Woche der Kritik: Abgrundtief entblößt

Es ist ein schönes Erlebnis, wenn auf einem Festival der ästhetische Knall etwas unerwartet kommt. Der Twist, der durch seine Stärke und seine Vollendung alle schlechten Erinnerungen der vergangenen Tage ganz weit in den Hintergrund rücken lässt. Wohl ist Albert Serra eine wichtige, verehrte Figur des europäischen Gegenwartkinos, aber ich kannte ihn bisher nur durch das Kritikerlob, das er seit ein paar Jahren einheimst, ohne je die Gelegenheit zu haben, mich selbst im Kino von seiner Arbeit zu überzeugen. Radikale Kinowagnisse wie Roi Soleil bekommt man sonst nicht so einfach im Kinosaal zu sehen – selbst in Frankreich nicht. Wie ich dies schon erahnt hatte, erklärt Serra in seiner Einleitung, dass er diesen Film gedreht hat, um der Kritik den Beweis zu bringen, dass er sich nicht auf den klassischeren Stil seines vorherigen Filmes La Mort de Louis XIV beschränken will. Roi Soleil ist also ein Film, der einen Kontrapunkt zum Vorgänger darstellen soll.

Ab der ersten Einstellung zeigt sich jedenfalls, dass Roi Soleil ein Film ist, der ganz für sich allein stehen kann. Schon nach wenigen Minuten wird unter dem Publikum viel gelacht, es bleibt aber unklar, ob das ein Zeichen für Spaß oder für ein Ausdruck von Peinlichkeit ist. Zumal viele Zuseher den Saal während der Vorführung verlassen. Bei den vorherigen Vorführungen der diesjährigen Woche der Kritik war es überhaupt nicht so; von den fünf Vorführungen, bei denen ich anwesend war, kann ich mich in der Tat an keine einzige erinnern, bei der das Publikum so reagierte, wie auf Roi soleil. Ganz im Gegenteil: Außer dem etwas experimentelleren Gulyabani wurden alle anderen Filme von den ersten Minuten an sehr gut aufgenommen. Diesen – von einem filmkritischen Standpunkt aus betrachtet – enttäuschenden Stand der Dinge kann ich eigentlich nur dadurch nachvollziehen, dass Roi soleil kein einfaches Fressen im vulgären Sinne ist. Der Film besteht aus langen, stillen Einstellungen, es gibt keine Dialoge bis auf das müde, regelmäßige Stöhnen des Königs, welches allerdings zum abstrakten, kaum emotional aufgeladenen Begleitgeräusch wird.

Der Film beginnt mit einer Totalen, die uns den König wie in einem Kasten eingesperrt zeigt. Der Raum ist ganz weiß. Und doch ist das Bild überhaupt nicht weiß, sondern alles ist in rotes Licht getränkt. Die Leinwand ist eine Käfig, eine übertrieben enge Kammer, eine camera obscura. Louis XIV steht am Anfang im Hintergrund, nach ein paar Schritten im Raum, die Hände mal auf die Wand gestützt, scheint er schon außer Atem zu sein, er stöhnt, stöhnt und stöhnt wieder. Die erste Nahaufnahme kommt ziemlich spät, als der Darsteller seinen Kopf an die Wand gestützt hat. Das Gesicht liegt völlig im Schatten, man sieht nur die rot-graue Perücke, die er sich aufgesetzt hat. Wo das Gesicht sein sollte, liegt nur ein schwarzer Fleck. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass der König in der Wand verschwindet, als wäre das Zimmer, in dem er sich befindet, ein unendlich biegsamer, allen Gesetzen der Physik widerstehender Raum.

Diese ersten zwei Einstellungen bringen bereits den ganzen Gehalt des Filmes zum Ausdruck: Zum einen wird Louis XIV hier wie eine abstrakte Form behandelt, die ihrer symbolischen Bedeutung entleert worden ist; wie ein bloßes Ding unter den im Raum anderen vorhandenen Dingen. Zum anderen aber ist er zugleich ein leidender Körper, der seiner spektakulären, schweren Körperlichkeit unterlegen ist. Der Leib herrscht über den Geist, saugt ihn aus. Dies gilt auch für Albert Serras Herangehensweise als Filmemacher: wie Rainer es in seinem Text über den Film schon hervorgehoben hat, ist Albert Serras Film keine rein intellektuelle Übung, sondern eine leibliche Erfahrung. Vielleicht ist das der Grund, warum der Film an manchen Stellen so schwer erträglich ist: Roi soleil spricht einen an, ohne einen anzusprechen. Er vermittelt die Figur Louis XIVs durch Bilder, die fein aufgebaut sind, die zweifellos ins Kino gehören, und doch vermittelt der Film nichts, das auf eine intelligible Vermittlung zurückgeführt werden könnte. Serra beobachtet eine Handlung, die keine Handlung ist, weil sie schon immer ein sich weiter neu erfindendes, nie ganz zum Stillstand gekommenes Netz von Gebärden ist.

