Woche der Kritik: Wenn Bilder sich gegenseitig verschlingen

Nakorn-Sawan von Puangsoi Rose

Woche der Kritik Tag 2 – Donnerstag, der 7. Februar 2019

Am zweiten Abend hat die Woche der Kritik ein Double Feature mit zwei Werken junger FilmemacherInnen gezeigt. Zunächst wurde Nakorn-Sawan von der in Deutschland tätigen thailändischen Regisseurin Puangsoi Rose Aksornsawang gezeigt, im Anschluss Gulyabani von Gürcan Keltek aus der Türkei. Die beiden Filme sowie das nachfolgende Gespräch (dem ich leider nicht beiwohnen konnte) wurden unter dem vielversprechenden Titel „Widerstand gegen das Verschwinden“ angekündigt. Ist das nicht die Kernaufgabe eines jeden Künstlers, um so mehr eines Filmemachers? Ist seine Arbeit nichts anderes, als Bilder vor dem Auslöschen und dem Vergessen zu retten? Und gilt es nicht in einem noch wichtigeren Maß für uns Zuschauer, die in der künstlich erzeugten Dämmerung des Kinosaals nur danach streben, dem einen Bild zu begegnen? Dem kleinen Irrlicht, das wir, alsbald auf der Leinwand nichts mehr zu sehen ist, bei uns, in den Tiefen unseres Gedächtnisses, wach zu halten versuchen? In einem vielleicht konkreteren Sinne ging es in den zwei Filmen um das große Thema „Verschwinden“, sei es auf der Ebene einer Familiengeschichte (Roses Film) oder auf einer abstrakteren, fabelhafteren und zugleich politischeren Stufe (genau das, was Keltek in den gelungensten Momenten seines Filmes in Bilder fasst).

In Nakorn-Sawan inszeniert Puangsoi Rose ihre Rückkehr nach Thailand, zu ihrer Familie und deren Kautschukplantage. Sie hat einen längeren Aufenthalt in Deutschland hinter sich, wo sie gelebt und Kunst studiert hat. Die ersten Bilder sind – absichtlich, wie es sich später herausstellt – in etwas mittelmäßiger Video-Qualität gedreht. Die ersten Minuten, ruhig, wortkarg, mal rätselhaft, zeigen den Alltag der Eltern im Wald, als Zuschauer könnte ich mich damit zufriedenstellen, doch kommt plötzlich der Bruch, der alles zerstört, ja, der alles Vergnügen, allen Spaß am Beobachten verdirbt. Auf einmal wird das Bild sauberer, der Einstellungsrahmen sorgsamer eingerichtet, die Eltern, der Wald, die Eltern im Wald sind verschwunden, durch andere Figuren ersetzt, von denen man sofort begreift, dass sie Darsteller sind. Weg mit dem Wirklichen, mit dem Dokumentarischen, mitten hinein in die Fiktion, scheint uns die Filmemacherin damit zu treiben. Durch diese zweite narrative Ader, die viel statischer ist als die erste, findet sich Rose in der Figur einer jungen Frau und ehrgeizigen Filmstudentin wieder, die anscheinend eine besonders starke Beziehung zu ihrer Mutter pflegt. Einen Bezug zwischen den zwei erzählerischen Linien gibt es schon, nur ist es legitim, zu fragen, was genau sich aus diesem Kollidieren zwischen Fiktion und Dokumentarfilm ergibt. Denn schnell hat man den Eindruck, vor einem überaus willkürlichen, wenig ausgedachten Zusammengesetztem zu sitzen. Die dokumentarischen Stellen scheinen das nie wirklich zur Durchführung kommende Versprechen echten visuellen Funkelns in sich zu bergen, dahingegen fühlt sich die Fiktion sehr kalt, fast leblos, an.

Mit ihrem letzten Film, No Home Movie, war es Chantal Akerman gelungen, eine ganze Welt von Erinnerungen, Filmbildern, Geisterbildern, Fiktionen, ausschließlich mittels einer kleinen HD-Kamera aufzutun. Wie bei Roses Nakorn-Sawan ging es in Akermans Film um die leidenschaftliche, nie richtig zu entschlüsselnde Verbindung zur Mutterfigur. Doch wo die belgische Filmemacherin eine ganze Flut an Bildmaterial – nicht zuletzt einen pixeligen Laptopschirm während einer Skype-Unterhaltung – für ihre Erzählung nutzte, bleibt Rose bei einem überraschungsarmen theoretischen Ansatz stehen. Im Abspann („in memory of my mother“) versteht man, dass diese Mutter verschwunden ist, dass der Film sie wiederbeleben möchte. Dass ich an keiner Stelle richtig berührt worden bin, kann ich nur dadurch erklären, dass dieser Mutter stets eine konkrete, räumliche Anwesenheit verweigert wird. In einer Szene zum Beispiel, filmt Rose – man hört ihre Stimme im Off – ihre Eltern als sie dabei sind, sich einen ihre Kurzfilme auf dem Laptop anzuschauen. Der Screen wird uns aber nie gezeigt. In einer anderen Szene, im letzten Teil des Filmes, wirft die Mutter einen emotionalen Blick auf alte Familienfotos, sagt der ihr gegenüber sitzenden Tochter bei jedem Bild, das sie in ihrer Hand festhält: „Erinnerst du dich?“ Ab und zu fängt sie sogar an, ihr ein Foto zu reichen, doch jedes Mal unterbricht sie plötzlich diese Bewegung des Reichens in dem Moment, in dem die Vorderseite des Fotos sichtbar werden könnte, als wäre sie dazu aufgefordert, diese Bilder auf keinen Fall zu zeigen.

Man könnte sich wohl denken, dass dieses Ausweichen vorm Bildhaften ganz bewusst erzeugte Lücken sind, die zu einer Ästhetik des Unsichtbarmachens, der Verfremdung, beitragen. Diese Hypothese ist jedoch, angesichts des dürftigen, viel zu psychologischen fiktiven Teils, überhaupt nicht haltbar – man denke zum Beispiel an eine der letzten Szenen der „Fiktion“, in der die junge Frau sich mit einem ehemaligen Liebhaber im Hotelzimmer, irgendwo in einer unbenannten Stadt, trifft. Bedeutungsschweres Schweigen und etwas faule Nahaufnahmen sorgen für ein sofortiges Verständnis der Situation: die wachsende Reue, dass die große Liebe gescheitert ist. Gut, und weiter? Nakorn-Sawan ist also ein Film, der sich durch eine Welt, ja, einen Makrokosmos an Bildern durchwühlen möchte, der sich dabei aber leider selber im Wege steht, weil er sich an fast keiner Stelle die Zeit nimmt, diesen Bildern zu folgen. Paradoxerweise wird das Retten vorm Verschwinden langsam zum unausweichlichen Verschwinden aller Visionen. Eine Zusammenstückelung von verstreuten Vignetten, deren Verstreuung einfach zu nichts führt.

Gulyabani von Gürcan Keltek

Gulyabani von Gürcan Keltek

In Gulyabani von Gürcan Keltek wird eine andere Art von Verschwinden inszeniert, zudem in einer viel experimentelleren Herangehensweise. Der Film beginnt mit sehr körnigen, in grauen und brauen Farbtönen gehaltenen Aufnahmen. Laub ist zu sehen, ruhig auf dem kalten Wasser treibende Baumblätter. Stellenweise bricht ein schwaches Licht durch die Baumkrone, während auf der Tonspur die herrliche Ruhe und die wilde Polyphonie der Umgebung die Bilder sanft ins Schwanken bringt. Gleichzeitig beginnt im Off eine ebenso sanfte weibliche Stimme, eine Geschichte zu erzählen. Eine Mischung aus einer historischen Chronik der modernen Türkei, archaischer Mythologie und Sci-Fi-artigen Zügen, das ein Gegengewicht zu den konkreten, bodenverhafteten Bildern darstellt. Es folgen langsame Aufnahmen der Naturelemente – Regen, der in dicken Tropfen vom Dach herabfällt, der Schmutz auf Wandflächen –, die sich in eine „wässrige Dichte“ zusammenflechten. Ein Vergleich mit den Filmen von Andrei Tarkovsky drängt sich auf. Eine Filmerinnerung, die jedoch niemals störend oder akademisch wirkt, da der Schnitt diesem feinen Geflecht eine sehr nüchterne Zerbrechlichkeit verleiht. Gerade diese teils durchsichtige, nicht aufzubewahrende visuelle Dichte ist es, die uns der Film in seinen schönsten Momenten anbietet – eine Konkretion der Elemente, die auch im Bruch zwischen den zwei Teilen der Erzählung ziemlich geschickt ins Spiel gebracht wird. Diese mündet bald in eine viel mineralischere, trockenere und buntere Welt, während die Stimme im Off an politischem Ärger gewinnt. Doch die Überanwesenheit der Off-Stimme ist schon vor ein paar Minuten zum störenden Trick geworden, genauso wie das Sounddesign, das den Film zum Ende hin immer stärker mit elektronischen Tönen durchdringt.

