Die 13 Kinomomente des Jahres 2014

Horse Money

Wie jedes Jahr möchte ich auch 2014 meine Kinomomente des Jahres beschreiben. Diese Liste ist keineswegs endgültig, da ich sicher in den kommenden Jahren viele Schätze entdecken werde, die es verdient gehabt hätten, auf meiner diesjährigen Liste zu stehen. Ich beschreibe ausschließlich Momente aus Filmen aus dem Jahr 2014. Dabei gehen natürlich eine Menge Filme verloren, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe und die mir vielleicht die wahren Kinomomente des Jahres bescherten. Damit meine ich zum einen die zahlreichen Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum (hier vor allem jene von John Ford, Hou Hsiao-Hsien und Satyajit Ray), im Stadtkino Wien (Tsai Ming-liang), im Metrokino Wien (Peter Handke Schau), auf Crossing Europe (Joanna Hogg) oder der Diagonale (Agnès Godard). Außerdem gibt es natürlich Filme, die erst dieses Jahr regulär oder nicht-regulär ins Kino kamen, die ich aber zum Jahr 2013 rechne. Dazu gehört allen voran die Entfremdungshypnose Under the Skin von Jonathan Glazer oder der zugedröhnte Scorsese-Zirkus The Wolf of Wall Street.

Dies ist also weder eine subjektive Liste der besten Filme des Jahres noch gibt es in ihr irgendeine relevante Reihenfolge. Vielmehr ist es eine Liste, die in mir geblieben ist. Die kleinen Erinnerungen, die Träume, die man nach den Filmen hatte, die Ekstase, die man manchmal an Sekunden und manchmal an Stunden eines Films festmachen kann. Es geht um diese Atemzüge, in denen mein Herz aufgehört hat zu schlagen und ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu sehen. Wenn Film in seiner Gegenwart schon wieder verschwindet, dann bekommt unsere Erinnerung daran eine besondere Bedeutung. Die Erinnerung speichert, verändert oder ignoriert einen Film. Sie ist nicht denkbar und nicht lenkbar. Genau hier trifft uns das Kino mit seiner Wahrheit. In der Erinnerung liegt auch die Fiktion, die im diesjährigen Kinojahr eine solch große Rolle gespielt hat. In vielen Filmen wurde die Frage gestellt, wann und wie Geschichten entstehen, wie sie an unsere Lügen, unsere Vergangenheit und an unsere Träume gebunden sind. Das Kino existiert zweimal. In der Gegenwart seiner Projektion und in der Gegenwart unserer Erinnerung.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa – Ventura spuckt

Horse Money Pedro Costa

Eigentlich ist Cavalo Dinheiro ein einziger Augenblick, in dem jedes Blinzeln zu einer filmischen Sensation wird. Wenn ich mich allerdings für einen dieser Flügelschläge der Augenlider entscheiden muss, ist das jene Szene, in der wir aus einer weiteren Einstellung den erschöpften Ventura sehen. Er hat einen Husten- und Spu(c)kanfall und steht im Schatten einer Lichtung. Mit gebeugter Haltung bebt er zwischen Häusern, Welten und Zeiten. Dabei sind Vögel zu hören, wie ein Moment des Friedens in der (körperlichen) Revolution. Ein derart poetisches Leiden habe ich selten gesehen und gehört.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan – Die Zeit springt

Feuerwerk am helllichten Tage

Es ist dieser Sprung in die Zukunft, der mit einem Moped in einem Tunnel beginnt, der den Schnee, den verdreckten Schnee in die schwarze Kohle bringt. Das Moped verlässt den Tunnel und fährt an einem Betrunken vorbei. Es wird langsamer, dreht um. Hier beginnt das virtuose Spiel der Perspektivwechsel, eine Verunsicherung, eine Leere in der Stille und eine Anspannung im Angesicht der Mitmenschen. Es ist ein Phantom Ride, der umdreht, um zu stehlen. Am Straßenrand liegt völlig betrunken in einem Winterschlaf unsere Hauptfigur. Wir passieren ihn nur als Randfigur, aber wir ergreifen die Gelegenheit. Ab diesem Zeitpunkt herrscht ein Schleier der Verunsicherung über Bilder, Figuren und den Film selbst, der einen kaum mehr loslassen kann.

