte, nannte er ihn einen Lügner. Vielleicht ist Truffaut gar nicht so sehr ein Lügner. Die Frage ist, ob der Film nur ein naives Loblied aufs Kino ist, oder ob mehr dahinter steckt. Allerdings ist das unmöglich auszumachen. Der Film hat im Endeffekt keine Haltung.
Das Einzige, was ich ausmachen kann, scheint die Behauptung zu sein, dass Filmemachen eine Tugend ist. Dabei ist egal, ob der Film gut, oder schlecht ist. Hauptsache man macht Filme. Gesund erscheint mir die Haltung nicht. Dennoch ist sie die einzige, die ich stützen kann. Truffaut selbst sagt im Film „Cinema is King“, alles andere ist irrelevant. Wenn Filme wirklich „wie Züge in der Nacht“ sind… Wohin fährt dieser Zug?
Rainer: Ich würde glaub ich nicht ganz so weit gehen, wie Godard, aber gerade wenn man sich ansieht, wie konsequent Godard in seinen Filmen eine Haltung zur Welt artikuliert, dann lässt La nuit américaine so eine Haltung schon vermissen. Denn, wie du sagst, interessiert sich der Film weniger für die Welt, als für eine filmische Sphäre, die nach ihren eigenen Regeln abläuft und ganz gut ohne die Welt zurechtkommt. Diese Fantasie ist natürlich sehr schön und verführend – gerade für jemanden, der das Kino liebt –, aber sie ist auch gefährlich.
Es tut mir fast etwas leid, dass ich so hart mit dem Film ins Gericht gehe, weil es gibt ohne Zweifel viele, viele Filme, die in vielerlei Hinsicht problematischer sind. Der Film hat auch mich bis zu einem gewissen Grad verführt, aber in Retrospektive fällt es mir ein wenig schwer zu akzeptieren, dass diese Verführung kaum einer Reflektion standhält.
Sebastian: Man kann dem Film vielleicht zugutehalten, dass er selber Bescheid weiß. Darüber, wie sehr er sich der Welt verschließt. Er ist wie eine Einladung diese falsche Welt zu akzeptieren. Alles weist auf diese Falschheit hin. Der Titel „Die amerikanische Nacht“ weißt auf ein filmisches Verfahren hin, bei dem Nachtszenen untertags gedreht werden mit einem besonderen Filter. Es könnte also eine Einladung zu einer Abwendung von weltlichen Problemen sein. Genauso wie eine Filmcrew sich ein paar Wochen zusammen zurückzieht, um einen Film zu drehen (mit ihren eigenen Konflikten und Problemen), so ist dieser Film ein Rückzug für zwei Stunden.
Das ist natürlich legitim. Truffaut beschränkt sich in gewisser Weise in diesen zwei Stunden nichts anderes zu tun, als das Kino zu preisen. Es geht um Freude, um Emotionen und für Truffaut um einen Sinn fürs Leben.