Ich spüre einen in mir wachsenden Ärger, dass ich mir diese kryptische Tongestaltung anhören muss, während die Bilder allmählich einen faszinierenden Schwindel von Farben und Lichteffekten aufbauen. Wo die Bilder sich wie von allein auf den Weg zu Neuem, Unerwarteten machen, so blickt der Ton einfallslos in die Vergangenheit des Kinos, indem er versucht, Filme wie Chris Markers Sans soleil nachzumachen (eben diese elektronischen Tönen, verbunden mit der im Off erzählten Geschichte eines Mannes, der quer durch die Epochen und durch die Zeit, bis weit in die Zukunft hinein reist, auf der Suche nach seinen Erinnerungen). Für ein paar Minuten, kurz vor Ende des Filmes, verstummt die Stimme stellenweise und Gulyabani wird zu einem hypnotischen Erlebnis. Durch Emulsionen auf Film, das Auge durchstechende Cuts auf schwarzweiße Straßenaufnahmen und einen sehr schönen epileptischen „Splitscreen“. Nach der Vorführung bin ich ganz wach, der schläfrige Zuschauer vom Beginn hat sich gewandelt, ist komplett verschwunden. Das Screening ist zu Ende. Nun ist es an der Zeit, dass ich verschwinde, obwohl der Abend und die Diskussion noch nicht vorüber sind.

Postkarten aus dem Off: Chris Marker auf DocAlliance

Lettre de Sibérie von Chris Marker

Zum 50. Geburtstag der Viennale hat Chris Marker 2012 den Festival-Trailer gestaltet. Diese rund 100 Sekunden hat man als passionierter Viennale-Besucher sicher einige dutzend Male gesehen; zudem ist Kino (so der Name des Trailers) im Internet frei zugänglich, um ihn sich wieder und wieder ansehen. Das habe ich getan, als Einstieg für meine Beschäftigung mit Marker und es ist verblüffend, wie viele lose Enden und potentielle Anknüpfungspunkte in diesem kurzen Trailer stecken. Wenn man sich durch Markers Oeuvre bewegt (und darüber nachdenkt/schreibt), lohnt es sich immer wieder darauf zurückzukommen.

Kino ist zugleich ein kleiner, persönlicher Rundgang durch die Filmgeschichte, eine mediale Spielerei, eine Übung in Non-Konformität, eine Karikatur und eine politische Attacke. Marker begibt sich auf die Suche nach dem idealen Zuschauer und findet Mitstreiter in Georges Méliès, D.W. Griffith, Orson Welles und Jean-Luc Godard. Recht krude animierte Bildcollagen zeichnen die Entwicklung der Kinotechnik und der Rezeptionsweise von Filmen nach. Am Ende findet Marker (und das Kino) seinen perfekten Zuseher in Osama Bin Laden, der auf einem Fernseher Tom & Jerry-Cartoons schaut. Eine einigermaßen irritierende Abhandlung der Filmgeschichte findet ihren Abschluss in einer etwas platten Spitze gegen den amerikanischen Imperialismus.

Kino ist

Ich kann nicht so recht festmachen weshalb, aber immer wieder zieht es mich zu diesem Trailer zurück, wenn ich über Marker nachdenke. Vielleicht, weil Kino ein geradezu exemplarisches Werk in Markers Filmographie ist, genauer in einer Reihe von kleineren Arbeiten, die ich liebevoll als Kleinode bezeichnen würde. Mal irritieren sie, mal faszinieren sie, mal können sie einen nicht so recht überzeugen, aber auf jeden Fall füllen sie den filmischen Kosmos Markers mit Leben. Es sind kleine Eindrücke der Welt, die Marker sammelt (in dieser Hinsicht ist er seiner Freundin Agnès Varda nicht unähnlich): der angeschwemmte Müll in der kalifornischen Bay Area in Junkopia, die Vision der Gewerkschaft der Zukunft in 2084, die eigenwillige Konfrontation von politischem Protest und Katzengraffitis in Chats perchés; man könnte diese Liste noch weiter fortsetzen, wenn man tiefer in diese Filmographie eintaucht.

Diese kleineren Werke, oft nur wenige Minuten lang dienen als Brücken, als Staffage zwischen den großen Antipoden politischen Filmemachens, die Marker einen vorderen Rang im Pantheon des Autorenkinos eingebracht haben. Manchmal scheint es mir, dass diese kleinen Übergangswerke, dieses filmische Füllmaterial eine Art Schlüssel darstellt, um den roten Faden in Markers Gesamtwerk zu erkennen. Während er in seinem (je nach Version) zweieinhalb- oder dreistündigen Film Le joli mai ein Stimmungsbild von Paris (und eigentlich von ganz Frankreich) im Mai 1962 zeichnen will, oder im (je nach Version) drei- oder vierstündigen Le fond de l’air est rouge eine ganzheitliche Erklärung der Linken Internationalen im Sinn hat, oder in seiner Fernsehserie L’Héritage de la chouette nichts weniger als die Aufarbeitung der gesamten Aufarbeitung der abendländischen Philosophiegeschichte anstrebt, sind seine kürzeren Werke kleinteiliger organisiert. Es sind kleinere Episoden, Fundstücke der Reisebewegungen, die Marker für seine Filme rund um die Welt geführt haben, oftmals in humorvollem Ton erzählt und mit allerlei Absurditäten versetzt.

Dimanche à Pékin von Chris Marker

Dimanche à Pékin von Chris Marker

Gruß aus Sibirien

Markers Filme anzusehen, fühlt sich ein wenig an, wie mit ihm auf Reisen zu gehen. Diese Reisen führen direkt vor die Haustüre (Le joli mai), in fremde Länder (Dimanche à Pékin) oder durch die Zeit (La jetée). Die Online-Retrospektive zu Chris Marker von DocAlliance bietet im Moment Gelegenheit eine solche Reise zu starten.

Ein möglicher Ausgangspunkt dafür ist Lettre de Sibérie, ein filmischer Reisebericht aus dem sowjetischen Sibirien. Es beginnt mit Landschaftsaufnahmen der eisigen Weiten, dazu meldet sich eine Stimme aus dem Off zu Wort. Was zunächst eine trockene ethnografische Studie erwarten lässt, kippt schon bald in ein absurdes Kuriositätenkabinett. Marker schildert die aussichtslosen Versuche der zivilisatorischen Expansion der Sowjets in die unwirtliche Natur. Mit ironischem Ton erzählt der Film vom müßigen Ankämpfen gegen die klimatischen Bedingungen und zeigt die charmant-schrulligen Auswüchse des sibirischen Frontier-Lebens: ein zahmer Bär wird an der Leine durch die Stadt geführt; Nomadenstämmen werden feste Wohnorte zugeordnet, an denen sie sich jahrelang nicht blicken lassen; dem Rentier, Alleskönner der subpolaren Zone, werden Loblieder gesungen.