P’tit Quinquin von Bruno Dumont – Van der Weyden schießt in die Luft

Kindkind Dumont

In Bruno Dumonts Unfassbarkeit P’tit Quinquin herrscht eine anarchistische Derbheit, die sich in der ironischen Umarmung einer Absurdität und Deformation entlädt wie man sie wohl noch nie gesehen hat. Der Naturalist hat sich in einen Surrealisten der Realität verwandelt und mit der zuckenden und stolpernden Figur des Polizisten Van der Weyden hat er die perfekte Verkörperung seiner Welt erschaffen. In einer der vielen irrsinnigen Szenen dieser Figur schießt der gute Mann zum Schrecken seiner Umgebung spontan in die Luft. Es gibt keinen Grund dafür, außer vielleicht den Knall selbst, die Freude und das Adrenalin daran und genau hierin liegt der neue Existentialismus des Bruno Dumont. Man muss lachen und dann fühlt man sich ganz alleine.

Maidan von Sergei Loznitsa-Die Kamera bewegt sich

Maidan Loznitsa

Mein formalistisches Herz erlitt einen Orgasmus als ich sah wie sich der Fels in der revolutionären Brandung, der von einer statisch-poetischen Kamera verkörpert wurde, dann doch dem Schicksal seiner Lebendigkeit ergeben musste und sich ob der zahlreichen Angriffe, dem Chaos der politischen Ungerechtigkeiten und den Prozessen einer Gemeinschaftlichkeit bewegen musste. Mitten im Kampfgeschehen stehend, flieht die Kamera hektisch wackelnd einmal in eine andere Position. Es ist die einzige Kamerabewegung im Film, an die ich mich erinnern kann. Alles andere ist statisch. Fast erstickende Sanitäter torkeln um sie herum und im nebeligen Hintergrund offenbart sich langsam eine schwarze Wand aus Polizisten. Stimmen sind zu hören und immer wieder ein Knall und plötzlich wird uns klar, dass wir gefährdet sind. Denn die Distanz, die wir haben, kann nur gebrochen werden, wenn sie eine Distanz bleibt und in ihrer Distanz angegriffen wird.

Jauja von Lisandro Alonso-Dinesen zieht seine Uniform an

Jauja Alonso

Jauja ist ein Film voller Erinnerung. Vielleicht nehme ich aus diesem Grund ein Bild aus dem Film, das darüber hinausgeht, weil es neben dem somnambulen Aussetzen einer zeitlichen Regung auch einen einsamen Stolz erzählt, der so wichtig ist für unsere Wahrnehmung einer Person, sei es in Träumen, durch die Augen eines Hundes oder im Kino. Kapitän Dinesen (der aus undefinierbaren Gründen für mich beste Name einer Figur im Kinojahr 2014) hat festgestellt, dass seine Tochter in der Leere der Wüste verschwunden ist. Im murnauesquen Mondlicht macht er sich hektisch auf den Weg. Dann bricht er plötzlich ab. Ganz langsam richtet er seine Uniform her. Er kleidet sich. Er bereitet sich vor. Aus der Panik erwächst die Spiritualität, aus dem Mond wird ein entstehender, glühender Feuerball.

La meraviglie von Alice Rohrwacher-Bienenschwarm

Land der Wunder Rohrwacher

La meraviglie ist wohl der einzige Film auf dieser Liste, der dem Leben nähersteht als dem Tod (obwohl er vom Tod erzählt…). Eine schier unendliche Energie geht durch die Alltäglichkeit des Kampfes dieser Bienenzüchterfamilie. Wie ein Sinnbild ohne Metaphorik fungieren dabei die Einstellungen, die sich im Surren und Treiben der Bienenschwärme verlieren. Denn die Lebendigkeit des Films und die organisierte und nur scheinbare Richtungslosigkeit finden sich auch in den schreienden Massen an Bienen. Aber welch Wunder dort wirklich möglich ist, zeigt sich in der Zärtlichkeit des Umgangs der älteren Tochter, die in einem perfekten Erklingen von Schönheit inmitten des Chaos eine Biene aus ihrem Mund klettern lässt. Magie und das ewige Summen bis die Zeit vorbei ist.

