Boyhood von Richard Linklater

Familienleben in "Boyhood"

Der Titel Boyhood lässt auf eine persönliche Geschichte schließen, auf eine Geschichte rund um die Kindheit eines Jungen. Im Groben ist Boyhood genau das, die Geschichte eines Jungen, nur dabei bleibt es nicht. Boyhood ist eine universale Studie einer ganzen Generation, vielleicht der erste große kinematische Streifzug durchs junge 21. Jahrhundert. Der Film ist einzigartig in seiner Form, gefilmt über den Zeitraum von zwölf Jahren – in Echtzeit sozusagen, spielt aber gekonnt mit Konventionen wie man sie aus gewöhnlichen Coming-of-age-Geschichten ähnlicher Machart kennt. Das heißt, der Film lässt kein kitschiges Klischee aus: von der alleinerziehenden Mutter bis zum Alkoholiker-Stiefvater. Boyhood verzeiht man diese „Ausrutscher“ aber gerne, denn der Film hat Herz und Witz und Esprit. Drei Eigenschaften die oft als unkünstlerisch abgetan werden und zumeist nicht die großen Preise der Festivaljurys einheimsen. Boyhood ist in dieser Hinsicht eine Erlösung – Film darf endlich wieder Spaß machen, denn trotz dem ein oder anderen dunklen Moment überwiegen die emotionalen Momente und nostalgischen Erinnerungen – Rückblicke in eine nahe Vergangenheit, die auch meine Vergangenheit ist. Mason zu Anfang von

Richard Linklater ist mit Boyhood möglicherweise am Zenit seines Schöpfens angelangt. Er zeigt großes Verständnis für eine Generation die nicht die seine ist. Mit Dazed and Confused gelang ihm vor zwanzig Jahren ein Rückblick auf seine eigene Generation. Ein Tag reichte ihm damals um das Lebensgefühl der texanischen Jugend Ende der 70er Jahre einzufangen. Ein Tag voller Langeweile und ulkigen Gehabes im Leben von einer Gruppe von Halbstarken. Ein kurzer Ausschnitt in dem Linklater seine betont authentischen Charaktere über die Ausweglosigkeit und das Ennui des texanischen Provinzlebens (wenngleich in der Großstadt Austin) philosophieren ließ.

Im Debutlangfilm Slacker und seinem späteren Film subUrbia hingegen, war diese Zukunftsangst bereits der vagen, ungewissen Lebensunsicherheit der Generation X gewichen. Beide Filme sind Kammerspiele unter freiem Himmel. Schauplatz ist abermals Austin, Texas.

Boyhood bricht auf den ersten Blick aus diesem engen Rahmen aus, indem sich Linklater erstmals längeren Zeiträumen für seine Studien widmet. Aber was sehen wir eigentlich in Boyhood? Doch wieder nur kurze Schnipsel, wie Erinnerungen, die ganz viele Leerstellen lassen. Boyhood ist ein Film der Lücke – er findet in den Zeitsprüngen statt.Zu sehen bekommen wir nur Momentaufnahmen, vieldeutige Ausschnitte, nicht mehr als in Dazed and Confused. Es ist Linklaters großer Coup, dass man glaubt einer monumentalen Erzählung zu folgen, während er insgeheim nicht von seiner altbewährten Formel des Ausschnitthaften ablässt.

Zugegebenermaßen ist hier aber anders als in den zuvor genannten Filmen eine Entwicklung zu erkennen. Der anfangs noch recht unbedarfte Mason jr. entwickelt sich zum Ende hin zu einem typischen Linklater-Charakter. Und spätestens in der letzten Szene, als Mason an seinem ersten Tag im College mit seinem neuen Mitbewohner durch den selben Nationalpark wandert, den er Jahre zuvor mit seinem Vater (Linklater-Regular Ethan Hawke) besucht hat, und unter Drogeneinfluss über die Nichtigkeit des Seins diskutiert, weiß man dass man in einem Linklater-Film angekommen ist. Der junge Mason in "Boyhood"

Anfangs kann mich sich darüber noch nicht ganz so sicher sein. Der junge Mason ist ein verträumter Schüler mit einer nervigen Schwester und einer überarbeiteten Mutter. Linklater konstruiert diese frühen Szenen ähnlich wie Erinnerungen an eine entfernte Kindheit. Schnittfolgen wirken oft schlampig und unlogisch, allzu viel Exposition wird nicht geboten. Es scheint, dass Linklater versucht hat dem Eindruck von Erinnerungsbildern eine filmische Form zu geben. Später verschwinden diese hektischen Cuts nämlich und der Film folgt einer narrativen Logik, die sich eher den wichtigen Momenten im Leben von Mason widmet anstatt willkürlichen, emotional-nostalgischen Gedächtnisbildern.

Stichwort Nostalgie. Diese Nostalgie, und daran merke ich, dass ich schön langsam alt werde, ist meine Nostalgie. Gerade in den Szenen aus der frühen Kindheit finde ich meine eigene Kindheit wieder. Zwar ist Mason rund drei Jahre jünger als ich, aber „Dragonball Z“ und die nervende Schwester, die Britney-Spears-Songs anstimmt haben auch meine Kindheit geprägt. Auf einer Metaebene frage ich mich allerdings wie viele popkulturelle Eintagsfliegen dieser Zeit Linklater zusammentragen musste um schlussendlich im finalen Cut, jene mit der geringsten Halbwertszeit auswählen zu können (vielleicht ist auch das ein Grund für die sprunghaften Schnitte).

Wie auch immer, die Nostalgiekeule erwischt zielsicher jeden, der das letzte Jahrzehnt nicht im Kryoschlaf verbracht hat. Wie man in zehn Jahren auf die Nostalgiemomente (damit meine ich jene Szenen in denen augenscheinlich versucht wurde die Popkultur der späten 00er und frühen 10er Jahre einzufangen) gegen Ende des Films reagieren wird, bleibt abzuwarten.

"Boyhood"

Dass es so lang gedauert hat bis ich auf den Soundtrack zu sprechen komme ist ein großes Versäumnis meinerseits. Kurz, nur ein Martin Scorsese schafft es wohl eine bessere Auswahl an selbstironischen, nostalgischen und großartigen Songs zusammenzustellen. Von „The Hives“ bis zu den „Beatles“ ist alles dabei, was das Herz begehrt. Anders als bei Scorsese findet die Musik hier hauptsächlich im On statt. Mason sr., ist Musiker, bringt es aber nie zu einer großen Karriere. Später musiziert er in erster Linie mit seinen Kindern im kleinen Kreis. Auch da holt der Ernst des Lebens den Film wieder ein, allerdings in betont fröhlicher Manier. Ich glaube insgesamt, dass es eine der Stärken des Films ist, die Schattenseiten des Lebens positiv zu betrachten. Die positiven Momente überwiegen, obwohl die Familie ständig umzieht, der leibliche Vater manchmal über längere Zeiträume verschwindet und sich allerlei Probleme aus dem Leben als Patchworkfamilie ergeben.

Aber so ist doch das Leben, oder? In manchen Stunden denkt man das Leben ist die Hölle, blickt man zurück bleiben die schönen Momente in Erinnerung. Diese Perspektive auf das Leben ist sehr schön. „Boyhood“ ist einer von Linklaters besten Filmen und ohne Zweifel ein quintessentieller Blick auf ein Amerika der Generation Y.