Marker bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen einer genuinen Faszination für das Exotische und paternalistischem Belächeln, zwischen Sympathie für kommunistische Ideen und der Erkenntnis, dass sie nur schleppend umgesetzt werden, zwischen sorgfältig recherchierter Reportage und satirischer Ethnografen-Parodie. Obwohl die Bilder und der Kommentar von einer Zuneigung für diese Orte und die Menschen zeugen, bleibt der Film nicht kritiklos. Obwohl diese Kritik oft in komödiantischer Form vorgebracht wird, ist sie nicht frei von politischer Bissigkeit. Das gibt dem Film eine Ambivalenz, die weit über oberflächliche politische Satire hinausgeht, da letztendlich immer der Respekt für das Sujet spürbar bleibt und der Film seine eigene manipulative Kraft selbst zum Thema macht: in einer berühmten Sequenz wird die gleiche Sequenz dreimal mit unterschiedlichen Kommentaren wiederholt.

Man könnte sagen, Markers Reisefilme wie Lettre de Sibérie, Dimanche à Pékin oder Description d’un combat gipfeln in Sans soleil, wo nicht mehr die Reise zum Film wird, sondern der Film die Reise ist, eine physische Reise rund um den Erdball und zugleich eine gedankliche Reise durch die Ideenwelt von Chris Marker.

Das Spiel, ein Leben

Weniger buchstäblich ist „Reise“ in Level Five zu verstehen. In einem Dialog zwischen der Protagonistin Laura (Catherine Belkhodja) und Markers Voice-over-Kommentar wird die Schlacht von Okinawa aus dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Der Film folgt dabei lose der Dramaturgie des imaginären Videospiels, an dem Laura arbeitet. Das Spiel muss unvollendet bleiben, weil der Computer, die Rechenmaschine, das ultimativ Rationale keinen Eingriff in die Geschichte zulässt. Die amerikanischen und japanischen Truppen lassen sich nicht einfach hin- und herschieben, der Verlauf der Geschichte darf nicht verändert werden.

Die Vorgehensweise des Films präzise zu beschreiben fällt schwer. Denn die Spiele-Metapher kreuzt sich mit Archivaufnahmen, kruden Animationen, Interviews und reportageartigen Bildern des Okinawa von heute. Das Spielemenü dient schließlich nur mehr als Kapitelmarke, als Skelett, an dem sich die verschiedenen audiovisuellen Materialien festklammern. Level Five hat vieles, was den meisten Arbeiten aus dem Bereich der artistic research fehlt: der Film ist eine Aufforderung an sein Publikum die Materialien mental selbst zu montieren, gibt aber zugleich unterschiedliche Interpretationsvorschläge. Im Zwiegespräch von Markers Kommentar und Lauras Monologen entsteht daraus eine selbstreflektierte Kritik am eigenen Material. Level Five vermittelt ohne zu schulmeistern, konfrontiert Bilder mit Bildern, Töne mit Tönen und Bilder mit Tönen, initiiert ein Versteckspiel der Bedeutung, so wie Markers gesamte Karriere ein Versteckspiel (hinter Katzen und Eulen) ist.

Ohne Sonne im Meer in Island liegt ein Film

In Island wurde ein Film im Meer gefunden: Filmisland

Sie haben einen Film aus dem Meer geholt. Fischer in Island. Ihre Hände. Netze voller Algen im Meer. Die gleichen Bewegungen im Sturm. Salz in der Luft. Plötzlich waren Filmdosen im Netz. Gefangen, geborgen. In Island im Sommer im Sturm. Derevenskij Detektiv heißt der Film. Ein russischer Film in Island. Man hat es herausgefunden. Man kann ihn sehen. Das Meer, Salz, Wind, Haie, sie haben ihn nicht berührt. Der Film im Meer in Island. Die Fischer, haben sie diesen Film gesehen? Haben sie den Film mit ihren salzigen Händen berührt? Sie haben gesungen, bestimmt. Ein isländisches Lied und dabei haben sie sich an das erste Bild in Sans Soleil erinnert. In der Kajüte in der Nacht steht ein Filmprojektor. Es war eine stürmische Nacht. Das Meer hat den Film gesehen. Jede Nacht. Jeden Tag. Die Fischer haben getrunken und gesehen. Den Film in einer Kajüte. Im Sturm, alles hat sich bewegt. Die Wellen waren die Leinwand. Das Bild hielt stand. Sie haben den Film nicht gesehen. Sie hatten Angst vor dem Film. Er war kein Fisch.

sans soleil

Wer hat den Film ins Meer gebracht? Geworfen, verloren. Eine Frau, sie trägt keinen Lippenstift, sie spielt im Film. Sie steht auf einem Schiff und fährt. Ein schwarzer Mantel, ein schwarz/weißer Schal, ihre Hand auf der Reling, eine kurze Verzögerung bevor sie winkt. Ich kann die Bewegung nicht festhalten, weil das Schiff fährt. Sie mit dem Film. Es war diese Frau, die den Film ins Meer gebracht hat. Sie ist nach Island gefahren. Durch die Nacht. Sie ist nach Island gefahren, um sich zu vergessen. In der Nacht hat sie getrunken, viel getrunken, sie wollte ihre Erinnerungen von Bord werfen. Es war Nacht in Island. Sie hat die Filmdosen genommen, sie waren schwer, sie hat sie geworfen. Ihre Hand ist dabei ausgerutscht. Man kann dort noch heute eine kleine Narbe sehen. Zwischen Daumen und Zeigefinger. An der Reling. Sie hat nicht gehört wie der Film auf das Wasser getroffen ist. Das Boot war zu laut, die Wellen, die Schreie im Meer. Dann hat sie getrunken. Mit den Fischern. Sie haben gesungen. Den Film hat es nie gegeben.

Es ist geschehen, als niemand geblickt hat. Das Meer hat den Film verlangt. Es ist etwas in dieser Fassung, in dieser Kopie, was nie gesehen werden sollte. Es ist ein Bild, nur drei Sekunden, ein flüchtiger Kuss, der alles verändern könnte. Ein Kuss, der herausgeschnitten wurde. Ein Kuss auf dem Boot im Meer in Island. Algengeruch. Die Fischer in der Kajüte hätten diesen Kuss sehen können. Für sie hätte er nichts mehr bedeutet. Sie haben gesungen. Er war nicht für alle Augen bestimmt. Das Meer hat den Kuss geschluckt, gesehen, es hat ihn verlangt. Er hat seinen dicksten Mantel angezogen, eine Mütze. Er hatte Angst. Es war Winter in Island. Er stand auf einer Klippe im Wind. Er hat die Filmdosen zusammengebunden, damit keine entkommen kann. Sie haben geschrien, die Filmrollen in den Dosen, dieser Kuss hat geschrien. Der Mann wusste nicht, dass Filme Kiemen haben. Er hat ihn ins Meer geschleudert. Für ihn war der Film nur der Verräter einer geheimen Leidenschaft. Er starb trotzdem. Der Kuss nicht.

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Könnte das Meer den Film auch beschützen? Vor dem Feuer, im Meer könnte er nicht verbrennen. Die Fischer in Island rauchen nicht. Sie halten ihre Hände im Salzwasser und ihre Augen verdursten. Ein Verrückter ist auf dem Schiff gewesen. Die Frau mit dem schwarzen Mantel hat ihn gesehen. Er hat den Kuss gesehen. Nur drei Sekunden, ein kleiner Schnitt, es tut nicht weh, es tut so weh. Er wollte sich anzünden. Mit Benzin ist er über das Schiff getorkelt, hat geschrien, wir haben ihn nicht gehört, da das Boot zu laut war, die Wellen und die Schreie des Ozeans. Nicht dieser Film, nicht dieser Film, dachte ein Produzent, der nichts mehr sonst hatte außer Derevenskij Detektiv. Er hat den Film genommen, in Panik mit aller Kraft, und ist mit ihm ins Wasser gesprungen. Seiner Frau und seinen zwei Kindern hat man es nie erzählt. Der Film hat ihn auf den Grund gezogen. Als seine Lungen platzen sah er den Kuss, der ihm seine Karriere gekostet hätte. Der Filmproduzent, der gegangen ist. Es erinnert ein wenig an Humbert Balsan, an Le Père de mes enfants . Aber welcher Produzent muss nicht ins Wasser springen und mit seinen Filmen sterben? Dieser Film in Island im Sturm ist keine besondere Geschichte. Nur die Geschichte des Films im Meer in Island im Sturm.