Turist von Ruben Östlund-Der POV Hubschrauber

Höhre Gewalt

Ruben Östlund beherrscht in seinem Turist die Psychologie seiner Figuren und jene des Publikums zur gleichen Zeit. Diese zynische Souveränität korrespondiert in ihrer perfiden Perfektion mit dem Inhalt und so ist es nur konsequent, dass Östlund sie mindestens an einer Stelle zusammenbrechen lässt. Diese Stelle findet sich im schockierendsten Perspektivwechsel des Kinojahres. In einem Moment der völligen Erbärmlichkeit, des grausamen Schweigens nach einer Offenbarung des Geschlechterkrieges, fliegt ein Spielzeugufo durch das Zimmer im Touristenhotel. Östlund schneidet in einen POV aus dem Gerät und bricht damit nicht nur die Anspannung sondern zeigt welch sarkastischer Horror sich hinter dieser Psychologie verbirgt. Ich springe jetzt noch, wenn ich mich daran erinnere. Es ist wie eine Erinnerung an die Welt inmitten des Dramas. Es sei natürlich gesagt, dass Turist ein Film ist, der sich mit der Bedeutung eines einzigen Moments befasst. Aber er sucht vielmehr die Momente, die aus einem Moment resultieren.

Journey to the West von Tsai Ming-liang – Lavant atmet

Denis lavant Tsai

Im Fall der Meditation Journey to the West ist es ein Ton, den ich nicht vergessen kann. Es ist das ruhige Atmen des schlafenden Denis Lavant. Seine vibrierenden Nasenflügel, sein Erwachen, das antizipiert wird. Seine ruhende Kraft, die alles mit ihm macht, was es in den Bewegungssinfonien bei Carax kaum geben kann. Ich höre es. Es ist gleichmäßig und es ist von einer ähnlichen Schönheit wie jede Sekunde in dieser Rebellion der Langsamkeit.

Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan – Der verbale Tod

Winterschlaf Ceylan

Nuri Bilge Ceylan erforscht in seinem Winter Sleep die Kraft von Film als Literatur. Er bewegt sich auf einem philosophischen Level mit großen Schriftstellern und macht fast unbemerkt auch noch ungemein gute Dinge mit dem Kino. Ein solcher filmischer Augenblick findet sich in der plötzlichen Abwesenheit der Schwesterfigur nach einem intensiven Dialog mit ihrem Bruder, einem verbalen Mord der Widerwärtigkeiten, Lügen und grausamen Wahrheiten. Sie befindet sich hinter einer geschlossenen Türe und die wie das so ist mit Worten, wird einem die Tragweite von ihnen zumeist nicht im Moment ihrer Aussprache bewusst, sondern im Moment der Reaktion. Hier ist die Reaktion eine Abwesenheit. Im Dunst eines erdrückenden Winters des Selbsthasses.

Phantom Power von Pierre Léon – Die Hände von Fritz Lang

Pierre Léon

Man ist schon trunken, ob der Musik und der Worte, dann kommen die Bilder. Es sind nicht jene Bilder von Léon selbst, sondern es ist dies eine Liebeserklärung an Fritz Lang. Die Hände von Fritz Lang, die zärtlich krallen, die halten und fallen, vielleicht töten, manchmal lieben. Sie sind Bewegung und Erinnerung, in ihnen findet sich ein Stottern im Angesicht einer Sucht, sie sind wie eine Unmöglichkeit zu berühren, sie berühren.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu – Die Angst von Porumboiu

