Cannes-Notiz: Ayka von Sergey Dvortsevoy

Ayka von Sergei Dvortsevoy ist ein Film über eine Frau, die versucht, ihrer Welt davonzulaufen, aber nicht begreift, dass diese Welt eine ist, die man zu Fuß oder mit dem Bus nicht verlassen kann, sondern nur mit Geld. Ein Film, der in Cannes erst sehr spät gezeigt wurde, zu einem Zeitpunkt, an dem man meist selbst erschöpft ist vom ständigen Schauen und durch die Gegend laufen und eigentlich nicht mehr auf große Entdeckungen eingestellt ist. Ein Film über Dringlichkeit, der selbst enorm dringlich ist. Ein Versuch, den Überlebenswillen marginalisierter Menschen in den toten Winkeln einer Großstadt im Verbund mit seinen mannigfaltigen Gegenkräften filmisch zu vermitteln.

Ayka gestaltet sich als unablässige Vorwärtsbewegung mit nur wenigen Verschnaufpausen. Es beginnt mit der Flucht vor einer moralischen Verantwortung. Die Titelheldin hat soeben ein Kind in die Welt gebracht. Jetzt muss sie stillen, sagt die Schwester. Ayka will nicht. Sie stiehlt sich aufs WC, verriegelt die Tür, reißt, tritt, schlägt, bricht das Fenster auf (mit der Gewalt einer Verzweifelten oder bodenlos Ehrgeizigen), stürzt ins Freie, wo der Schnee alles umklammert hält, und beginnt zu rennen. Irgendwann klingelt ihr Telefon, wieder und wieder, sie hebt zunächst nicht ab, es ist Zeit, aber sie hat keine, muss sich erst welche besorgen, bloß wo?

Aykas atemloses Voranpreschen durch ein winterliches Moskau, wie ich es im Kino so noch nicht gesehen habe, hält den Kamerablick gebannt. Gedreht wurde auf 16mm und zum Teil mit einer kleinen Digitalkamera, das Bildformat ist 16:9, fühlt sich aber an wie 4:3. Manchmal wackeln die Bilder unschön, man spürt jeden Schritt. Die Textur ist rau, „dokumentarisch“, aber nicht ohne ästhetischen Anspruch, das städtische Umfeld unwirtlich und wüst. Wie ein unfreies Radikal stromert Ayka in ihrem dunkelblauen Anorak durch diese schwarzgrau stöhnende Chaosdimension. Sie hat einen Tunnelblick, weil ihr das, was sie sieht, sonst den (Aus-)Weg versperren könnte. Und weil es ihrer Welt an Raum mangelt. Wenn Moskau ein Haus ist, kriecht Ayka durch die Lüftungsschächte.

Die Protagonistin ist jung, kommt aus Kirgisistan und lebt illegal in der russischen Hauptstadt, ebenso wie tausend andere Aykas. Mit manchen von ihnen teilt sie sich eine notdürftig parzellierte Mini-Wohnung. Solidarität gibt es hier nicht, im Gegenteil. Kinderfotos stehen auf einem Sims. Ayka fegt sie weg: „Das ist mein Platz!“. Immer wenn man glaubt, der Film könnte nicht mehr beengender werden, wird er es doch. Aykas „Zimmer“ ist ein Abteil aus Vorhängen. Weil die Kamera immer auf ihr pickt, auf ihrem Hinterkopf oder ihrem Gesicht, überträgt sich die klaustrophobische Grundstimmung sukzessive auf den Zuschauer. In ihrem dunklen Schlafnest nimmt Ayka gierige Schlucke aus einem Milchkanister, tankt sich auf für den nächsten Marathon. Sie muss, sie muss, sie muss.