In diesem Film ist das Meer. Um diesen Film ist das Meer. Als wären in und um im Film nicht immer das Gleiche. Die Fischer haben den Film verstanden. Sie konnten nichts verstehen, es war russisch. Aber sie haben das Meer gesehen und die Frau und sie haben verstanden. Den Kuss haben sie verpasst. Der Schatten einer Welle hat das Bild überdeckt. Die Kinder am Anfang von Sans Soleil sehen diesen Film nie, sie kennen diesen Kuss nicht. All die Filme im Meer, all die verlorenen Bilder, die wahre Geschichte des Kinos. Das Kino, das verschwunden ist, das man nie gemacht hat. Im Ozean. Wie viele Filme liegen dort, wie viele Küsse und Träume?

Aus der Donau wurde kürzlich auch ein Film geborgen. Flaschenpost, weil das Wasser durch die Zeit fließt. Man findet sie. Fischer finden sie. Sie tragen keinen Lippenstift. Mit ihren Algenhänden.

Korrespondenz mit der Zeit: Ein Langzeitgespräch mit Philipp Hartmann

Vor fast einem Jahr am Rande des Filmfests Hamburg lernte ich den Filmemacher Philipp Hartmann kennen. Zuerst wollte ich über seinen Film Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe schreiben, aber dann kam mir die Idee, dass man doch ein Langzeitgespräch führen könnte. Es begann ein Mailaustausch, der sich zwar hauptsächlich um seinen Film dreht, aber immer wieder auch vom Vergessen handelt, vom Vergessen des Kontakthaltens, Vergessens des Films, Vergessen der Zeit.

Während unserer Korrespondenz reiste der Filmemacher durch ganz Deutschland, um seinen Film auf einer großen Kinotour zu begleiten. Diese Eindrücke verfolgen seine Gedanken zu seinem eigenen Werk spürbar. Letztlich dreht sich das Gespräch vielleicht mehr um die Zeit selbst als um diesen Film über die Zeit. Jedoch treffen sich die beiden in der gleichzeitigen Unendlichkeit und der Flüchtigkeit ihres Daseins.

Die Gedichte zwischen den Fragen und Antworten sind L’Horloge und L’Ennemi von Charles Baudelaire und wurde von mir ergänzend nachträglich hinzugefügt.

Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe

 

Hallo Philipp,

es freut mich, dass du dich auf diese Idee einer Korrespondenz bezüglich deines Films und des Filmemachens im Allgemeinen einlassen willst. Es hat etwas länger gedauert, da ich derzeit als Regieassistent bei einem Film mitwirke, in der Fertigstellung eines eigenen Films bin und die Viennale unmittelbar bevorsteht. Mich interessiert sehr wie deine Kinotour läuft. Du reist ja mit deinem Film Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe durch ganz Deutschland und bist derzeit in meiner Heimat im Süden. Wie sind die Reaktionen? Sind die Häuser gut gefüllt?

Erst gestern war mir dein Film wieder ganz präsent. Es gab plötzlich ein herbstliches Gewitter in Wien und irgendwie musste ich dann daran denken, wie in deinem Film-in der für mich bewegendsten Szene-die Zeit und das Wetter plötzlich dasselbe bedeuten…es ist, wenn dieser spanische Spruch, dass alles was hier passiert die Zeit ist, vom Regen weggewischt wird und du in einer unheimlichen Erkenntnis feststellst, dass Zeit und Wetter im Spanischen aus dem selben Wort kommen. Wie ist das für dich mit dem Film zu reisen? Kannst du dich so an die Zeit des Films klammern oder ist die schon zu weit entfernt? Im Film kommt bei mir die Idee an, dass alles nur ein Augenblick ist, alles ist schon vergangen, wenn es dir bewusst wird…sozusagen die Flüchtigkeit von Glück, aber auch die Flüchtigkeit von Leid. Es ist sehr interessant, dass du dich ausgerechnet mit Film diesem Thema näherst. Ich empfinde zwar Zeit als den natürlichen Motor von Film, aber damit speicherst du ja gewissermaßen die Momente. Du kannst sie immer wieder ansehen, sie bleiben. War das eine Idee hinter dem Film, diese Kollision aus Fließen von Zeit und daran Festhalten?

Viele Grüße aus dem gewittrigen Wien,

Patrick

L’Horloge

Horloge! dieu sinistre, effrayant, impassible,
Dont le doigt nous menace et nous dit: «Souviens-toi!
Les vibrantes Douleurs dans ton coeur plein d’effroi
Se planteront bientôt comme dans une cible;

The Clock

Impassive clock! Terrifying, sinister god,
Whose finger threatens us and says: „Remember!
The quivering Sorrows will soon be shot
Into your fearful heart, as into a target;

Lieber Patrick,

sorry, es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich Dir nun endlich antworte. Die Tour durch 66 Kinos beansprucht doch mehr Zeit als gedacht. Aber so hat es den Vorteil, dass ich inzwischen viele Erfahrungen gesammelt habe und dir ein bisschen erzählen kann, wie es läuft. Ich habe inzwischen fast die Hälfte der Kinos abgeklappert und es macht nach wie vor riesigen Spaß! Von den Besucherzahlen ist es sehr unterschiedlich– manchmal Sind es 100, Manchmal auch nur vier oder fünf. Wenn die Zahlen mehrmals nacheinander einstellig bleiben, ist das etwas frustrierend, Aber was immer gilt: Es ist jeden Abend interessant und ein großer Luxus, Neue Menschen, neue Orte kennen zu lernen und mit dem Publikum über den Film zu sprechen.

Und was mir interessant erscheint im Bezug auf das Thema Zeit: diese Reise, die eigentlich ein Wahnsinn ist– jeden Tag in einer neuen Stadt, jeden Tag Züge nehmen und von A nach B reisen, jeden Tag in einem neuen ungewohnten Bett übernachten–entpuppt sich als eine unglaublich ruhige, intensive und entschleunigte Erfahrung. Ich fühle mich fast wie im Urlaub, Das einzige was ich zu tun habe, ist abends meinen Film anzusagen und hinterher ein bisschen darüber zu sprechen. Ansonsten genieße ich es, nichts zu tun, während der Film läuft, mich in den Foyers der Kinos umzusehen, mit Leuten zu sprechen, die ich treffe, und die meist sehr interessant und sympathisch sind (- klar, wer ein kleines Programmkino aus Leidenschaft betreibt ohne den Anspruch damit reich zu werden, muss sympathisch und interessant sein) und interessante neue Orte kennen zu lernen. Klar, dass daraus natürlich der nächste Film entsteht. Die Kamera ist immer dabei und ich sammle alles, was mir vor die Linse kommt. Was daraus entsteht– keine Ahnung. Das wird die Zeit beziehungsweise die Akkumulation von Material irgendwann zeigen.

Was aber wirklich das schönste an der Tour ist, ist den Luxus zu haben, mit zu bekommen, was das Publikum denkt, wer was beizutragen hat und wer welche Erfahrungen gemacht hat. Das ist eine Erfahrung die ich glaube ich in Zukunft nicht mehr missen möchte: Das direkte Feedback durch meine Zuschauer. Daher ist so eine Kinotour vermutlich eine ganz andere Erfahrung, als wenn der Film normal im Verleih liefe und ein anonymes Publikum in einer anonymen Stadt keine Chance hat, mit mir darüber zu sprechen und erstaunlicherweise (oder auch nicht erstaunlicherweise) sind die Reaktionen fast durchweg positiv. Obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, der Film alles andere als Mainstream und einfach ist. Auch das ist eine schöne Erfahrung, denn sie straft diejenigen Kinobetreiber lügen, die mir abgesagt haben mit dem Argument, der Film sei zu schwierig für ihr Publikum. Dieses scheint also doch nicht so doof zu sein, wie manche Kinobetreiber glauben…

Und noch ein Nachtrag zu der von dir angesprochenen Szene aus meinen Film. Auf einer Eisenbahn steht der Spruch „Das einzige, das hier vergeht, ist die Zeit“. Ein Jahr später hatte der Regen den Spruch abgewaschen, obwohl es in der Gegend in Bolivien wo ich das gefilmt hatte, eigentlich fast nie regnet. Diese Tatsache wird auch im Film erwähnt. Und neulich auf einem Festival erzählte mir eine Zuschauerin, dass sie in der Woche zuvor in Bolivien gewesen sei und dass inzwischen jemand den Spruch wieder hin geschrieben habe. Auch so lassen sich Zeit und Wetter austricksen…

In diesem Sinne– ganz herzliche Grüße aus dem grauen, herbstlichen Hamburg.

