Diagonale 2019: Avantgarde-Rundschau

ORE von Claudia Larcher

Wie immer habe ich meinen persönlichen Diagonale-Spielplan rund um die Programme des „Innovativen Kinos“ (wie hier jene filmischen Formen heißen, die sich weder sauber als Spielfilm, noch als Dokumentarfilm einordnen lassen – innovativ sind sie nicht immer) aufgebaut. Und trotzdem eines dieser Programme verpasst. Da diese „Rundschau“ keinen Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit erhebt, sondern (ohnehin subjektive) Wahrnehmungen präsentieren will, störe ich mich aber nicht weiter daran.

Ich habe schon im Rahmen früherer Diagonale-Ausgaben darüber geschrieben – und ich bin bei weitem nicht der einzige, der diese Meinung teilt –, dass Österreich als Filmland vor allem im Avantgarde-Bereich überdurchschnittliche Leistungen erbringt. Das hat sich auch 2019 nicht groß geändert. Problemlos ließe sich das untenstehende „Best of“ um zusätzliche Titel erweitern, ohne dass die Qualität massiv abfallen würde.

animistica von Nikki Schuster

animistica von Nikki Schuster

Unstet und sprunghaft schleicht die Kamera über den Boden. Die Pflanzen- und Tierwelt der mexikanischen Wüste zeigt sich in voller Pracht. Ornamentale Strukturen schmücken die Leinwand, sie sind nicht von menschlicher Hand geschaffen. Aus nächster Nähe werden hier die Oberflächen organischen Lebens (und Todes) untersucht. Was aus der Ferne als kompaktes, glattes Ganzes erscheinen mag, entpuppt sich durch die Lupe als porös und zerfurcht. Dünne Stacheln werden zu monströsen, furchterregenden Gebilden, das Fell von Säugern wird zu einem ruppigen Teppich. Begleitet werden diese Bilder von einem Sounddesign, dass ihnen eine weitere Dimension hinzufügt. Die Bewegungen der Kamera entlang der wundersamen Oberflächenstrukturen werden durch den Ton zum Horrortrip. Als würde sich ein mittelalterlicher Krieger am Ende einer blutigen Schlacht über Leichenberge kämpfen, wird der suchende Blick der Kamera von Knack- und Matschgeräuschen zu einer Studie des Ekels umgedeutet. Die Natur erscheint alles andere als unschuldig. Sie entblößt ihre hässlichen Seiten, zeigt ihre furchterregendsten Formen. animistica ist kein wissenschaftlich-objektiver Blick durch das Mikroskop, kein Naturfilm, der seinem Zuseher neue Perspektiven auf die Welt näherbringen will, er ist ein Test der Wahrnehmung, der zur Diskussion stellt, ob Schönheit und Grausamkeit nicht zwei Seiten einer Medaille sind.

Antarctic Traces von Michaela Grill

Antarctic Traces von Michaela Grill

Die Durchlässigkeit der verschiedenen filmischen Kategorien hat zugenommen, seit Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber die Diagonale leiten. Der zunehmenden Menge an dokumentarisch-fiktionalen Hybriden und essayistisch-experimentellen Formen kommt eine solche Auflösung der starren Grenzen entgegen. So wird Antarctic Traces von Michaela Grill im Katalog etwa als Dokumentarfilm geführt, aber in einem Programm des „Innovativen Kinos“ zusammen mit Avantgarde-Filmen gezeigt. Hier ist Grills Film sehr gut aufgehoben. Ein filmischer Essay über die South Georgia Islands und vor allem über den Walfang, der dort in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrieben wurde und beinahe zur Ausrottung der ganzen Spezies geführt hat. Eine Frauenstimme liest Exzerpte aus Logbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen und Erfahrungsberichten zum Thema. Dazu sieht man die Ruinen der verlassenen Walfangstationen an der Küste, die von der Natur (namentlich von Robben, Seeelefanten und Pinguinen) wiedererobert wurden und Fotografien des Meeres. Eindringlich und bildlich wird die Jagd auf die Riesen der Meere geschildert, ohne dass je Fotos oder Bewegtbilder von Walfängern zu sehen sind. Erst zu den Credits bieten historische Fotografien die Gelegenheit des Abgleichs der Schilderungen mit konkreten Bildern. Man ertappt sich dann beim Gedanken, dass es diese Bilder gar nicht gebraucht hätte. Die Wortgewalt der Erzählung vermag es, einen Film zu tragen (Duras wird in diesem Text auch noch Thema sein).

Armageddon von Kurdwin Ayub

Armageddon von Kurdwin Ayub

Gäbe es bei der Diagonale eine eigene Programmreihe für Animationsfilme, wäre Armageddon dort wohl am besten untergebracht. Da Kurdwin Ayub seit Jahren zu den Konstanten des „Innovativen Kinos“ gehört, hat man ihren doch recht konventionellen Animationsfilm Armageddon ebenfalls dort geparkt. Obwohl ich diese kuratorische Entscheidung nicht ganz nachvollziehen kann (wäre er nicht besser in einem Kurzspielfilm-Programm aufgehoben), gibt es mir immerhin Gelegenheit an dieser Stelle darüber zu berichten. Denn das Ergebnis – unabhängig von seiner leidlichen Kategorisierung – überzeugt durch Humor mit Stirnrunzelfaktor. Die Ausgangssituation ist einfach erklärt: Wir schreiben das Jahr 2138, die beiden Wiener Vampire Anton und Franz sitzen auf einer Couch und werden interviewt. Sie berichten von der Islamisierung des Landes und von der unterschiedlichen Blutqualität verschiedener Ethnien (Asiatinnen sind am begehrtesten, treten sie unseren Breiten doch nur in Gruppen auf). Gefährlich nah am Abgrund der political uncorrectness bewegt sich dieses Gespräch. Jede Pointe lässt einen unwillkürlich zusammenzucken: Es geht um Geschlecht, Ethnien, Religion – ist Lachen darüber überhaupt erlaubt? Das Fazit: Anton und Franz sind zwar keine Puppen, sondern aus Knetmasse geformt, doch was vor 40 Jahren bei Waldorf und Statler funktioniert hat, ist heute ungebrochen effektiv.