Porumboiu Bukarest

Es ist nur eine kleine Randbemerkung, man bemerkt sie kaum, aber sie ist entscheidend. In diesem Gespräch zwischen Vater und Sohn, im Angesicht eines verschneiten Fußballspiels äußert Corneliu Porumboiu, dass er als Kind Angst hatte vor dem Fernseher. Diese Angst wird nicht weiter erläutert und sein Vater, der das Spiel als Schiedsrichter leitete, geht nicht weiter darauf ein. Aber in dieser Formulierung liegen die Unheimlichkeiten und dir Zärtlichkeit des Films zur gleichen Zeit. Ist es die Angst des Sohnes, wenn er seinen Vater unter Druck sieht? Ist es die politische Angst eines Rumäniens kurz vor der Revolution? Ist es die Angst vor dem Schnee, der Kälte, dem Ende der Welt? Ist es die Angst vor der Zeit, die Angst vor der Erinnerung, ist es gar keine Angst sondern eine Illusion? Ist es eine Vorteilsregelung, wenn der Vater darauf nicht eingeht, ermöglicht er so das Leben und das Spiel, den Fortgang von allem?

From What is Before von Lav Diaz – Es beginnt der Regen

Lav Diaz Locarno

Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass es Geister gibt. Vor kurzem war ich in einem Wald und alles war ganz still. Plötzlich hörte man einen Wind kommen und erst eine halbe Minute später erreichte dieser Wind die Bäume unter denen ich wartete. Er zog durch sie hindurch und weiter in die Tiefen des dunklen Dickichts. Bei Diaz kommt so der Tod. Zunächst sehen wir einen Mann und eine Frau im digitalen schwarz-weiß einer übermächtigen Umwelt an einem Fluss. Plötzlich sieht der Mann etwas Off-Screen, ein unheimliches Gefühl entsteht. Dieses Gefühl entsteht alleine aus der Zeit, die Diaz fühlbar macht. Es beginnt zu regnen. Etwas ist passiert, wir haben es gespürt. Es wirkt als würde ein böser Geist erscheinen, man bekommt es mit einer unsichtbaren Angst zu tun. Dabei denke ich an den Wind im Wald. Dann erscheint im Bildhintergrund eine leidende Frau. Sie bricht zusammen und beklagt weinend den Tod ihres Sohnes. Kurz darauf sitzt sie in einem Kreis und singt über den Tod ihres Sohnes und ihr Schicksal. Die Frauen und Männer, die um sie sitzen beginnen nach und nach zu weinen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, man muss selbst weinen, man spürt jeden Tropfen Verlorenheit, persönlich und politisch.

Leviathan von Andrey Zvyagintsev – Das Meer

Leviathan

Immer wenn Zvyagintsev das Meer filmt, findet seine Kamera das profunde Wesen seiner Ambition und erreicht eine spirituelle Kraft, die dem modernen Kino ansonsten aufgrund seines reflektierten Zynismus abgeht. Leviathan ist ein Film wie die Philosophie einer brechenden Welle, ein wundervolles Monster im Ozean, es treibt dort seit Jahrhunderten. Es ist ein suizidaler Magnet, eine andere Welt, eine Grenze. Das Meer ist auch trügerisch, denn hier finden sich zugleich der Tod und das ewige Leben. Es ist eine sehnsuchtsvolle Lüge und in der Weite erblickt man entweder die Hoffnung oder die Hoffnungslosigkeit. Das Meer kann uns alles geben und alles nehmen. Hier ist die Natur, die Bewegung und die Reise in einem Bild.