Dein

Philipp

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Lieber Philipp,

nun musste ein zufälliges Treffen auf der Berlinale unser Gespräch wieder aktivieren. Ich entschuldige mich sehr dafür, denn mein ausbleibendes Schreiben hat sehr wenig mit einem fehlenden Interesse zu tun, sondern vielmehr mit der Zeit selbst, die in unserem Fall keine Dringlichkeit innehatte und daher einfach nur vorbeistrich. Aber das soll sich hiermit von meiner Seite ändern, denn wenn es etwas Dringliches gibt, dann doch über die Zeit selbst nachzudenken, solange man sie noch hat und daher auch über deinen Film.

Wie du mir erzählt hast bist du (fast?) am Ende deiner Tour angelangt. War es für dich weiter faszinierend oder wurde es eher ermüdend deinen Film zu zeigen? Bei allem, was du mir so geschrieben hast über das Reisen, die Wahrnehmung und die Zeit komme ich nicht umher auch an Chris Marker zu denken. Die persönlichen Verknüpfungen in deinem Film scheinen mir auch eine gewisse Verwandtschaft zu besitzen…dennoch kommt es mir immer so vor, dass man sich sowieso sehr von solchen Vorbildern entfernt, wenn man ein persönliches Kino macht. Schwirrt er dir dennoch im Kopf herum?

Was du da beschreibst, hat ja letztlich auch viel damit zu tun wie ein Film lebt. Jetzt sprechen viele Filmemacher immer davon, dass ein Film ein eigenes Leben bekommt. Du aber begleitest dieses eigene Leben, machst dich selbst zu einem Teil davon. Könnte man sagen, dass du und der Film ein gemeinsames Leben habt? Es ist ja deine Zeit, die den Motor des Films bildet und womöglich hat es sich in der Zeit dieser Tour umgedreht? Das sind nur wilde Gedanken zugegeben, aber sie kommen mir, wenn ich mir diesen romantischen Weg ansehe, den du mit deinem Film gegangen bist. Ist das nicht auch ermüdend? Reicht es dir nicht mit dem Film, willst du dich nicht davon trennen?

Liebe Grüße,

Patrick

Le Plaisir vaporeux fuira vers l’horizon
Ainsi qu’une sylphide au fond de la coulisse;
Chaque instant te dévore un morceau du délice
À chaque homme accordé pour toute sa saison.

Nebulous pleasure will flee toward the horizon
Like an actress who disappears into the wings;
Every instant devours a piece of the pleasure
Granted to every man for his entire season.

TRAILER – DIE ZEIT VERGEHT WIE EIN BRÜLLENDER LÖWE from philipp hartmann on Vimeo.

 

Lieber Patrick,

kein Problem – das ist ja das Schöne an der Zeit, sie vergeht zwar, aber manchmal kann man sie auch einfach zurück drehen und da wieder ansetzen, wo man vor einer Weile aufgehört hat.

Was in diesem Fall auch durchaus Sinn macht, denn es hat sich auch nach der zweiten Hälfte der Tour (ja, sie ist „offiziell“ zu Ende, aber es kommen noch ein paar vereinzelte Termine, hoffentlich auch noch ein paar mehr und vielleicht noch eine Tour durch Österreich und die Schweiz) nichts daran geändert, was ich Dir beim letzten Mal schrieb. Des Rumreisen mit meinem Film, das Sprechen über ihn und das Erfahren von Reaktionen, Rückmeldungen und von Gefühlen, die der Film beim Publikum auslöst, war bis zum letzten, dem 66., Termin eine Freude und eigentlich nie anstrengend oder ermüdend. Dazu ist das doch ein zu gutes Gefühl, eben, wie Du sagst, zu begleiten, mit zu bekommen, wie der Film sein eigenes Leben bekommt. Das tat er, zumindest in meinem Fall, in der Tat. Und zwar jeden Abend aufs Neue. In jeder Vorstellung entstand der Film gewissermaßen aufs Neue. Denn nie ist ein Gespräch über den Film das gleiche wie am Abend vorher. Selbst wenn bestimmte Fragen sich natürlich wiederholen, so ist es doch eigentlich jedes Mal eine neue Frage, je nach dem, von wem und in welchem Kontext sie gestellt wird. Und für mich als Macher des Films war es oft sehr überraschend und schön, zu merken, dass der Film ganz unabhängig von mir und meinen Intentionen ein Eigenleben bekommt, in dem ich selbst noch vieles entdecken und lernen kann. Nur ein Beispiel: eine Veranstaltung einer evangelischen Erwachsenenbildungseinrichtung, die den Film und mich eingeladen hatten. Obwohl ich mit der Kirche nicht wirklich viel zu tun habe und auch mein Film auf den ersten Blick Themen wie Religion, Glaube, Gott nicht direkt behandelt, war es für mich sehr interessant und berührend, zu hören, welche religiösen, oder besser: mit Religion verbundenen, Gedanken und Gefühle einige Stellen in meinem Film bei den Besuchern auslösten.

So besehen ja – ich habe vier Monate lang ein symbiotisches Dasein mit meinem Film geführt. Wobei – eigentlich gar nicht mit dem Film, sondern eher mit seiner Präsentation – den Film selbst habe ich mir wohlweißlich während der vier Monate nur einmal bei der Premiere und einmal bei der letzten Vorstellung des Films im Filmclub meines Bruders selbst mit angeschaut. Aber klar, man führt in der Zeit ein sehr merkwürdiges Leben, wenn man es so konzentriert und ausschließlich betreibt, wie ich es getan habe. Man lebt mit seinem Film und das ist dann ein sehr monogames Leben. Außer über den Film zu sprechen und mir noch ein bisschen die Städte anzuschauen, wo ich war, und vor allem die Kinos und ihre Macher genauer zu erkunden, habe ich nicht viel gemacht. Keine Arbeiten nebenher, oft nicht mal E-Mails abgerufen. Das hat aber auch etwas ganz tolles. Nicht nur weil man ja irgendwie die Früchte erntet, die man die ganzen Jahre der Herstellung des Films gesät hat. Auch weil eben diese Konzentration auf eine Sache anstatt auf Multitasking sehr gut tat. Dennoch – klar. Irgendwann sollte es dann doch mal weiter gehen und man muss den Film loslassen, den Rest seines ja weiter entstehenden Eigenlebens nicht unbedingt en detail mitverfolgen wollend. So sitze ich nun an einem neuen Projekt, bzw. gleich zweien. Eins davon – da gehts dann zumindest gedanklich doch nochmal zurück – ein Film über die Kinos, die ich auf meiner Reise besucht habe.

Und noch ein Gedanke zum Reisen: für mich hat die Art, des Filme Machens, und die Art, die Welt wahr zu nehmen, die dahinter steht, viel mit dem Blick zu tun, den man als Reisender hat. Mit der Offenheit, auch der Zeit, die man sich nimmt, sich auf Dinge, auf Neues einzulassen. Einer Neugier, sich auf Dinge überhaupt einzulassen…

Chris Marker ist sicher jemand, der mich – und dadurch auch diesen Film – beeinflusst hat und das immer noch tut. Speziell Sans Soleil ist ein Film, den ich sehr mag und der bzw. dessen Mach-Art teilweise direkt Inspiration für einige Stellen im Brüllenden Löwen waren. Andererseits ist es glaube ich, wie Du sagst – wenn man einen so persönlichen Film macht (oder vermutlich auch bei anderer Art von Filmen), und wenn man sich die Zeit nimmt, die es braucht, um den Film reifen zu lassen, dann entfernt man sich vermutlich irgendwann auch recht bald wieder von Vorbildern und Inspirationsquellen. Und findet seinen eigenen Weg, der dann vielleicht noch vieles aus der Inspiration durch Vorbilder Entstandene enthält, dies aber auf eine eigene Weise sich aneignet und weiter führt. So etwas wie eine Synthese aus Marker und Hartmann kommt dann vielleicht in meinem Fall bei raus. Wobei in der Synthese sicher noch mehr Einflüsse enthalten sind, von denen ich vielleicht zum Teil selbst gar nichts weiß, weil sie indirekter und unbewusster wirken…

So weit – viele Grüße – aus dem Zug, ich reise schon wieder durchs Land…

Philipp

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Lieber Philipp,

nun ist wieder einige Zeit vergangen, aber diesmal ganz bewusst, denn das beginnt mir zu gefallen.