Cavalcade von Johann Lurf

Cavalcade von Johann Lurf

Eine Art Wasserrad in einem Bach. Es ist Nacht. Das Rad erwacht zum Leben. Immer schneller und schneller dreht es sich, bis es schließlich wieder zum Stillstand kommt. Dazwischen ein Test menschlicher Wahrnehmung und der Leistungsfähigkeit des Kinoapparats. Denn dieses Wasserrad ist kein normales Wasserrad, sondern mit verschiedenen visuellen Elementen besetzt und mit mathematischer Präzision ausgetüftelt. So scheinen die Schaufelräder ab einem gewissen Tempo stillzustehen (wenn sich ihre Umdrehungsanzahl mit der Aufnahmegeschwindigkeit der Kamera deckt), der Ring aus Farbfelder im Inneren verändern je nach Drehgeschwindigkeit scheinbar ihre Anordnung und die Spiralen verändern scheinbar ihre Drehrichtung. Man hätte daraus einen anschaulichen Lehrfilm über optische Wahrnehmung machen können, Lurf hat einen Abenteuerspielplatz für die Augen angelegt.

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

Rainer Kohlbergers Filme zählen zum außergewöhnlichsten, was das österreichische Kino zu bieten hat. Es ist eine Mischung aus technologischer Konzeptkunst und irren Herausforderungen an die menschliche Wahrnehmung. Mithilfe von Algorithmen verformt Kohlberger das Bild bis zur totalen Unkenntlichkeit. Mal sieht das aus wie ein TV-Testbild, mal wie eine fehlerhafte VHS und mal entsteht originär digitale Pixelkunst. Dazu dröhnende elektronische Musik, die sich nahtlos an den Rhythmus der Bilder schmiegt. Im spezifischen Fall von It has to be lived once and dreamed twice wird die Bild-Ton-Wucht durch ein Voice-over ergänzt. Letztlich wirkt die Stimme aber eher störend, verhindert das Versinken in Bild und Ton, lässt nicht zu, dass man sich voll und ganz auf das Wahrnehmungsexperiment konzentriert. Und zugleich lassen es die mächtigen Bildkompositionen nicht zu, dass man sich auf den Text konzentriert. Überfülle kann höchst befruchtend sein, hier entkräftet sie sich selbst.

Muybridge's Disobedient Horses von Anna Vasof

Muybridge’s Disobedient Horses von Anna Vasof

Anna Vasofs Muybridge’s Disobedient Horses ist die Dokumentation verschiedener para-kinematografischer Formen. Versteht man Kino und Film als etwas, das über die Grenzen des Kinosaals und die Versuchsanordnung Projektor-Leinwand-Publikum hinausgeht, dann handelt es sich hier quasi um einen Film im Film. Vom Daumenkino über das technisierte Daumenkino (bemalte Geldscheine in einem elektrischen Zählgerät) zum aufwendigeren Versuchsaufbau mit Pappbechern, Taschenlampen und Pendeln, setzen sich hier unbelebte Bilder in Bewegung (oder werden in Bewegung gesetzt). Die Kamera imitiert dabei nur die Rolle des menschlichen Auges und fängt diese Bewegung ein. Und verdoppelt somit das Spiel mit Licht, Zeit und Bewegung. Auf den ersten Blick wirkt das alles einfach und simpel – nicht mehr als ein show reel der eigenen Basteleien. Und doch mehr als das. Denn die Vorführung der Apparaturen vor dem Kameraauge werden verdoppelt durch die Vorführung des Films vor dem Menschenauge. Ein filmisches Impulsreferat über Wahrnehmung und Dispositivtheorie.

ORE von Claudia Larcher

ORE von Claudia Larcher

ORE beginnt in höchster Höhe. Aus der Vogelansicht wirft die Kamera einen Blick auf das weiter unter ihr liegende Erzabbaugebiet. Langsam wandelt sich der Drohnenblick in einen (unmöglichen) Kameraschwenk. Nahtlos geht die Vogelperspektive in einen irdischeren Blick auf die Maschine der Bergbaulandschaft über. Ebenso nahtlos bahnt sich der Blick schließlich seinen Weg von der Oberfläche tief ins Innere des Bergs. In den Stollen. In nur sechs Minuten von höchsten Höhen in tiefste Tiefen.

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Ein gutturaler Vortrag eines scheinbar dadaistischen Gedichts: „From the stomach in your chest through your throat to the world.” Immer und immer wieder wird dieser Satz vom etwas abgerissenen Mann in Rising wiederholt. Dabei filmt er sich mit einer Videokamera selbst. Was dieser Satz bedeuten soll, wird erst nach einiger Zeit deutlich. Er ist durchaus buchstäblich zu verstehen. Dann nämlich steckt sich der Protagonist den Finger in den Hals und erbricht. Und erbricht wieder. Bis man vor lauter Dreck auf der Linse kaum mehr etwas erkennt. Dazwischen manifestartig die Erklärung dazu. Das Kotzen soll das Sprechen als Kommunikationsmittel ersetzen. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei. Man weiß nicht so recht, was man mit dieser Performance anfangen soll. Im Publikum hat sie gleichermaßen für Gelächter als auch zu geekelter Ablehnung geführt. Eine Reaktion ist dem Film in jedem Fall gewiss.