Brave Cinephile fragen sich wahrscheinlich schon: Moment mal, das kenn ich doch! Das ist doch wie Rosetta von den Dardenne-Brüdern, sogar der Name klingt ein bisschen ähnlich! Sehr gut, setzen. Und klar, das ist kein Zufall, das ist Absicht. Mir kamen in Cannes viele negative Spontanreaktionen auf Ayka unter. Manche davon monierten den überdeutlichen Bezug zum Dardenne-Klassiker, weil sie sich von Dvortsevoy nach seinen kraftvollen Dokumentarfilmen, nach seinem vielversprechenden Spielfilmdebüt Tulpan, etwas Eigenständigeres erwartet hätten. Andere taten den Film schlicht als billiges „Ost“-Imitat Rosettas ab. Ich kann das nur bedingt nachvollziehen. Für mich verhält sich Ayka zu Rosetta nicht wie eine Kopie, auch nicht wie ein Remake, sondern am ehesten wie eine Cover-Version. Und ebenso wie in der klassischen Musik unterschiedliche Interpretationen ein und derselben Partitur Unterschiedliches hervorbringen, können auch Cover ein und desselben Songs einen originären, vom Original weitgehend unabhängigen Charakter annehmen. Ein etwas aparter Vergleich: Wenn Rosetta „Electricity“ von Captain Beefheart ist, wäre Ayka dessen Neuvertonung durch Racebannon.

Alles an Ayka ist extremer – allem voran die Feindseligkeit und (buchstäbliche) Kälte der Welt. Ayka hat keine Bezugspersonen und wird von ihren peripheren Bekanntschaften kaum wahrgenommen. Nicht aus Herzlosigkeit, sondern weil sie selbst allesamt Gehetzte sind, als würde ihnen permanent der Boden unter den Füßen weggezogen: Das Leben als wackliges Laufband. Immer, wenn Ayka (die den Vorteil hat, gut Russisch zu sprechen) versucht, eine Verbindung zu jemandem herzustellen, der sozial über ihr steht und ihr vielleicht helfen könnte, sind diese Menschen bereits in andere Geschäfte verwickelt, müssen Aufträge erfüllen und Kunden bedienen, die ihrerseits höher gestellt sind in der Klassenhierarchie. Dvortsevoy schafft die Ahnung einer geschichteten Welt, in der es nur Bühnen und Hinterzimmer gibt. Meist befinden wir uns hinter den Kulissen, nur selten erhascht man einen Blick auf das schillernde, glücksverheißende Geschehen auf dem Proszenium. Und durch Zufall können sich Wurmlöcher auftun, die wie beim Leiterspiel Abkürzungen nach oben bieten, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Ein Automechaniker kann nichts für die arbeitsuchende Ayka tun, aber eine unzufriedene Geldadlige, die auf ihren Wagen wartet, bietet ihr spontan einen Job an.

Ayka von Sergey Dvortsevoy - ©Kodak

Auch Ayka befindet sich im fortgeschrittenen Abgestumpftheits-Stadium. Sie kann sich nichts anderes leisten, mit dem Abgrund lässt sich nicht verhandeln. Konkurrentinnen werden attackiert, Leiden anderer ignoriert. Das Baby, ist es schon vergessen? Aykas Verschalung erscheint als Direktresultat ihrer Umwelt. Wenn der Schnee nicht stürmt, wiegt er schwer auf den Schultern der Verlorenen. Er verwandelt die Gnadenlosigkeit der Metropole in einen Naturzustand. Ein Wahnsinnsbild: Orangefarbene Schneepflüge donnern mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Straßen, wie eine Panzerkolonne oder eine Herde wildgewordener Bisons, das matschige Weiß machtvoll spaltend, niederwalzend und zur Seite schleudernd, apokalyptische Eisbrecher auf Autopilot. Wie fast alle guten Kinobilder ist es Symbol und Wirklichkeit in einem. Ayka, die auch Schnee schaufeln muss, aber leider nur ein Mensch ist, stützt sich ab, versucht, etwas Luft zu holen – Luft, die ihr auszugehen droht. Eine Vorarbeiterin ruft ihr zu, sie sei hier nicht zum Däumchendrehen.

Ein weiterer Vorwurf gegen Ayka, der mir in Cannes begegnete, war jener, es handle sich bei Dvortsevoys Film um „misery porn“. Ein Label, das ich selbst schon Filmen aufgestempelt habe, womöglich zu Unrecht. Hier scheint es mir jedenfalls vollkommen unangebracht. Es greift nur, wenn man an der Oberfläche bleibt. Ja, Ayka handelt von Armut, von Menschen, denen überwiegend Schlechtes widerfährt und die von anderen schlecht behandelt werden. Aber keine Sekunde lang ist der Film exploitativ oder melodramatisch. Für Melodramatik hat er schlicht keine Zeit. Schicksalsschläge werden hingenommen und abgeschüttelt, dann geht es weiter im Takt. Nie hat man das Gefühl (bedingt durch sorgfältiges Casting und den generellen Vorwärtsdrall des Films, der einem kaum die Gelegenheit gibt, emotional in Einzelszenen reinzukippen), die bösen Taten und Worte einzelner Personen würden von einer inhärenten Bösartigkeit ausgehen, sondern stets von einem größeren, systemischen Zusammenhang – den sprichwörtlichen Gegebenheiten, deren Ahnung jede Pore der Diegese durchdringt.