Eine Sache bezüglich deines Films ging mir durch den Kopf in den letzten Tagen, in denen ich mich intensiv mit dem Potenzial und der Spekulation in Dokumentarischen Arbeiten beschäftigt habe. Es ist die Frage nach der Idee, die ich bei einem so autobiografischen Zugang sehr spannend finde. In deinem Film geht es- wie ich finde- sehr stark um deine eigene und die allgemeine Sterblichkeit, es ist ein wenig wie Cocteau gesagt hat, dass Film bedeutet, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen…(ich empfinde den Brüllenden Löwen vielleicht als etwas grausames und notwendiges). Aber wie gehst du da vor? Gab es zuerst das Thema oder gab es die Kamera und dich und die Zeit war einfach da? Wenn ja, was zieht dich zur Zeit? Es ist natürlich auch schrecklich vereinfacht zu sagen, dass es in deinem Film nur um die Zeit oder nur um das Altern geht, das stimmt ja so nicht. Aber entwickelst du eine Ordnung vor dem Dreh oder erst danach? Wie ist es mit dem Format? Bist du jemand, der sieht, um zu denken oder der denkt, um zu sehen?

Viele Grüße aus Wien,

Patrick

Trois mille six cents fois par heure, la Seconde
Chuchote: Souviens-toi! — Rapide, avec sa voix
D’insecte, Maintenant dit: Je suis Autrefois,
Et j’ai pompé ta vie avec ma trompe immonde!

Remember! Souviens-toi! prodigue! Esto memor!
(Mon gosier de métal parle toutes les langues.)
Les minutes, mortel folâtre, sont des gangues
Qu’il ne faut pas lâcher sans en extraire l’or!

Three thousand six hundred times an hour, Second
Whispers: Remember! — Immediately
With his insect voice, Now says: I am the Past
And I have sucked out your life with my filthy trunk!

Remember! Souviens-toi, spendthrift! Esto memor!
(My metal throat can speak all languages.)
Minutes, blithesome mortal, are bits of ore
That you must not release without extracting the gold!

Lieber Patrick,

Ja, gefällt mir auch – auch wenn ich lieber gleich antworte – sonst geht es unter… Ich glaube, das geht immer gleichzeitig Hand in Hand, das Sehen und das Denken. Und nicht immer kann man sagen, was von beiden was bedingt. Klar, eine Idee, wenn auch eine vage, steht meist am Anfang – die war bei mir aber recht einfach: der eigenen Sterblichkeit und der Vergänglichkeit, dem immer brutaler werdenden Vergehen – Ablaufen – der Zeit einen Film entgegen zu setzen. Und dann fängt man an, zu lesen, zu schauen, zu denken, zu reden und nach und nach entwickeln sich von alleine ein ganzer Haufen konkretere Ideen. Aus denen dann nach und nach ein Film wird. Zum Teil waren das Ideen, die wir dann gedreht haben (meist mit einer gewissen Offenheit, spontanen Einfällen und Zufällen gegenüber) und zum Teil fand ich Dinge, die ich vorher schon gedreht hatte, die nun im neuen Zusammenhang plötzlich anders passten. Ein Sammelsurium an Vorgehensweisen, das vermutlich genauso disparat war wie der Film von der Form her ist. Und das vielleicht auch deshalb – weil das vermutlich „menschlicher“ ist als irgendein starres Konzept – so organisch funktioniert…

Viele Grüße!

Philipp

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Lieber Philipp,

wieder ist einige Zeit verstrichen. Wie geht es dir? An was arbeitest du zur Zeit?

Mir sind wieder Gedanken zu deinem Film gekommen, die ich gerne mit dir teilen würde und zu denen du vielleicht etwas sagen kannst. Es geht dabei irgendwie um den Druck der Zeit, die Plötzlichkeit, mit der Zeit manchmal sein wahres Gesicht offenbaren kann, wenn man so will der Speer der Zeit, der uns Wunden zufügen kann. Film scheint mir diesen Speer benutzen zu können und gleichzeitig kann Film ihn kontrollieren, ja abstumpfen. In deinem Film scheint es eine sanfte Brutalität mit der Zeit zu geben. Ein wenig wie der von uns schon besprochene Regen…ist der Brüllende Löwe für dich ein Bild von Gewalt?

Und damit in Verbindung steht auch eine Angst, die ich in mir selbst habe. Es ist so ein Drang in zwei Richtungen in mir. Der eine Teil möchte am liebsten seine eigene Zeit leben, immerzu seinen Rhythmus finden und sich um nichts kümmern müssen, die Zeit sozusagen beherrschen (auch wenn man das nicht kann). Der andere Teil ist insbesondere in Bezug auf Film sehr ehrgeizig, geht nach vorne, blickt die ganze Zeit in alle Richtungen (nur möglichst wenig nach hinten)…ich empfinde das als Widerspruch, der mich auch sehr kämpfen lässt manchmal. Wie ist das bei dir? Wie funktioniert für dich dieses sehr persönliche Suchen nach der Zeit, dieses ständige Zurückblicken, dass da ja auch einbegriffen ist mit deinem Leben als Filmemacher? Oder empfindest du das gar nicht so?

Viele Grüße,

Patrick

Souviens-toi que le Temps est un joueur avide
Qui gagne sans tricher, à tout coup! c’est la loi.
Le jour décroît; la nuit augmente; Souviens-toi!
Le gouffre a toujours soif; la clepsydre se vide.

Remember, Time is a greedy player
Who wins without cheating, every round! It’s the law.
The daylight wanes; the night deepens; remember!
The abyss thirsts always; the water-clock runs low.

Lieber Patrick,

interessant, der Speer der Zeit (die Metapher kannte ich noch nicht) und die Rolle des Films… Ja, vielleicht, Film als Rettung… Zumindest in Filmen, die sich bewusst Zeit nehmen, auf Dauer setzen, der Schnelllebigkeit und dem Speer das genaue Hinschauen und eben das Sich-alle-Zeit-der-Welt-Nehmen entgegensetzen, könnte das stimmen, dass darin zumindest eine kleine Rettung ist.

Ob der Brüllende Löwe was mit Gewalt zu tun hat, weiß ich nicht. Da sieht jeder was anderes drin und das gefällt mir. Manche sagen, ein Löwe, der brüllt, macht Angst, bedroht. Andere sehen – wie die spanische Übersetzung – statt dem brüllenden Löwen eher das Brüllen eines Löwen, und das ist, im Gegensatz zum Gerundium des brüllenden Löwen etwas schnell Vorübergehendes und dadurch weniger bedrohliches. Oder eine Freundin sprach neulich vom Brüllenden Löwen als etwas bemitleidenswertes, weil sie eher an den alten früheren Rudelkönig dachte, der nun alt geworden von seinen Kollegen fortgejagt und in die Wüste geschickt wird, und nur noch kurz vor sich hinfaucht – gar nicht mehr bedrohlich…

Und wie das persönlich ist – auch das ist schwer zu sagen. Wie in meinem Film zu sehen, schau ich ja doch recht viel zurück. Und sehe das Vergangene durchaus als Teil der Gegenwart, weil es mich geprägt hat. Und so ist es weniger der Rhythmus und das zurückblicken, was einen ängstigen und schrecken, denn den Rhythmus kann man ja doch in gewissem Maße beeinflussen. eher das – auch darum geht es ja im Film – Wissen um die Machtlosigkeit gegenüber der Endlichkeit. Und der Tatsache, dass man – das schon – nicht genug rein bekommt in die wenige begrenzte Zeit…

Jetzt sitze ich grad im Zug nach Berlin und die Zeit läuft ab, denn ich nähere mich Berlin…

Ende Oktober komm ich zur Viennale – ich vermute, da sehen wir uns, oder?