Victoria von Lukas Marxt

Victoria von Lukas Marxt

Ein Ford Crown Victoria ist der titelgebende Protagonist dieses einstündigen Films von Lukas Marxt. Er durchquert das kalifornische Hinterland. Weite, eintönige Steppen, durchbrochen nur von Eisenbahnschienen. Schier endlose Kolonnen von Güterzügen durchtrennen die gleichsam endlose Landschaft und bilden einen visuellen Referenzrahmen, den sonst nur der verlorene, fahrerlose PKW liefert, der immer wieder auf oder neben der Straße die Landschaft durchzieht. Begleitet wird die Fahrt dieses ungewöhnlichen Protagonisten von Untertiteln, die Filmklassikern entnommen sind und eine humoristische Annotation des Geschehens liefern. Irgendwo an der Schnittstelle von Landscape Art, Structuralist Film und Film-Essay bewegt sich Marxt durch Kalifornien. Und obwohl man anhand der obigen Beschreibung meinen könnte, dass sich der Versuchsaufbau schnell erschöpft, erzeugt er einen immens starken Sog. Die verschiedenen textuellen Ebenen erleben gerade genug Abwechslung, dass es immer etwas Neues zu sehen oder hören gibt, wenn das Bildfeld erschöpft scheint. Ein bisschen (und nicht nur wegen der Züge) erinnert Victoria an die früheren, analogen Arbeiten James Bennings (als dieser noch nicht so sehr von seiner eigenen künstlerischen Brillanz eingenommen war).

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

Man denkt sofort an Lumière: Die Explosion eines Fabriksgebäudes wird zeitlich umgekehrt. Aus der Implosion richtet sich das Gebäude wieder auf. Die Gebäude, um die es sich handelt, sind Anlagen von Kodak in Rochester, New York. Bei den Aufnahmen handelt es sich um Youtube-Clips von der Sprengung von Teilen des Werks im Rahmen der Konsolidierungsmaßnahmen des Unternehmens. Nur mit Ach und Krach hat Kodak den unaufhaltsamen digital turn in der Filmindustrie überlebt. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen dieser Videos war das Überleben keineswegs gewiss. Die Ungewissheit über die Zukunft des Kinos und des Analogfilms und die Erinnerung an seine frühesten Gehversuche gehen hier Hand in Hand. In kurzer und recht simpler Form errichtet Viktoria Schmid hier ein turmhohes Gedanken- und Referenzgebilde.

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

Aufnahmen aus dem Zugfenster gehören zu den Konstanten der Filmgeschichte. Siegfried A. Fruhauf liefert eine doch recht ungewöhnliche Variation dieses Motivs. Er zerschneidet die Aufnahmen der Zugfahrt und ordnet sie neu an, lässt sie tanzen im Takt der gleichnamigen Schlagzeugkomposition von Jörg Mikula. Der Wirbel der Zugfahrt-Bilder steigert sich bis hin zum Fast-Flicker. Umso schneller, desto mehr scheint Fruhaufs Ästhethik in ihrem Element. Und bald geht es nicht mehr um Züge, sondern um das Blitzen und Blinken der Bilder auf der Leinwand.

Neregių žemė von Audrius Stonys

Honourable Mention: Mavericks

Es ist fast unfair, diesen Vergleich anzustellen, aber das beste Programm „Innovativen Kinos“ wurde gar nicht in dieser Programmschiene gezeigt. Im Rahmen der Personale zu Ludwig Wüst, bekam der Filmemacher auch Gelegenheit eine Carte Blanche zu programmieren. Das Resultat war eine Reihe von vier fulminanten mittellangen Filmen, die jeder für sich das meiste, was sonst so am Festival gezeigt wurde, mit Leichtigkeit in den Schatten stellte: ob das betont unsaubere Porträt des Zeitungsboten Bobby in Robert Franks Paper Route, die dystopisch anmutenden Industriebrachen in Audrius Stonys‘ depressiv-melancholischem Neregių žemė, die philosophische Bild-Text-Juxtaposition in Marguerite Duras‘ L’homme atlantique oder Artavazd Peleshians große Armenien-Symphonie Menq. Selten war auf der Diagonale 2019 ein klareres Bild filmischer Haltung zu erkennen, selten wurde das Publikum so auf den Prüfstand gestellt – denn die Aneinanderreihung der drei Filme am Ende in ihrer ultimativ Schwere und Schwermütigkeit in Kombination mit der akuten Sauerstoffnot und der Sauna-Atmosphäre im Rechbauer-Kino (könnte man hier vielleicht eine Lüftung einbauen?) erforderte einiges an Durchhaltevermögen. Wer blieb, wurde belohnt.

Diagonale 2016: Avantgarde Rundschau

Atlantic35 von Manfred Schwaba

„Gibt es eine andere Liebe, als die der Dunkelheit, eine Liebe, die sich am helllichten Tag laut kundtäte?“ (Albert Camus)

Die Diagonale als Schaukasten und Jahresbericht des österreichischen Filmschaffens ist trotz seiner selbst auferlegten strikten geographischen Einschränkung eines der spannendsten und best-kuratierten Festivals seiner Größe. Nicht zuletzt liegt das an der beeindruckenden Riege an unabhängigen Künstlern, die sich im experimentellen und avantgardistischen Filmemachen üben. Bei der Diagonale sind ihre Filme in der Sektion „Innovatives Kino“ zu finden – ein furchtbarer Name, den die neue Festivalintendanz leider nicht geändert hat – und in meiner Planung sind diese Kurzfilmprogramme Fixpunkte. Die behutsame Neuausrichtung des Festivals hat auch vor dieser Programmsparte nicht halt gemacht, mit Claudia Slanar wurde eine Co-Kuratorin ins Boot geholt, die einzelnen Programme sind stärker durch kuratorische Überlegungen geprägt und es lassen sich nun sehr viel klarere Fäden durch die einzelnen Filme der Programme ziehen. An und für sich ist das eine begrüßenswerte Entwicklung und doch hatte ich einige Male den Eindruck, das ein Film eher deshalb ausgewählt wurde, weil er gut in ein bestimmtes Programm passte, als aufgrund seiner filmischen Qualitäten – vielleicht ist das aber auch nur eine Überinterpretation meinerseits oder aber der aktuelle Jahrgang des avantgardistischen Filmschaffens kann ganz einfach nicht mit dem Output der letzten Jahre mithalten. Im Folgenden ein paar Filme, die mir aus unterschiedlichen Gründen besonders imponiert haben:

Der beste Weg von Angelika Herta

Der beste Weg von Angelika Herta

Wie visualisiert man den Alltag einer Blinden? Diese unmögliche Fragestellung liegt Angelika Hertas Film zugrunde. Das Ergebnis ist fast unerträglich selbstironisch und gesättigt mit beißendem Humor der Marke „ich bin blind, ich darf das“. Das kann man lustig finden oder aber anbiedernd bourgeois, in jedem Fall geht der Film sehr spielerisch mit seiner Grundidee um. Konsequent müsste ein Film über das Leben einer Blinden eigentlich ohne Bilder auskommen, oder zumindest mit Bildern jenseits naturalistischer Bildästhetik arbeiten. Herta hält sich allerdings nicht lang mit solchen konzeptionellen Überlegungen auf, sondern denkt in erster Linie an ihr (sehendes) Publikum. Die Stimme eines Sprachprogramms, das normalerweise die Textinhalte von Computerbildschirmen vorliest, trägt in Der beste Weg einige Anekdoten aus dem Leben einer Blinden vor, die gleichzeitig in weißer Schrift auf schwarzer Leinwand zu sehen sind. Die kleinen und großen Probleme des Blindendaseins werden auf vergnügliche Art und Weise von der mechanischen Stimme vorgetragen. Die Komik erwächst dabei zum einen daraus, was erzählt wird, aber nicht zuletzt auch durch die monoton-abgehackte Vortragsweise der Computerstimme. Damit dem Auge beim Zuhören nicht langweilig wird, wird auch die Schrift in ausgewählten Momenten animiert, bleibt stehen „wie ein sturer Esel“ oder verteilt sich über die Leinwand, wie eine Handvoll verstreuter Münzen. Das sind billige Gimmicks, dumme Spielereien, die eigentlich mit der Logik des Films brechen, aber wer braucht schon logische Konsequenz, wenn er konsequent Schabernack treibt.

Herbst von Meinhard Rauchensteiner

Herbst von Meinhard Rauchensteiner

Es können wohl nicht viele Filme von sich behaupten, ihren Reiz aus der Konfrontation von Rainer Maria Rilke und einem Stofftier zu beziehen. Rilkes namensgebendes Gedicht ist hier Ausgangspunkt für eine unwahrscheinliche Komödie: im Zentrum des Geschehens ein Stofftier, das von einer statischen Kamera aufgenommen, den ganzen Film hinweg nicht bewegt wird; off-screen eine Stimme, die laut, fast herrisch, Rilke rezitiert. Das Stofftier, mit integriertem Tonaufnahme und –abspielmechanismus „antwortet“ auf die Rezitation, Rilkes Gedicht wird zur Iteration, die menschliche Stimme wird abgelöst durch die mechanische Stimme des Stoffstiermonsters. Die Sinnlichkeit der Poesie wird in einem komödiantischen Gebrüll aufgelöst, die Tücken des Sprechmechanismus des Stofftiers bringen die hohe Dichtkunst Rilkes an die Grenzen ihrer Wirkkraft.

Hidden Tracks von Karin Fisslthaler

Hidden Tracks von Karin Fisslthaler

Karin Fisslthaler ist nicht zu Unrecht regelmäßiger Gast auf der Diagonale. Ihre Filme zeichnen sich durch popkulturelle Sensibilität, Musikalität und vor allem durch fabelhaftes Rhythmusgefühl aus. Hidden Tracks ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme und gerade in Sachen Rhythmik ein herausragendes Werk. Es gehört einiges an Chuzpe dazu einen Film aus Found-Footage-Schwarzblenden zu montieren und noch mehr künstlerische Befähigung, daraus etwas zu gestalten, das nicht nur auf konzeptueller Ebene funktioniert. Und wie es funktioniert: ein sorgfältig durchkomponierter Reigen aus kurzen Momentaufnahmen, der verdichtete letzte Lebenshauch der filmischen Einstellung. Fisslthaler breitet diese Verdichtung aus, webt ein feines Netz aus filmischen Referenzen, das durch Schnitt und Musik in einem rhythmischen Pochen aufgeht.

distortion von Lydia Nsiah

distortion von Lydia Nsiah

Der Tod und die Verwesung üben seit Urzeiten eine besondere Faszination auf den Menschen aus. Filmische Metaphern dafür finden sich zuhauf, mit expliziter cinematischer Nekrophilie hat sich zum Beispiel Bill Morrison einen Namen gemacht. Das nun vermehrt der digitale Tod beschworen wird, ist eine logische Entwicklung unserer Zeit. Lydia Nsiahs distortion ist nicht der erste Film, der Material kompiliert, das durch digitale Eingriffe beschädigt worden ist (Sebastian Brameshubers und Thomas Draschans Preserving Cultural Traditions in a Period of Instability, der im Rahmen der Personale zu Gabriele Kranzelbinder gezeigt wurde, übte sich schon vor mehr als zehn Jahren an Ähnlichem), zählt jedoch zu den gelungeneren Exemplaren dieser Sorte Film. Es ist ein großer Coup filmemacherischer Subversion, jene Elemente ästhetisch zu verarbeiten, die dafür konzipiert sind das Filmerlebnis zu beeinträchtigen, denn Nsiah hat als Ausgangsmaterial Filmausschnitte gewählt, die durch digitale Kopierschutzmaßnahmen beeinträchtigt worden sind. Doch distortion ist weit mehr als nur Konzeptkunst, denn der Film funktioniert auch auf einer ästhetischen Erfahrungsebene: das Flackern der digitalen Partikel, die verzerrten Farben und verpixelten Flächen machen die ästhetischen Qualitäten eines Seherlebnisses deutlich, das sonst meist mit dem Frust über technisches Versagen verbunden ist.

Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba

Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba

Es wäre gar nicht so abwegig Lukas Marxt alljährlich den Hauptpreis der Sektion „Innovatives Kino“ kampflos zu überlassen. Kaum ein anderer österreichischer Filmemacher findet in solcher Regelmäßigkeit und mit solcher Konstanz neue Wege seine künstlerische Position zu artikulieren und zu verfestigen. Für Wunderschön und ruhig gelegen hat er mit dem tschechischen Filmemacher Jakub Vrba zusammengearbeitet. Wie so oft in Marxts Filmen steht eine Landschaft im Zentrum. Die Landschaft, in diesem Fall ein kleines Waldstück an einem Berghang, wird schon bald verschwinden, nicht jedoch durch eine Bewegung der Kamera oder eine Manipulation des Bilds, sondern durch pyrotechnischen Nebel. Eine künstliche Wand aus milchigem Weiß verschluckt schon bald den gesamten Bildraum, lässt das Waldstück fast vollständig verschwinden und gibt sie schließlich wieder langsam frei. Wie die Skyline von Hongkong in Black Rain White Scars oder die Gletscherlandschaft in High Tide verwandelt sich die realistische Naturaufnahme in eine abstrakte Transfiguration. Marxt und Vrba thematisieren damit einerseits die Macht der Dauer als Grundkonstante des Kinos und andererseits hinterfragen sie das Verhältnis von Manipulation und Vertrauen in das filmische Bild.

even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

not even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

So sehr sich das österreichische Filmemachen immer wieder hervortut, man kann nicht von jedem Film auf der Diagonale erwarten, dass er eine komplexe filmische Position artikuliert. Das ist schlicht nicht möglich, sonst wäre die Welt voll von Meisterwerken und man müsste sich gar nicht erst die Mühe machen, einen Versuch der kritischen Differenzierung zu unternehmen. Pro Jahr schaffen es nur wenige Filme meine Wahrnehmung der Welt oder meine Haltung zum Kino nachhaltig zu erschüttern. Wenn ich nach einem Screening das Kino verlasse, kann ich also nicht jedes Mal verlangen, dass meine Weltsicht über den Haufen geworfen ist (das wäre auch ungesund), aber es ist gut, wenn wenigstens meine Augen bluten – und in Sachen Augenbluten ist Rainer Kohlbergers not even nothing can be free of ghosts Klassenprimus. Das Flackern von Schwarz-Weiß-Kontrasten und ein Drone-Sound, der Angriff des Algorithmus auf die Netzhaut, eine brutale Attacke gegen die menschliche Wahrnehmung, bei der das Betrachten einer zweidimensionalen Leinwand an Körperlichkeit gewinnt.

Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf

Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf

Ähnlich brutal wie Kohlbergers Film ist Siegfried A. Fruhaus Vintage Print. Etwas unglücklich für die geschundenen Augen liefen die beiden Filme zwar unmittelbar hintereinander, doch offenbarte diese direkte Gegenüberstellung die unterschiedlichen Strategien des Flickerwahnsinns. Während Kohlbergers Film ein durch und durch digitales und berechnetes Konstrukt ist, verwendete Fruhauf als Grundlage für seinen Film eine uralte Fotografie aus dem späten 19. Jahrhundert. Diese Fotografie manipulierte er auf mannigfaltige Art und Weise, kopierte sie unzählige Male und veränderte sie dabei jedes Mal mit einer anderen Technik. Das programmierte Chaos Kohlbergers steht Fruhaufs Chaos nach Programm gegenüber, das digitale Code-Monstrum dem riesigen Materialkonvolut. Umso erstaunlicher, dass die Resultate Ähnlichkeiten aufweisen, in ihrer Strategie mit dem Zuseher in Kontakt zu treten. Beide attackieren sie den Sehnerv, vertrauen auf die Wirkung von geistigen Nachbildern, die ihre eigenen Bilder unterstützen und auf den Taumel aus Bild und Ton, der schließlich körperliche Effekte erzielt.

The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky

The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky

Seit Peter Tscherkasskys The Exquisite Corpus letztes Jahr in Cannes Premiere feierte wartete ich ungeduldig auf eine Gelegenheit den Film zu sehen. Das lange Warten hat sich bezahlt gemacht, denn The Exquisite Corpus ist (wenig überraschend) ein bemerkenswerter Film. Zum einen ist da die technische Virtuosität, die handwerkliche Genialität, die Tscherkasskys Werk befeuert. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Handwerk, den jedes dieser sorgsam manipulierten Frames ging durch Tscherkasskys Hände. Wie üblich dringt er tief ein in die Struktur des Films, macht sichtbar, was nie sichtbar sein sollte. Es ist ein schmaler Grat zwischen einem brutal-invasiven Eingriff in das Material und einer poetisch-sublimen Auseinandersetzung, die zugleich auch Genre-Reflexion ist: Die Männerfantasie des pornographischen Films dekonstruiert, destruiert und doch bestätigt.