Zudem ist kein Detail (und Ayka steckt voller Details) reiner Selbstzweck. Jedes Element dient der Gesamtkonstruktion und zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Realitäten, die dem Film zugrunde liegen. Dvortsevoys Dokumentarfilmer-Background ist deutlich spürbar – in der Genauigkeit der Ausstattung, in den Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks unterschiedlicher Figuren, im Verlauf bestimmter Szenen und nicht zuletzt im Gespür für profilmische Eindrücke mit starker Präsenz. Besonders Tiere haben es Dvortsevoy angetan. Eine ganz und gar nicht süße Einstellung dreier an den Zitzen ihrer Mutter hängender Hundebabys, die mit dem Anblick weinender Säuglinge aus dem Eröffnungsbild des Films korreliert, schreit besonders laut von der Leinwand herunter. Aykas Metaphorik mag oft plump sein, aber an Kraft büßt sie darob nicht ein. Vielleicht braucht sie sogar eine gewisse Derbheit und Urgewalt, um dem reißenden Fluss der Erzählung zu entkommen.

Sergey Dvortsevoy - ©Festival de Cannes

Ayka hat mir auch geholfen, besser zu verstehen, warum ich mit Saul fia von László Nemes Probleme hatte. Unabhängig davon, ob Dvortsevoy von Nemes inspiriert wurde oder nicht: Zwischen dessen Holocaust-Höllenritt und Ayka gibt es Parallelen. Die hypersubjektive Perspektive, der beengende Klammergriff der Kamera, die dumpfe Zielstrebigkeit der Hauptfigur, ihr rastloser Parcours durch eine Umwelt, die freilich nicht mit Ausschwitz verglichen werden kann, aber doch infernalische, alptraumhafte Züge trägt. Nemes versucht sich in Saul fia an der Vorstellung eines Orts, den sich das Kino in dieser Form vielleicht gar nicht vorstellen sollte, nähert sich seiner Annäherung über andere Annäherungen, und sichert sich permanent ab, indem er den Meta-Diskurs über filmische Holocaust-Figurationen in sein Narrativ einwebt. Sein Film, der viszeral und immersiv sein will (ohnehin schon streitbar in diesem Kontext), bekommt dadurch ironischerweise etwas Akademisches, Künstliches, auch seltsam Angeberisches. Vieles wirkt gesetzt, alle Gesten, die etwas bedeuten wollen, sind als solche erkennbar, besonders das Schlussbild. Ob Nemes mit den Zielen, die er sich gesteckt hat, einen besseren Film hätte machen können, sei dahingestellt.

Ayka hingegen erzählt von einer Welt, die Dvortsevoy zwar nicht selbst erfahren, aber fraglos selbst gesehen hat. Er bedient sich ähnlicher Mittel wie Nemes, doch es gibt keinen doppelten Boden: Der Film zeigt uns das, was er uns zeigen will, über weite Strecken mit unverblümter Direktheit – selbst das, was im Off bleibt. Trotzdem verweist er über die Spezifizität seiner Geschichte und seiner Bilder hinaus, ohne sich damit aufzudrängen. Ayka, eindringlich verkörpert von Samal Esljamova, ist singulär, konkret, nur sie und niemand sonst – aber auch ein pars pro toto. Und ihr Spießrutenlauf ist zweifelsohne der einer in Moskau ums Überleben kämpfenden Kirgisin – aber er handelt auch von allgemeinen Zuspitzungstendenzen der Gegenwart. Wenn man will (man muss natürlich nicht wollen), dann ist Ayka auch ein Film über Cannes. So oder so: Wenn die Titelheldin am Ende zusammenbricht, tut sie das nicht, weil der Filmemacher es so haben will, sondern weil es ganz einfach nicht anders geht.