Nach dieser Einführung der Figur, wechselt Serra stets von Totalen, in denen der Körper des Königs abstrahiert wird, zu Nahaufnahmen, die diesen Körper ganz sachlich ins Zentrum rücken, ihn beim Essen und Trinken zeigen. Trotz des Schmerzes, den Serras Louis XIV ostentativ zur Schau stellt, wirkt er dennoch entspannt, unbekümmert und seinem eigenen Genus hingegeben, als bräuchte er gar kein Publikum. Das Schönste daran ist, dass diese Abwechslung keine List ist, um die zu befürchtende Langeweile des Zuschauers zu mildern, sondern sie führt zu einer verwirrenden, ständigen Umformung des inszenierten Raumes, welche die unbequeme, unangenehme, fast barocke Schwankung der räumlichen Stimmigkeit immer weitertreibt.

Einer der verblüffendsten Erfolge von Roi Soleil liegt darin, dass sich das Wechselspiel von Raum und Körper, in dem der eine den anderen beeinflusst und umgekehrt, bis zum Punkt, wo ihre Umrisse sich einander so durchdringen, nicht in einem undurchdringlichen Konvolut endet, sondern paradoxerweise in einer Öffnung. Die letzte Einstellung (eine sehr lange, stille Plansequenz) treibt diese scheinbare Paradoxie noch weiter: Die Kamera ist jetzt im Untergeschoß platziert. Im Vordergrund ist die Treppe zu sehen, es kommen und gehen Besucher der hier zum Film gemachten Performance (Roi Soleil auf beruht auf einer von Serra in einer Lissaboner Galerie inszenierten Performance), manche von ihnen setzen sich auf eine der Stufen, eine sitzende Frau holt sogar ihr Handy heraus. Louis XIV ist wenig mehr als ein undeutlicher Tupfen im Hintergrund, der der Kekse-Etagere in der Einstellung fast gleichgesetzt ist. Für mehrere Minuten bleibt der Raum im gewohnten roten Licht beleuchtet, dann verändert sich diese Beleuchtung langsam. Der Kontrast sinkt, die Schatten verschwinden, das Bild wird heller, fast orange. Das auf der rechten Wand befestigte Neon-Licht strahlt nun oranges Licht aus.

Schließlich verlassen die Besucher den Raum, es kommen zwei schwarz bekleidete Männer die Treppe hinunter – einer von ihnen ist Albert Serra. Sie verkünden, dass der König tot sei. Dann folgt die totale Finsternis – bis auf einen kleinen, weißen Schimmer im Vordergrund. Wieder gibt es also in der gleichen Einstellung etwas und nichts, nichts und doch etwas, zu sehen. Roi Soleil inszeniert den Sonnenkönig als einen gleichsam kranken, zuckenden Körper, als auch als mal dunkle, mal helle Form, die unsere Raumwahrnehmung als Zuschauer unaufhörlich umgestaltet. Louis XIV ist nicht tot – wie der Phoenix wird er bald aus seiner Asche wiederauferstehen.

Viennale 2018: Roi Soleil von Albert Serra

Roi Soleil von Albert Serra

Als Albert Serra vor dem Screening von Roi Soleil den Kinosaal betritt, beginnt er sogleich in sich überschlagendem Englisch und auf seine typisch exzentrische Weise von und über seinen Film zu erzählen. Seine kurze Einführung endet in einer Pointe, die erwartungsgemäß gut beim Publikum ankommt: Nach seinem letzten Film La Mort de Louis XIV hatten ihn Bekannte darauf angesprochen. Der Film sei ihnen zu konventionell gewesen. Nun habe er eben noch eine Version der Geschichte gemacht, die vor solcher Kritik gefeit ist.