Viele Grüße!

Philipp

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Lieber Philipp,

schön, dass du zur Viennale kommst, dort dürften wir uns ziemlich sicher sehen . Bist du denn auch in Hamburg anzutreffen? Ich versuche dort auch wieder anzureisen. Momentan bin ich in Deutschland und ab Herbst auch viel in Ungarn, weil ich selbst an einem Film arbeite, der passenderweise viel mit Vergänglichkeit zu tun hat. Es ist schön, dass die Orte, an denen wir sind, wenn wir uns schreiben, im Moment des Lesens dieser Texte etwas Vergangenes sind. Also nicht die Orte selbst, aber unsere Anwesenheit.

Deine Gedanken sind sehr spannend und nachvollziehbar. Ich kenne dieses Gefühl vom Vergangenen als Teil der Gegenwart, es ist ein wenig eine Sache von Geistern auch wenn mir das manchmal etwas zu bemüht scheint im modernen Kino. Dein Film hat ja auch dieses proustianische Gefühl dieser Unmöglichkeit des „Jetzt“. Ich erinnere mich (ja das ist auch proustianisch, weil man über Film vielleicht gar nicht richtig ohne Proust sprechen kann) an diese Sequenz in der du nach dem „Jetzt“ suchst, nach der Gegenwart, die immer schon vorbei ist, aber ich finde, indem du diese Vergänglichkeit festhältst und diese Endlichkeit kämpfst du auch dagegen an. Das ist kein besonders neuer Gedanke, aber er ist in deinem Film sehr präsent (im wahrsten Sinne des Wortes) Aber du wirst ja in deinem Film auch zum Schatten, ein Schatten bevor du zumindest aus dem Film verschwindest. An dieser Stelle – auch wenn ich das sehr bewegend und gelungen fand beim Schauen – würde ich dir widersprechen, weil du ja den ganzen Film schon für mich ein Schatten bist. Ich finde nicht, dass es mit deinem Schatten enden sollte, sondern damit beginnt das Kino ja erst. Alexander Horwath, der hier das Filmmuseum in Wien leitet, spricht sehr viel von der Gegenwärtigkeit der Projektion, er sagt, dass ein Film immer im Jetzt seiner Aufführung stattfindet. Es gibt Tage, da wache ich auf mit Zweifeln an dieser Feststellung, aber heute ist kein solcher Tag. Es scheint mir einfach zu hundert Prozent stimmig zu sein. Diese Gedanken über das Vergangene als Teil der Gegenwart sind für mich nicht nur in meiner und wie du mir mitgeteilt hast, auch in deiner Wahrnehmung zu finden, sie sind wahrscheinlich ein essentieller Bestandteil des Kinos und vielleicht sind wir daher beide auch vom Kino fasziniert. Wenn ich da an meine zweite Lieblingsszene in deinem Film denke, den Ampelstopp, dann findet sie genau in dieser Vergegenwärtigung des Vergangenen statt, es ist ein Stopp, ein kurzes Aussteigen aus den Regeln, den Regeln der Zeit, des immer weiter fließenden Verkehrs und gleichzeitig ist es eine Erinnerung, die vor uns gegenwärtig wird, du hast dich in diesem Fall für eine Repräsentation der Erinnerung entschieden, warum? Und mit dieser Fahrt der Kamera erfahre ich eine Zeitlichkeit. Es ist wirklich ein „Jetzt“-Moment für mich gewesen.

Es gibt noch eine Frage, die ich dir stellen möchte zu deinem Film. Sie scheint banal, aber vielleicht ist sie es nicht. Es geht um deinen Titelschriftzug. Mir ist aufgefallen, dass er von rechts nach links durch das Bild fährt. Warum diese Fahrt gegen die Leserichtung?

Viele Grüße,

Patrick

Tantôt sonnera l’heure où le divin Hasard,
Où l’auguste Vertu, ton épouse encor vierge,
Où le Repentir même (oh! la dernière auberge!),
Où tout te dira Meurs, vieux lâche! il est trop tard!»

Soon will sound the hour when divine Chance,
When august Virtue, your still virgin wife,
When even Repentance (the very last of inns!),
When all will say: Die, old coward! it is too late!“

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Lieber Patrick,

gute Fragen! Die ins Schwarze treffen.

Der Ampelstopp – ja, das ist ein Moment des jetzt. Zum einen natürlich wegen des Innehaltens an der Ampel – für die Minute oder wie lang auch immer sie rot ist, wird die Zeit ( – repräsentiert durch den linearen Verkehrsfluss – ) angehalten. Andere Bewegungen laufen in anderen Richtungen zeitgleich ab (die Kamerafahrt, das Kreisen um das Auto (Kreisbewegung statt linear!) und nicht zuletzt das ebenfalls linear sich bewegende Flugzeug (aber im Gegensatz zum Verkehrsfluss auf ein Ziel hin – das Landen und dann ist die Bewegung zu Ende; was hier noch vorher passiert, dadurch dass das – digitale – Flugzeug verschwindet und nicht mehr landet, gewissermaßen die Endlichkeit der Bewegung hintertreibend, wenn man so will…). Zum anderen ist das ein jetzt Moment, weil es ja um dieses Gefühl geht, was man (ich zumindest) mit 18 hatte, was ja das Alter der Jungs ist, die hier dieses alberne Spiel machen. Dieses Gefühl von Die Welt liegt mir zu Füßen, ich hab alle Möglichkeiten, ewig Zeit und so weiter. Diese unbedarfte, unbeschwerte Zuversicht, die allein aus dem Moment, aus der Zeit oder der Lebensphase (die man gar nicht als solche im Sinne von eine Phase im Ablauf von einigen wenigen Phasen insgesamt wahrnimmt) heraus entsteht und sich speist. Um dieses Gefühl, um diesen Jetzt-Moment ging es uns in dieser Szene. Mir und Jan Eichberg, der ja diese wie auch die anderen vier inszenierten Miniaturen im Film entwickelt hat. Das Spiel des „Ampelstopp“ übrigens kannte ich gar nicht. Das kommt von Jan aus seiner Jugend im Odenwald. Da wo ich aufgewachsen bin, haben wir anderen Quatsch gemacht. Aber dieses Gefühl des alleine im Augenblick Leben, das dahinter steht, ist natürlich das gleiche.

Und die Schrift-Richtung ist eine gute Frage zum richtigen Zeitpunkt. War glaub ich ein Gefühl – ich weiß gar nicht ob meins oder das des Grafikers, der die Titel gemacht hat. Oder vielleicht auch nur Konvention, weil man das halt so macht. Aber vor allem vermutlich weil die Lesbarkeit wäre andersrum natürlich schwierig und der Film ist ja offen genug, da würde ich gerne nicht noch im Titel mehr Verwirrung stiften. Ist ja nur gegen die Leserichtung bei unbewegtem, bewegt gehts nur so rum.

Aber die Frage ist gut, weil es ja später nochmal die Fotos von meinem Vater gibt, wo er auf Leerstellen und vermeintliche Belanglosigkeiten guckt und die laufen auch von rechts nach links und mir schien das da das „normale“ zu sein. Und neulich sah ich den Film von hinter der Leinwand bei einem Open-Air-Screening auf Bettlaken und war ohnehin ganz baff, wie anders der Film wird und fand bei der Szene, dass sie von links nach rechts laufend (also eher das, was man als unnatürlich empfinden würde) besser wurde. Ich dachte schon, in Zukunft sollte man vermutlich nach dem Rohschnitt immer erstmal den Film seitenverkehrt anschauen und dann entscheiden, wann der Schnitt fertig ist…

So weit für heute.

Viele Grüße und bis bald in Wien und – ja, Filmfest Hamburg bin ich vermutlich auch wieder unterwegs.

Philipp

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Lieber Philipp,

ich habe gehört, dass der Regen, der gekommen ist, den Sommer noch nicht endgültig weggespült hat.