Filmfest Hamburg: Turist von Ruben Östlund

Turist Ruben Östlund

Manchmal spielen Menschen Liebe, Schmerz oder Familie, um diese zu bewahren, um sich nicht einzugestehen, dass es eigentlich ganz anders wäre. Dann lächeln sie, auch wenn es sie innerlich zerreißt und sie sind zärtlich, auch wenn sie schreien müssen. Und manchmal handeln sie dann doch so wie sie fühlen. Sie schreien, schlagen und laufen davon. Meist folgt die Scham oder die Verdrängung. Beides ist unglücklich und absurd. Es gibt dieses Versprechen am Anfang einer Liebe: Wir sind anders. Und es gibt dieses Versprechen in jedem von uns: Ich bin richtig. Erst, wenn man bemerkt, dass dies Lügen sind, kommt die Krise. Im Fall von Turist von Ruben Östlund, der bislang der bei weitem beste Film ist, den ich auf dem Filmfest in Hamburg und im Kinojahr 2014 gesehen habe, kommt sie durch ein traumatisches Erlebnis, wie eine Explosion aus den Gefühlen und Instinkten seiner Figuren. Ein Schlag in die Mägen all jener, die an die Wahrheit der Liebe glauben, ein Film, bei dem mir kalt wurde, den ich körperlich spürte.

Es geht um eine schwedische Familie, die in den französischen Alpen Skiurlaub macht. Gleich in der ersten Einstellung lassen sie sich von einem Profifotografen im verlorenen Weiß der Berge fotografieren und halten so einen Moment fest, weil ein Moment hier alles verändern kann, weil er zählt und Dinge definiert. Später wird diese Familie auf der wunderschönen Terrasse des Hotelrestaurants sitzen und einen dieser zahlreichen knallenden Schüsse hören, die kontrollierte Lawinen auslösen. Dann sehen sie eine Lawine auf sich zu kommen. Aber kein Grund zur Panik, denn es handelt sich ja um eine kontrollierte Schneemasse…oder? Oder nicht. Instinktiv greift Tomas nach seinem Handy statt nach seinen Kindern und seiner Frau Ebba und rennt davon. Ebba hält sich schützend über ihre Kinder und verschwindet in einem weißen Dunst. Die Lawine ist vorher zum stehen gekommen. Das war nur der aufgewirbelte Schnee. Aber eine andere Lawine wurde losgetreten. Jene, die eine ganze Familie, eine ganze Liebe, ein ganzes Leben mit einer Sekunde in Frage stellt.

Turist von Ruben Östlund

Damit bewegt sich Östlund auf ähnlichem Terrain wie zuletzt Julia Loktev in ihrem The Loneliest Planet. Verrät hier das Unterbewusstsein etwas über die Wahrheit einer Person? Hatte Loktev ihre Handlung in der georgischen Steppe beobachtet und damit eine Isolierung und Leere zum Teil ihrer Sprache gemacht, findet Östlund sein Pendant in der Künstlichkeit und fehlenden Anonymität eines bizarren Skihotels. Bizarr ist weniger das Hotel sondern die Art, in der Östlund es filmt. Es wirkt durch sein Framing und durch die Musikuntermalung mit Vivaldi so als wäre das ganze eine Kunstwelt, vielleicht ein Freizeitpark, jedenfalls nichts echtes. Selbiges gilt für die Skipisten, die immerzu im Nebel verschwinden oder in geometrischen Formen aufgelöst werden. Dort scheinen Maschinen ihr eigenes Leben zu führen ganz so wie ein merkwürdiger Mann vom Hotelpersonal, der als ständiger Beobachter (und vor allem als einziger Beobachter) die nächtlichen Konflikte im Hotel beobachtet und sich dabei eine Zigarette anzündet. Damit erinnert Turist unter anderem an Jia Zhang-kes The World, indem das Setting auch ein deformierter Star war.