Serra hat nicht zu viel versprochen, so viel vorweg. Während in seinem letzten Film Jean-Pierre Léaud langsam dahinsiecht, umgeben von seinem Hofstaat, prächtig kostümiert und von opulenten Requisiten umgeben, geht Serra in Roi Soleil den gegenteiligen Weg. Statt des ausgezehrten Léauds mimt nun Lluís Serrat den Sonnenkönig. Während Léauds Körper einigermaßen verbraucht wirkt, weist Serrats Leib eine Körperfülle und Jugendlichkeit auf, die man einem kranken, sterbenden Menschen nicht zutrauen würde. Das schmälert die Effektivität des Films aber in keinster Weise: Wo La Mort de Louis XIV letztendlich doch eine gewisse Form von Naturalismus zum Ziel hatte, ist Roi Soleil rein auf die Performance reduziert.

Stöhnend und ächzend schleppt, rollt und schleift sich Serrats Ludwig über den Boden einer Lissaboner Galerie. An vier Abenden hat Serra hier 2017 die letzten Stunden im Leben des legendären französischen Königs inszeniert. Und auch mitgefilmt. Denn, so Serra, vielleicht deckt die Kamera ja Dinge auf, die für das anwesende Publikum nicht zu erkennen waren. Serra hat auf jeden Fall mehr gemacht als einfach nur die Kamera mitlaufen zu lassen. Sieht man den Film, erkennt man deutlich ein filmisches Konzept hinter den Aufnahmen.

Zu Anfang steht der König noch aufrecht im rot ausgeleuchteten Galerieraum, bald schon muss er sich gegen die Wand lehnen, bis er schließlich zu Boden geht. Gegen Ende des Films dann gelingt es ihm kaum mehr sich von einer Seite auf die andere zu rollen. Während der Bewegungsradius und der Handlungsspielraum des Monarchen immer weiter eingeschränkt werden, nähert sich die Kamera immer weiter an. Wird Serrat zu Beginn noch von der anderen Seite einer Halle gefilmt, ist die Kamera am Ende ganz dicht an seinem Körper, registriert jede Bewegung, jedes schmerzerfüllte Zucken, jeden quälenden Atemzug. Die langsame Annäherung erzeugt eine Dynamik die abgefilmtem Theater und abgefilmter Performance-Kunst oft abgeht. Die Kamera ist hier kein Afterthought. Man braucht gar nicht beginnen zu diskutieren, ob ein solcher Film in ein Kino gehört. Es ist offenkundig.

Roi Soleil von Albert Serra

Knapp eine Stunde folgt man so dem Todeskampf von Serrats Ludwig. Sein gequältes Stöhnen wird einzig durch den Einsatz der spärlichen Requisiten unterbrochen: eine Etagere mit Süßigkeiten, einen Krug Wasser, aus dem Serrat im Liegen durch einen Schlauch trinkt. Die totale Isolation der Figur in diesem blanken Ort erzeugt eine irrsinnige Anziehungskraft, zieht einen in seinen Bann. Man fühlt sich seltsam vertraut mit diesem sterbenden Menschen, wenngleich es allzu offensichtlich ist, dass hier nur ein Schauspieler in einem Kostüm zu sehen ist.

Die Brechungen und Verfremdungen der Abstraktion vermögen es nicht, den Bann zu lösen. Das gelingt erst einem Geräusch, dass von außen in die Isolation des Films eindringt. Es ist das hallende Poltern von Schritten, die den Galerieraum erfüllen. Kurz danach beginnt man die ersten, dazugehörigen Beine zu sehen. Für die letzten Minuten seines Films, integriert Serra das Publikum in seinen Film. Die Kamera hat nun wieder eine entfernte Position eingenommen, der König hat seinen Todeskampf hinter sich gebracht. Aber statt einer bewegungslosen Leiche, kann man nun die Reaktionen des Publikums beobachten, das nicht so ganz weiß, ob die Performance nun beendet ist. Gewissheit bringt erst Serra selbst, der zum Abschluss selbst auftritt, sich dem liegenden Körper nähert und verkündet, dass Ludwig tot sei.

Es ist beeindruckend aus was für limitierten Mitteln Serra hier ein Werk höchster Konzentration erstellt – und wie im ein Medienübergang gelingt von der performativen zur Film-Kunst. Selbst ohne die Performance in Lissabon live erlebt zu haben, spürt man, dass der Film etwas gänzlich anderes ist, sich gänzlich anders anfühlt. Die Dauer ist eine andere. Sie ist segmentiert und sequenziell im Raum verteilt, es ist nicht die absolute Dauer, die die Aufführungen in der Galerie auszeichnete. So gesehen ist Roi Soleil auch ein ziemlich beeindruckendes Machwerk über die Unterschiede zwischen Film und darstellender Körperkunst. Bezeichnend, dass es von einem Künstler kommt, der die Grenzen zwischen Kino, Theater und Kunstraum in seinen Arbeiten beständig übertritt.