A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish von Johannes Gierlinger

A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish von Johannes Gierlinger

Etwas unglücklich lief Johannes Gierlingers A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish gleich im Anschluss an Tscherkasskys kolossalen The Exquisite Corpus. Dass der Film trotzdem im Gedächtnis bleibt ist ein erstes Indiz für seine Qualität. Gierlinger macht sich darin auf die Spur der kubanisch-amerikanischen Künstlerin Ana Mendieta und zwar nicht in Form einer schnöden Künstlerbiographie, sondern frei, poetisch, assoziativ. Die satten Farben und die Grobkörnigkeit des 16mm-Films bestimmen die Bilder des Films, auf der Tonspur Gedanken, die lose mit der Künstlerin und ihrem mysteriösen Tod in Verbindung gebracht werden können. Ana Mendieta war mir zuvor kein Begriff, aber nun habe ich eine Vorstellung davon, für welche Form von Kunst sie stehen könnte. Unabhängig davon funktioniert der Film auch als sinnliches Filmgedicht über Kunst, Leben, Spiel und Revolution.

Atlantic35 von Manfred Schwaba

Atlantic35 von Manfred Schwaba

Schon während eines Festivals zeigt sich meist welche Filme Bestand haben und im Gedächtnis bleiben, und welche in der Bilderflut untergehen. Atlantic35 ist nur wenige Sekunden lang, doch das kurze Aufflackern der portugiesischen Atlantikküste umrahmt von einigen Sekunden Schwarzbild ist ein großer Moment, der im Gedächtnis bleibt. Ironisch könnte man konstatieren, dass der Film die letzte ökonomisch durchführbare Form eines unabhängig finanzierten 35mm-Films darstellt; mit gebotener Ernsthaftigkeit könnte man allerdings auch feststellen, dass Atlantic35 sich in die lange Reihe erstaunlicher Filme einreiht, die nur durch Barrieren (seien sie ökonomischer, politischer oder technischer Natur) entstehen konnte, die überwinden werden wollten.

SELF von Claudia Larcher

SELF von Claudia Larcher

Eine lange Kamerafahrt über eine Mondlandschaft, eine organische Mondlandschaft, den menschlichen Körper. Ein unmöglicher Körper viel mehr, dessen Körperteile und dessen Geschlecht nicht so einfach feststellen lässt. Die extremen Nahaufnahmen bringen exotische Perspektiven zum Vorschein, man verliert sich in den Irrungen von Gliedmaßen, Poren und Körperbehaarung. SELF nötigt zum Aufgeben der Orientierung, gar zum Versuch jeder Orientierung und schlägt stattdessen eine Lesart des menschlichen Körpers als Baustoff, als Ruine, als Landschaftsformation vor – ein Architekturfilm ohne Gebäude, ein landscape film ohne Landschaft.

Ghost Copy von Christana Perschon

Ghost Copy von Christiana Perschon

Ein wiederkehrendes Thema der diesjährigen Filme des „Innovativen Kinos“ war das kurze Aufflackern, das die Vergänglichkeit des kinematischen Augenblicks betont und sich in Reduktion übt. Auch Ghost Copy ist ein Film, der mit der Ausstellung des Moments arbeitet und findet für diese Form einen geeigneten Inhalt. Zwischen ausgedehnten Passagen von Schwarzfilm kurze Ausschnitte von österreichischen Amateurfilmen. Die ephemere Form der Präsentation trifft auf eine ephemere Form des Inhalts. Nur schwer lassen sich diese filmischen Erinnerungsschnipsel erkennen, einordnen und deuten, nur schwer lässt sich eine Verbindung zwischen den einzelnen Ausschnitten ziehen. Die Erinnerung bleibt lückenhaft, die Filme widersetzen sich den Bedürfnissen des menschlichen Chronisten. Was bleibt ist ein sinnliches Blitzgewitter gerahmt von Dunkelheit.

Diagonale-Dialog 2: I see the sun

not even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

Alle Jahre wieder können Patrick und Rainer ihre Erfahrungen nur begrenzt austauschen, da sie sich selten im Kino sehen. Immerhin hat Patrick nun Die Geträumten von Ruth Beckermann gesehen und ist vom Film ähnlich überwältigt wie Rainer.

Rainer: Mittlerweile glaube ich fast, ich sollte diesen Dialog mit Ioana führen, weil sie sehr oft mit mir Vorstellungen besucht, während wir beide uns (wie üblich) selten über den Weg laufen. Im Übrigen habe ich noch immer nicht den Festivaltrailer gesehen: finden wir heute trotzdem eine Gesprächsgrundlage?

Patrick: Ja. Die Geträumten von Ruth Beckermann, den du in Berlin gesehen hast. Obwohl wir uns nicht über den Weg laufen, gebe ich dir völlig Recht. Das ist ein herausragender Film, der mir Tränen in die Augen trieb und mich neu-konfrontiert hat mit Gedanken zu Schauspiel, deutscher Sprache und letztlich sogar Liebe. Er zeigt auch, dass man das Gefühl vielleicht in der Fiktion finden kann und das ist einer der traurigsten und zugleich hoffnungsvollsten Gedanken, die ich seit langer Zeit in einem Film gespürt habe. Du bist ja der Beckermann-Experte…hat sie schon mal etwas Vergleichbares gemacht?

Rainer: Als Beckermann-Experte würde ich mich nicht bezeichnen, eher als Bewunderer, der leider noch nicht alle ihrer Filme gesehen hat, aber Die Geträumten nimmt meiner Einschätzung nach in ihrem Oeuvre schon eine Ausnahmestellung ein. Sonst findet man bei ihr meist nicht so eine starke Reflexion über das Filmemachen und ein solches Vabanquespiel mit verschiedenen Fiktionsebenen. Der Film ordnet sich dann aber doch irgendwie ganz gut in ihr Schaffen ein, weil sie meiner Einschätzung nach schon immer ein Händchen dafür hatte dem gesprochenen Wort sehr viel an Gefühl zu entlocken. Diese Blicke, diese Unmittelbarkeit, die durch die Schauspieler vermittelt wird – das ist zweifellos etwas, das man auch in ihren früheren Filmen findet. Ich würde sagen Wien retour funktioniert (auf ganz andere Weise) sehr ähnlich.