Ayka von Sergey Dvortsevoy - ©Festival de Cannes

Approved by Lanzmann: Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Außer dem unlängst erwähnten Saul fia, war in Hamburg noch ein weiterer Film über den Holocaust zu sehen. In A Nazi Legacy: What Our Fathers Did werden Horst von Wächter und Niklas Frank, Söhne ranghoher NS-Beamter, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Während Frank seinen Vater für seine Taten als Generalgouverneur von Polen verurteilt, weigert sich Wächter seinen Vater, den er als liebendes Familienoberhaupt in Erinnerung hat, als Monster abzustempeln. Wenig raffiniert spielt der Film die beiden gegeneinander aus und über die zunächst ambivalenten Beziehungen zwischen Vater und Sohn wird schon bald geurteilt. Mit Fortdauer des Films wird Wächter immer mehr antagonisiert; schließlich wird das komplizierte Geflecht aus Emotionen, Gedächtnis und moralischer Verantwortung schlicht in Gut (Niklas Frank) und Böse (Horst von Wächter) eingeteilt. Den Wendepunkt in der Inszenierung stellt der Besuch eines Veteranentreffens einer SS-Hilfseinheit in der Ukraine nahe Lemberg, dem ehemaligen Arbeitsplatz von Vater Wächter, dar. Dort wird der Sohn des ehemaligen Gouverneurs von Galizien von den Veteranen und den Sympathisanten herzlich willkommen geheißen. Unter ihnen sind jene, mit NS-Insignien geschmückten, ukrainischen Ultranationalisten die während der Maidan-Proteste in den Fokus der Weltöffentlichkeit getreten sind. Der Film verzichtet jedoch zugunsten einer eindeutigeren Dramaturgie, weitestgehend darauf diesen Bezug herzustellen, beziehungsweise die Rolle der ukrainischen Nationalisten im Zweiten Weltkrieg und in der Sowjetunion überhaupt, näher anzusprechen. Eine nicht zu verachtende Anzahl anti-russisch eingestellter Ukrainer hatte sich in den Kriegsjahren in den Dienst Hitlers gestellt, mit der Aussicht mit einer freien und unabhängigen Ukraine belohnt zu werden. Diese Männer verrichteten Hilfsarbeiten für die SS, ukrainische Wachmänner versahen zum Beispiel im polnischen Vernichtungslager Sobibor Dienst. Auch an jenem 14. Oktober 1943, als dort ein Aufstand der Gefangenen glückte, dem Claude Lanzmann ein filmisches Denkmal setzte.

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures beruht, wie der Großteil von Lanzmann Filmschaffen, auf seinen Recherchen zu Shoah. Im Zuge der Arbeiten für sein monumentales Epos interviewte er 1979 in Haifa Yehuda Lerner, einen der wenigen Überlebenden des Aufstands von Sobibor. Obgleich das Lager selbst im Film vorkommt, lässt Lanzmann keines der Opfer zu Wort kommen; die rund zehn Stunden Material mit Lerner behält er jahrelang in Evidenz, bis 2001 Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures erscheint. Der gebürtige Warschauer Lerner war nach acht Ausbruchsversuchen aus verschiedenen Arbeitslagern, im Minsker Ghetto in eine Gruppe jüdisch-sowjetischer Kriegsgefangener geraten. Mit dieser Gruppe wurde er ins Vernichtungslager Sobibor transportiert, wo er sich als einer von 60 der über tausend Männer zum Arbeitsdienst meldete und so dem Tod entging. In für Lanzmann typischen, langen Interviewpassagen, die nur durch die Übersetzungen der Dolmetscherin unterbrochen werden, erzählt Lerner von den Vorbereitungen und der Durchführung des Aufstands. Im Vergleich zu Shoah hat sich das strenge formale Gerüst in Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures mittlerweile ein wenig verändert. Allein deshalb, weil Lanzmann auf ein Interview zurückgreift, dass zum Zeitpunkt der Produktion schon über zwanzig Jahre alt ist. Diese Aufnahmen von 1979 konfrontiert er mit aktuellen Bildern aus Warschau und Sobibor. Der Film endet mit einer Liste der Transporte aus den verschiedenen Teilen des Reiches, die Lanzmann selbst vorliest. Trotz allem bleibt der Franzose in formaler Hinsicht ein radikaler Purist. Er arbeitet ohne Archivaufnahmen, ohne gesprochene Kommentare, lehnt Rekonstruktionen ab, denn was damals geschah, könne man ohnehin nicht durch solche Mittel fassbar machen. Stattdessen lässt er Zeitzeugen zu Wort kommen; oral history nennt das der Fachmann. Die Wirkung von Lanzmanns Filmen liegt einerseits an seiner meisterhaften Interviewtechnik, einem stetigen Nachbohren und Nachhaken, das jedoch nie aufdringlich oder aggressiv wird, und kluger Montageentscheidungen, die zahllose Stunden Rohmaterials in eine geglättete, kohärente und stringente Form bringt. Lanzmanns Filme sind massive Zeugnisse unvorstellbarer Ereignisse und zweifellos meisterhafte Werke der Kunstgattung Film, doch der Mythos, der sich mittlerweile um die Person Lanzmann rankt ist problematisch. Wenn junge Regisseure wie László Nemes bei Lanzmann vorstellig werden, um sich Absolution erteilen zu lassen und das Urteil des alten Meisters dann als Adelsprädikat – approved by Lanzmann – mit sich herumtragen, dann hat das einen faden Beigeschmack. Lanzmann hat sich seine Position als (filmischer) Doyen in Holocaustfragen, durch seine jahrelange mühevolle Recherche und die akribische Arbeit am Material erworben, doch seine zweifelhafte Rolle als Moralapostel rechtfertigt sie nicht. Kürzlich war Marcel Ophüls mit seinem Film The Memory of Justice in Wien zu Besuch. Ophüls hat wie Lanzmann lange Jahre seines Lebens mit der filmischen Aufarbeitung des Holocausts verbracht, doch im Gegensatz zu Lanzmann, hat ihn diese Arbeit nicht gleichermaßen verhärten lassen. Ophüls, so mein Eindruck, hat nie verlernt neue Wege zu gehen und neue Perspektiven zuzulassen, bei Lanzmann fehlt mir dieses Gefühl.