Darin liegt – und das ist wirklich bemerkenswert – Komik. Mancher bezeichnet Turist gar als Komödie. Das geht, weil Östlund mit einem derartigen Zynismus und einer brutalen Schärfe auf die Lügen einer Liebe und familiären Beziehung blickt und das immer wieder mit schockierenden Momenten (ein Ufo-Angriff in einem kontemplativen Moment oder ein OneLiner am Ende eines existentialistischen Gesprächs) aufbricht. Aber der Humor hat hier immer eine Kehrseite der wahrhaftigen Offenbarung, genauso eben wie die Realität immer etwas Absurdes hat. So werden Tränen vorgetäuscht und Launen wechseln ständig, Versprechen werden nicht gehalten und immer wieder wird versucht, ein Bild zu bewahren. Ein Bild von einem Ideal, das scheitern muss. Für Tomas führt das in einen Selbsthass. Bei Ebba in paranoiden Eskapismus. Mir ist immer noch kalt, ob der tatsächlichen Show, die die Eltern dann vor ihren Kindern abspielen, um die Rolle des Vaters wiederherzustellen. Diese Familie macht den ganzen Film nichts anderes als ein Familienfoto. Nur, dass man deutlich sehen kann, dass es nicht echt ist.

Der einzige Moment wahrer Liebe findet sich kurz vorher als die Kinder das geben, was ihr Vater ihnen nicht gab: Schutz. Als er heulend zusammenbricht werfen sie sich auf ihn und versuchen ihm zu helfen. Der einzige Moment von Wahrheit, der einem von Östlund brutal entrissen wird. Brutalität ist allgemein ein gutes Stichwort. Östlund denkt sich – und hier würde ein Kritikpunkt ansetzen, wenn er es nicht so perfekt machen würde – viele kleine Gemeinheiten aus, die seine Figuren weiter entzweien, gegeneinander und untereinander. So werden zwei Freunde der Familie am Abend zum Essen eingeladen und vor ihnen wird das ganze psychologische Theater zwischen Verdrängung und Hass durchgespielt. Wie auf einer Buñuel-Bühne des sarkastischen Selbstmitleids. Aus einer fast voyeuristischen Lust wird die Kamera dem befreundeten Paar in ihr Bett folgen und beobachten welche Krisen durch dieses Erlebnis in ihrer Beziehung entstehen. Als würde es die Zuseher in der Nacht nach dem Film filmen. Später sitzt Tomas mit jenem Freund bei einem Bier auf der Terrasse. Eine junge Frau kommt zu ihnen, sie scheint sie anzubaggern. Sie sagt, dass ihre Freundin gesagt hat, dass Tomas der schönste Mann auf der Terrasse sei. Es läuft Club-Musik, sie tragen Sonnenbrillen und trinken Bier. Sie lächeln und sind lächerlich cool. Dann kommt die Frau zurück und entschuldigt sich. Es wäre gar nicht um Tomas gegangen, sie hätte sich getäuscht.

Turist2

Östlund lässt einen Geschlechterkampf entstehen. Dieser folgt aber weniger einer großen biblischen Idee sondern einer ungeheuren Beobachtungsgabe und den Figuren selbst. Damit steht er trotz oder gerade wegen der humoristischen Einflüsse in Verbindung mit Ingmar Bergman und Bruno Dumont (vor allem dessen Twentynine Palms). Es geht darum ein Gesicht zu haben und es zu verlieren, es zu wahren, es zu vergessen, es zu akzeptieren, es zu hassen, es zu lieben. In Filmen wie Climates von Nuri Bilge Ceylan oder den genannten Twentynine Palms und The Loneliest Planet suchen Regisseure nach der verbitterten Seele der Liebe, dem Abgrund von Beziehungen. Sie werden dafür oft kritisch beäugt, denn meist entstehen Filme, die einem Schmerzen zufügen oder mit denen man nicht einverstanden ist. Zyniker stehen prinzipiell über dieser Art von Film. Es wird ignoriert, dass das ihre Größe ist, weil sie eine Ehrlichkeit besitzen, die ihren Subjekten oft fehlt. Bei Turist ist das Außergewöhnliche, dass er es schafft zynisch von Gefühlen zu erzählen und gefühlvoll von Sarkasmus. Er hat einen Film aus und mit einer Angst gemacht. Das Ungewisse in einem selbst, die Schutzlosigkeit, das Schauspiel, der Egoismus. Einer der besten Filme über die Heuchelei in menschlichen Beziehungen. Und doch ein Liebesfilm.