Patrick: Das könnte gut sein. Ich hatte auch das Gefühl, dass gerade diese Art wie sie diese beiden Menschen ansieht, unheimlich wichtig ist. Sie kommt da tatsächlich zur Seele der Figuren, zu dem was sich unter dem Sprechen befindet und gerade daher wird das Sprechen beziehungsweise Lesen wieder interessant. Auch die Art und Weise wie diese Briefe zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu einer Narration verdichtet wurden, ist brillant. Hast du dich auch von etwas begeistern lassen?

Rainer: Ich bin noch immer von Die Geträumten begeistert, auch wenn es schon ein paar Wochen her ist, dass ich ihn gesehen habe. In ähnlichem Ausmaß hat mich bisher nichts berührt, aber das Programm Innovatives Kino war sehr gut. Man kann ja nicht von jedem (Avantgarde-)Film verlangen, dass er einem mit einer hochkomplexen und perfekt durchartikulierten filmischen Haltung entgegentritt, aber es ist gut, wenn danach wenigstens die Augen bluten. Das hat mir in denen ersten beiden Programmen etwas gefehlt – die waren zu brav und zu leise – aber Rainer Kohlbergers not even nothing can be free of ghosts erfüllt diese Erwartungen vollkommen. Der spielt gleichzeitig mit der Wahrnehmung und versucht dir sehr offensiv die Sinne zu rauben. Ein rhythmisches Flackern algorithmischer Hell-Dunkel-Stakkatos und eine sehr aggressive Tonspur. Das macht schon Spaß sich so blenden so lassen. Einzig die Programmierung war etwas fragwürdig, denn gleich danach kam mit Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf ein zweiter Film ähnlicher Gangart, und ich war eigentlich schon nicht mehr aufnahmefähig. Der faszinierendste Film des Programms war aber Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba – über Marxt unterhalten wir uns auch jedes Jahr kommt mir vor?

Patrick: Ich denke nicht in Jahren. Ich denke in Filmen.

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Rainer: Nun gut, ich sehe aber seine Filme alljährlich bei der Diagonale und es scheint mir, dass sie immer zum Thema werden. Ich kann dir dieses Programm in jedem Fall nur von ganzem Herzen empfehlen. In welchen Filmen denkst du denn im Moment?

Patrick: Vielleicht denke ich wie ein Geträumter, weil wenn man in Filmen denkt und lebt, dann ist man ja irgendwie Teil dieser Fiktionen. So ein Fühlen, das es vielleicht gar nicht gibt und das sich trotzdem so viel echter anfühlt. Gestern hat sich der junge Darsteller aus Henry spät am Abend an unseren Tisch gesetzt. Er hat dann versucht – kurz nachdem Beckermann meinen Glauben an das Schauspiel erneuert hat – diesen gleich wieder zu vernichten. Aber wahrscheinlich war es nur Einbildung. Hat dich auch schon so richtig was enttäuscht oder aufgeregt?

Rainer: Dieser Junge war schon eine ziemliche Enttäuschung… Nein, Spaß beiseite, also die ersten zwei Programme Innovatives Kino waren schon in gewisser Weise eine Enttäuschung für mich. Von der Diagonale ist man da ein höheres Niveau gewohnt, aber es hat sich alles sehr brav, lasch und nichtig angefühlt. Mir fehlte da die Dringlichkeit, die gerade bei diesen Formen des Filmemachens gegeben sein muss, da sie sonst zur Stilübung verkommen. Ich überlasse dir einen Aufreger als wirkmächtiges Schlusswort.

Patrick: Nichts Schönres unter der Sonne/ als unter der Sonne zu sein.

I see the sun

She dawns

She burns

She grows

She feeds

She spews

She dies

Above us

VIS 2015: Ein retrospektives Festivaltagebuch

Dienstag: Das diesjährige VIS beginnt mit Regenwetter, was an und für sich nicht der Rede wert wäre, doch da die Eröffnung im Gartenbaukino stattfindet, dessen Foyer nicht einmal annähernd dafür ausgelegt ist, dass die über siebenhundert Besucher darin Platz finden (von den dortigen tropischen Temperaturen will ich gar nicht sprechen), verweilt man vor Filmbeginn draußen – im Regen. Man sieht und wird gesehen, denn diese Eröffnung ist ein Lifestyle-Event mehr denn ein Filmscreening. Das erkennt man unter anderem auch an der Menge an Studienkollegen, die mir über den Weg laufen, und die sich sonst nur in Ausnahmesituationen in ein Kino verirren. Filmfestivals sind hip und das VIS ist womöglich das allerhipste unter ihnen in Österreich. Das Team gibt sich dabei echt Mühe seine Professionalität hinter sympathischer Geselligkeit und Hipster-Chic zu verstecken, doch dem geübten Besucherauge bleibt der reibungslose Ablauf nicht verborgen und auch die sorgsam kuratierten Programme nehmen jedes Jahr an Anspruch und Finesse zu. Dieses Jahr hat das Angebot gar meine Zeitressourcen gesprengt: Ich habe es weder in den U/Tropia-Showroom geschafft, noch ins Liegekino, noch zu den Cinema Sessions.