Ich habe das Gefühl, dass sich unserer Korrespondenz mit der Zeit langsam dem Ende zuneigt. Sie müsste natürlich nie enden, vielleicht sollten wir einfach immer weitermachen, aber ein Jucken in meinen Fingern fordert langsam eine Veröffentlichung. Ich habe deinen Film in diesen 10 Monaten 2mal gesehen. Es war spannend zu beobachten, was bleibt von ihm, was geht, was wieder kommt…ich frage mich, ob es gut ist, wenn ein Film ganz präsent bleibt oder ob das langsame Gleiten in eine Dunkelheit auch wertvoll ist. Ich weiß es nicht. Dein Film teilt sich da sehr für mich. Manches bleibt wirklich ganz gegenwärtig, anderes weiß ich überhaupt nicht mehr.

Wie also eine abschließende Frage an dich formulieren mit dem Halbwissen über einen Film, der sich gegen all diesen filmischen und außerfilmischen Eindrücke der letzten Monate erwehren muss, der da in einen Fluss gesprungen ist, an dem mein Leben hängt? Ich versuche mich daran zu erinnern, wie ich ihn das erste Mal gesehen habe. Ich war in Wien in meiner kleinen Wohnung. Man muss auf dem Bett sitzen, um das Bild zu sehen. Es war ein kalter Tag. Ich weiß noch, wo ich die Verpackung der DVD abgelegt habe, weil sie dort sehr lange lag. Sie lag auf der DVD von Uzak von Nuri Bilge Ceylan. Ab Dezember lag dort The man who fell to earth von Nicolas Roeg. Deine DVD lag darunter. Im Winter habe ich ihn nochmal gesehen, ein Freund von mir war bei deiner Vorführung in Augsburg. Ich kann mich auch erinnern wie du mir die DVD gegeben hast in Hamburg im Cinemaxx (wie unpassend für deinen Film). Ich kann mich nicht mehr an meinen Körper während des Films erinnern. Nur an Bilder und Töne. Ist das eine Erfahrung von Zeitlosigkeit?

Wie also eine abschließende Frage an dich formulieren? Vielleicht sollte ich nicht. Natürlich will ich wissen wie es deinem Projekt geht, das du begonnen hast während der Kinotour. Darüber könntest du mir schreiben, aber vielleicht gibt es noch etwas anderes, was dich beschäftigt. Vielleicht sollte ich härter fragen. Ich frage mich zum Beispiel warum dein Film nicht auf einem größeren Festival lief. Machst du dir über sowas Gedanken?

Viele Grüße,

Patrick

 

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Lieber Patrick,

das klingt schön für mich und ehrt mich – dass Du Dich nicht an Deinen Körper während meines Films erinnern kannst und dass manche Dinge gegenwärtig bleiben und manche verschwinden. Ich empfinde das als Qualität des Sehens und glaube gleichzeitig, dass das vermutlich oft so und ist etwas positives. Und sagt dennoch vermutlich nichts über die Qualität eines Films aus, sondern nur über die Beschaffenheit unseres Bewusstseins. Oder doch über die Qualität? So wie ich immer die These verteidige, dass man (oder zumindest ich selbst) nur in guten Filmen einschlafe. Und das übrigens genau deshalb sehr gerne tue, weil dieses Weggleiten, das Verlassen des Films und Übergehens in einen ganz eigenen Film – der manchmal noch aus der Tonspur und eigenen Bildern eines beginnenden Träumens besteht – so interessant ist. Wer war es, der mal sagte, dass man nur in Filmen einschläft, denen man vertraut?

Dein Gefühl scheint mir diesem ähnlich zu sein. Und das in Erinnerung bleiben von Bildern und Tönen scheint mir etwas sehr wertvolles zu sein. Vielleicht so etwas ähnliches wie Zeitlosigkeit. Oder bewusste Zeit ohne Ablenkung.

Solche – für mich sehr schönen – Rückmeldungen über Eindrücke, die mein Film auslöst, habe ich in den letzten 11 Monaten auf Tour des Öfteren bekommen. Eigentlich täglich. Auch vorher schon, auf ein paar der Filmfestivals wo ich war. Und diese Rückmeldungen sind es, die mir besonders wichtig sind. Sehr viel wichtiger als ob der Film nun auf diesem oder jenem Festival läuft. Zumal man da ja weiß, wie absurd manchmal die Entscheidungsprozesse ablaufen. Und zudem lief mein Film ja auf nicht vielen (insbesondere in Deutschland), aber auf einigen der wichtigen und sympathischen Festivals. Schon die Weltpremiere auf dem wunderbaren FICUNAM-Festival in Mexiko war mehr als ich mir hätte träumen lassen…

So weit zu Deinen Fragen – ich glaube mehr muss dem nicht hinzugefügt werden, es sei denn, wir wollen zeitlos bis in die Ewigkeit weiter korrespondieren. Aber vielleicht muss das nicht sein und wir reden lieber in einer Weile weiter – z.B. über Kinos, wenn dann mein Film aus der Kinotour – die Reise durch 75 Kinos – fertig ist. Und ich hoffe, in Hamburg beim Filmfest und/oder während der Viennale sehen wir uns auf ein Bierchen…

Erstmal danke für Dein Interesse und Deine anregenden Fragen!

Und viele Grüße!

Philipp

L’Ennemi

Ma jeunesse ne fut qu’un ténébreux orage,
Traversé çà et là par de brillants soleils;
Le tonnerre et la pluie ont fait un tel ravage,
Qu’il reste en mon jardin bien peu de fruits vermeils.

Voilà que j’ai touché l’automne des idées,
Et qu’il faut employer la pelle et les râteaux
Pour rassembler à neuf les terres inondées,
Où l’eau creuse des trous grands comme des tombeaux.

Et qui sait si les fleurs nouvelles que je rêve
Trouveront dans ce sol lavé comme une grève
Le mystique aliment qui ferait leur vigueur?

— Ô douleur! ô douleur! Le Temps mange la vie,
Et l’obscur Ennemi qui nous ronge le coeur
Du sang que nous perdons croît et se fortifie!

The Enemy

My youth has been nothing but a tenebrous storm,
Pierced now and then by rays of brilliant sunshine;
Thunder and rain have wrought so much havoc
That very few ripe fruits remain in my garden.

I have already reached the autumn of the mind,
And I must set to work with the spade and the rake
To gather back the inundated soil
In which the rain digs holes as big as graves.

And who knows whether the new flowers I dream of
Will find in this earth washed bare like the strand,
The mystic aliment that would give them vigor?

Alas! Alas! Time eats away our lives,
And the hidden Enemy who gnaws at our hearts
Grows by drawing strength from the blood we lose!

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PS: Einen Nachtrag könnte ich noch liefern, er hat mit Zeit, mit dem Film und mit den wunderbaren Begegnungen zu tun, die ich auf der Tour hatte.

Neulich eine Schulvorstellung meines Films mit 14 und 15 jährigen Neuntklässlern. 45 Minuten lang unerwartet guter Fragen vor einem ganz anderen Hintergrund, altersmäßig. Jugendliche, denen Tod und Endlichkeit noch gar kein Thema ist. Und gerade das war natürlich für mich nicht nur hoch interessant, sondern bereichernd und natürlich auch eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit.

Nach Schulschluss dann noch ein langes Gespräch mit einer Schülerin, die von ihren Zukunftsängsten, von Ängsten vor Veränderung und von Ängsten vor der falschen Entscheidung, was ihren Weg nach dem Abitur angeht, berichtete. Auf eine unglaublich kluge und reflektierte und auch traurige Art, die mich sehr berührt hat. Und nach einem fast einstündigen Gespräch, schon auf dem Flur, bei der Verabschiedung, stellte sich heraus: ihr Vater ist mein Fußball-Idol aus den achtziger Jahren! Auch das eine Zeitreise und in dieser wunderbaren Begegnung nebenbei noch eine Bestätigung, dass mein Idol wohl noch mehr richtig gemacht hat, als nur gut Fußball zu spielen…

So, nun ist es genug, das nächste Gespräch, beim Bier zum Filmfest, führen wir über Fußball!

Herzliche Grüße!

Philipp

Wer den Film sehen möchte:

Auf der Webseite www.zeit-film.de gibt es aktuelle Termine  und einen Kontakt zur Bestellung der DVD.

Und auf Doc Alliance kann man den Film als VoD runterladen.