Filmfest Hamburg Diary: Tag 7: The Song of Saul

The Song of the Sea von Tomm Moore

„Hamburg ist nicht nur eine Stadt, Hamburg ist eine Einstellung.“ – Some random guy

Der Deutsche ist als pünktlicher Mensch bekannt (man möchte sagen „verschrien“). Das ist prinzipiell eine durchaus löbliche Eigenschaft, doch treibt sie hier recht seltsame Blüten. Zwar schätze ich es, wenn nicht Verspätungen meine sorgfältig getakteten Pläne über den Haufen werfe, doch einen Film gar mehr als fünf Minuten vor angekündigtem Beginn anlaufen zu lassen, schießt dann doch etwas über das Ziel hinaus. So waren gerade die ersten Sekunden aus Saul fia zu sehen, als ich pünktlich um 16:55 zur 17-Uhr-Vorstellung in den abgedunkelten Kinosaal trat. Nicht nur, dass das für mich persönlich sehr ärgerlich war, die Anzahl der Zuspätkommenden (die es immer gibt) erhöhte sich dadurch beträchtlich (genau genommen, kamen sie, wie ich auch, gar nicht zu spät) und die ersten fünfzehn Minuten im Saal waren dementsprechend unruhig.

Son of Saul von László Nemes

Saul fia von László Nemes

Saul fia wurde seit seinem Erscheinen, wahrscheinlich zu Recht, von einigen Seiten für seine marktschreierische Ästhetik und seine Behandlung der heiklen Holocaust-Thematik kritisiert. Saul fia ist auf keinen Fall ein Meisterwerk, Filmemacher wie Alain Resnais oder Claude Lanzmann haben sich des Themas auf eine Art und Weise angenommen, die László Nemes nicht erreicht. Sollte man angesichts dieser gewichtigen Vorarbeit damit aufhören, den Holocaust filmisch zu verarbeiten? An manchen Stellen wirkt der Film ohne Zweifel wie „ein Konzeptfilm, der nicht an seinem Konzept interessiert ist, sondern am Effekt dieses Konzepts“, wie Patrick es formuliert hat. Was Nemes unternimmt ist gewagt und seine Motive sind alles andere als klar, doch ungeachtet dessen ist Saul fia eine spannende Gratwanderung zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, die nicht immer gelingt, aber es trotz aller Zweifel vermag, drängende Fragen aufzuwerfen. Der Film ist ein Schmelztiegel aus moralischen Fragen über Religion, Familie, Gewalt und Krieg; alle diese Fragen werden an der Figur des Saul Ausländer durchexerziert, der als Platzhalter und Identifikationsobjekt fungiert. In der restlichen Inszenierung mag sich Nemes um Realismus bemühen, Saul Ausländer ist der aufgesetzte Katalysator, den man entweder akzeptiert, oder auch nicht. Er erlaubt es Nemes, sich relativ frei durch das KZ-Setting zu bewegen und dennoch einen Fokuspunkt zu behalten. Die Leichenberge zeigt er nur verschwommen, und vertraut dabei auf ein kulturelles Gedächtnis, das mit diesen Bildern gesättigt ist, POVs setzt er dann ein, wenn Saul aus seiner Rolle als Platzhalter fällt und als Mensch auftritt: wenn er seinen toten Sohn entdeckt, wenn er den jungen im Wald anlächelt. Klar hat das auch mit einer gesteigerten emotionalen Bezugnahme zu tun, aber Saul fia geht weit darüber hinaus, den Holocaust nur emotional greifbar zu machen (ergriffen wird man davon relativ schnell – das schaffte sogar Roberto Benigni), sondern unternimmt den Versuch ihn intellektuell fassbar zu machen. Das schafft er zugegebenermaßen nur stellenweise, aber er versucht es auf eine mutige und andere Art und Weise, weshalb ich dem Film im Gegensatz zu Patrick einiges abgewinnen konnte.