Die eindrucksvolle thematische und formale Breite zeigte sich schon im Programm, das im Rahmen der Eröffnung gezeigt wurde: Eine norwegische Roadtripkomödie (Subtotal von Gundhild Enger), ein experimentelles tableau vivant (Evidence of the not yet known von Maria von Hausswolff) eine digitale Installation (Vitreous von Robert Seidel), Animation brute in Handarbeit (Unhappy Happy von Peter Millard), ein Familiendrama-Psychospiel (Alles wird gut von Patrick Vollrath) und zum Auftakt Don Hertzfeldts Special Opening für die 26. Staffel der Simpsons. Natürlich hat so ein Programm seine Höhen (Vitreous) und seine Tiefen (Alles wird gut), aber wie schon letztes Jahr imponierte mir vor allem die Zusammenstellung, das gleichwertige Nebeneinanderstellen von vergleichsweise konventionellen Spielfilmen und total abstrakter Avantgarde, ohne dass dabei das eine das andere erschlägt oder übertrumpft. Der Spielfilm, der so oft die experimentelleren Formen des Filmschaffens überschattet (nicht zuletzt durch seine übliche Länge von eineinhalb bis zwei Stunden, die Experimentalfilme selten erreichen), wird hier von seinem Podium gehoben und tatsächlich finden sich die interessantesten Filme in den Programmen zum Avantgarde- und Animationsfilm.

Von der Eröffnungsnacht blieben mir auch insbesondere diese Filme in Erinnerung, allen voran Robert Seidels ursprünglich als Installation konzipierte Farb- und Formorgie Vitreous und Peter Millards absurder Highspeedklamauk Unhappy Happy. Das mag aber zum Teil auch an meinem Sitzplatz gelegen haben. Aus der zweiten Reihe im kolossalen Gartenbaukino gelingt es nicht immer optimal die notwendigen Informationen aus dem Bild zu extrahieren um der Handlung zu folgen – man kommt schlichtweg nicht mit dem Schauen nach – wohingegen Experimentalfilme, wie die oben angesprochenen, zwar anders wahrgenommen werden, diese unterschiedliche Perzeption jedoch keine Form von Sinnverlust bedingt.

VIS Eröffnung

Mittwoch + Donnerstag: Ein Grund, weshalb ich viele der Programmpunkte nicht aufsuchen konnte, war ein Amerikaner mittleren Alters, der das VIS dieses Jahr als Stargast beehrte. Der Name Don Hertzfeldt prangte seit der Ankündigung seines Besuchs in breiten Lettern auf meinem Kalender. Zwei eineinhalbstündige Programme und eine Master Class waren angekündigt und als einzige Veranstaltungen in meinem Programmheft fett unterstrichen. Die Vorfreude war nicht umsonst, denn alle drei Veranstaltungen waren großartig. Das ist nicht zu kleinen Teilen dem Filmemacher selbst zu verdanken, der mit seiner lockeren Art das Publikum zu fesseln wusste, aber sich dennoch nicht in Witzchen und Anekdoten verlor, sondern dabei seine Auffassung von Film kundtat und Einblicke in seine Arbeitsweise bot. Ein Blick zurück auf seine Ausführungen lässt erahnen, dass dieser Mann wohl in sehr vielen Bereichen erfolgreich geworden wäre. Er arbeitet intuitiv und eint ein natürliches Talent für Rhythmus und Timing (beides essentielle Fähigkeiten für einen Animateur) mit einer asketischen Arbeitsmoral. Die seltsame ökonomische Situation, in der sich unabhängige Filmemacher in den USA befinden, die ihre künstlerische Vision unangetastet lassen wollen, aber ihre Werke als Produkte am Markt verkaufen müssen, um davon Leben zu können, hat hier in Kombination mit dem postmodernen Zeitgeist und Humor der 90er Jahre, den medialen Formen und Verformungen des Internetzeitalters und typisch amerikanischer Bescheidenheit und Pragmatik einen großen Denker herangezüchtet, der sein Denken ausschließlich über sein künstlerisches Werk vermittelt. Hertzfeldt hat zwar immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, aber ist gewiss kein Mann der großen, bedeutungsschwangeren Worte. Hertzfeldt sieht sich selbst als Künstler, scheut aber vor allzu tiefgehender Analyse seines eigenen Werks zurück, da ihn eine solche blockiere. Er ist der Theorie und Kritik nicht abgeneigt (auch das wäre eine typische europäische Reaktion), jedoch praktiziert er sie nicht selbst, sondern konzentriert sich auf seine künstlerische Arbeit – Diskursfordismus wenn man so will. So wenig Hertzfeldt wohl selbst von dieser Überlegung angetan wäre, so sehr sehe ich in ihm eine letzte Inkarnation des Geniegedankens des 19. Jahrhunderts, einen Mann, der von Passion und der Muse angetrieben kompromisslos seine Kunst verfolgt, ohne dabei groß Rücksicht auf Moden und Technologien zu nehmen und sich das Leben durch seine primitiven Gestaltungsmittel allzu oft selbst schwer macht.

Vitreous von Robert Seidel

Vitreous von Robert Seidel

Freitag: Grillparty.

Samstag: Nach der Master Class ein letzter Abstecher in eines der drei Programme der Animation Avantgarde Sektion. Dort wartete der spätere Sieger des Avantgardefilmpreises auf mich, den ich während der Diagonale aufgrund eines technischen Problems nicht vollständig sehen konnte. Moon Blink von Rainer Kohlberger ist ein monumentales Fest für die Augen. Ein Test der Wahrnehmung, zehn Minuten der puren epileptischen Ekstase, die nicht einmal durch tratschende Zuschauer getrübt werden konnte. Ein Film, der alles übertönt und überwuchert und sich in langsamen pulsierenden Wellen in grellem Weiß und satten Farben der kaleidoskopischen Allmacht der Algorithmen hingibt. Die Augen schmerzen angesichts der totalen digitalen Abstraktion – ganz im Gegenteil zu Robert Seidels geradezu organischen, sanften Formen – und wenn das Flackern und Pulsieren wieder abebbt und sich der Herzschlag wieder beruhigt, dann wünscht man sich zurück in diese heile Welt der bedeutungsvollen Bedeutungslosigkeit, in der man dem Leben entfliehen und in purer Perzeption aufgehen kann. Ein bisschen so wie das Leben nach einem Filmfestival.