The Song of the Sea von Tomm Moore

The Song of the Sea von Tomm Moore

Die Verteidigung von Saul fia liegt mir weniger am Herzen, als über den wunderbaren Song of the Sea zu schreiben. Der Film stammt aus der Feder des Iren Tomm Moore, der, wie schon in seinem letzten Film The Secret of Kells, seine Qualitäten als Geschichtenerzähler beweist. Wie die meisten großen Animationsfilmer, vermag es Moore sich gleichzeitig an ein kindliches und erwachsenes Publikum zu richten. Souverän bereitet er die komplexe keltische Sagenwelt auf. Das kommt nicht nur den Kindern zugute, sondern auch jenen Zusehern, die nicht mit dieser Kultur vertraut sind. Moore kommt dabei zugute, dass sich phantastische und tragische Elemente in diesen Mythen von vornherein die Waage halten. Diese Elemente strukturiert Moore um die Figur des Ben. Er ist der Sohn des Leuchtturmwärters Conor und seit dem Verschwinden seiner Mutter vor sechs Jahren etwas verloren. Seinen Vater hat dieser Verlust denkbar schwer getroffen und er verhält sich seither abwesend und zeigt mehr Zuneigung für seine Tochter Saiorse, die der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Als die beiden Geschwister just zu Halloween zu ihrer Großmutter ziehen und Ben seinen geliebten Hund Cú zurücklassen muss, zerfällt seine heile, wenn auch brüchige Welt endgültig zu einem Scherbenhaufen. Er will nach Hause zurückkehren, sieht sich aber schon bald mit weit größeren Problemen konfrontiert, denn es stellt sich heraus, dass seine Schwester (wie auch seine Mutter), eine Selkie ist, der es obliegt eine böse Eulenhexe zu stoppen, die magischen Kreaturen ihre Gefühle entzieht und sie zu Stein verwandelt. Ben ist durch die Geschichten seiner Mutter gut mit den Protagonisten der Sagenwelt vertraut, spätestens zu diesem Zeitpunkt, wird Saiorse zum eigentlichen Zentrum der Handlung. Der Film nimmt hier eine düstere Wendung, die anfängliche kindliche Unzufriedenheit mit der Großmutter und die Angst vor dem Verlassen des Zuhauses wird durch weit größere Gefahren relativiert. Die schroffe Szenerie der irischen Küste freilich, sorgte schon von Beginn an für eine bedrohliche Atmosphäre. Viel obliegt in einem Film dieser Art dem Zeichenstil. Moore löst dabei die wilde und ungebändigte Landschaft in vorwiegend runden, weichen Formen auf. Der Kontrast zwischen Bedrohung und Geborgenheit, sowie dem Fremden und der Familie dient als Leitmotiv, dass sich inhaltlich wie formal durch den Film zieht. The Song of the Sea ist zugleich bedrückender Gruselfilm, wie herzerwärmendes Familiendrama. Ein Film, der nicht auf Schock- und Spektakelwert abzielt, um Kinder (und Erwachsene) zu unterhalten, sondern eine Gefühlswelt schafft, mit der sie sich identifizieren können und die sie auf positive Art und Weise mit unangenehmen Fragen konfrontiert.