Viennale 2015: Singularities of a Festival: GRÜN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel kneifen sich und träumen weiter im Sog der beleuchteten Vierecke. Dabei verschmelzen die Erfahrungen zwischen den Filmen mehr und mehr und wenn man die Augen am Abend vor dem Schlafen schließt, sieht man tausende Farben eines Kinos, das noch zu nahe unter den Lidern lebt, um schon verstanden zu werden.

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Taxi Driver De Niro

Patrick

  • Nachts fährt man durch eine fast leere Stadt (es sollte immer noch Wien sein, es sei denn ich habe mich verfahren) nach dem letzten Film des Tages. Sie streichen alle Fahrradwege grün. Mein Rad macht komische Geräusche auf diesem Farbgeruch. Ich blicke auf die feuchten Farbkörner des frischen Belags, die an meinem Vorderrad hochspritzen und dann auf das Licht meiner schwächlichen Vorderlampe, die den grünen Boden immerwährend beleuchtet, als würde ich das Kino mit auf meinem Weg nehmen.
  • Martin Scorsese steht mit einem Megafon im Gartenbaukino und schreit Touristen an, die ein Foto von ihm machen wollen. Eine Welle bricht ins Kino und mit ihr ein riesiges Schiff.
  • In Transit, der letzte Film von Albert Maysles, zeigt uns wie verklärt Amerika noch immer sein kann. (life is peaceful there) Der Film macht etwas anderes. Er baut eine Utopie der Menschlichkeit auf. So verklärt ist nicht mal Amerika.
  • Jem Cohen hat in seinem Publikumsgespräch gesagt, dass man verschiedenen Filmemacher einfach nicht nachahmen sollte…man sollte nicht versuchen, einen Bresson-Film oder Ford-Film zu machen. Perrone hat in Los actos cotidianos versucht, einen Pedro Costa-Film zu machen. Er hat sicherlich gute Dinge dabei gefunden, aber etwas anmaßendes liegt in dieser Haltung, die Cohen Recht gibt.
  • Trotzdem denkt man dann an Vanda. Ich weiß gar nicht weshalb. Ich denke an ihre Nahaufnahmen oder an sie.
  • Ein ehrlicher Film verliert meist von seiner Ehrlichkeit, wenn er im Festivalkontext gezeigt wird.

Scorsese2

Ioana

  • Der Perrone von heute sieht noch mehr wie Costa aus, als der Perrone von gestern. Nur ohne die Worte, die wie das Letzte klingen, was man vor dem Sterben sagt, ohne die schweren Blicke, ohne dass die Türen mehr als Türen sind. Eigentlich ohne alles. Daher verabschiede ich mich schon von seiner ersten Phase und warte trotzdem neugierig darauf, Filme aus seiner zweiten zu sehen.
  • Vielleicht ist In Transit eine gute Art sich zu verabschieden. Wer weiß?
  • Sobytie ist extrem interessant aus zahlreichen Gründen, aber die meisten Fragen muss ich mir über Loznitsas Umgang mit dem Archivmaterial stellen. Wie kann er mit Material arbeiten, das nicht von ihm gedreht wurde und darin das, was ich als seine Perspektive einschätze, durchsetzen? (Editing) Wieso sieht das fast wie continuity editing aus (natürlich eine Übertreibung) – war das Material teilweise montiert? Hat er Teile, die schon montiert waren, so übernommen? Wie viele Quellen gibt es? Wie kann der Film so abgeschliffen aussehen? Ich wusste, dass er mit Archivmaterial [aus der Zeit] gearbeitet hat und die ersten Minuten schienen mir trotzdem aus einem ‘Spielfilm’ (nein, den Unterschied gibt es so gar nicht) zu stammen. Ich stelle mir dreimal so viele Fragen über die Tonebene.
  • Ich finde manches aus der Beschreibung des Films, die auf der Seite der Viennale zu finden ist, komisch: “Loznitsa montiert seinerzeit entstandenes Material mit bewährter Zurückhaltung und konzentriert sich auf die Gesichter; man lernt: Im Moment ihres Geschehens ist Geschichte banal und du und ich sind auch durch bloßes Herumstehen daran beteiligt.”   
  • Kurz nach dem Film musste ich an Videogramme einer Revolution von Harun Farocki – die Vorbereitung auf die TV Sendung – denken und lachen. – Was sagen wir jetzt? Die hinten mit der Flagge – Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen.  Dann musste ich natürlich an Porumboiu denken, ich frage mich, ob er noch in Wien ist.
  • Ich habe eine Thermosflasche in der Viennale-Tasche gehabt und die Tasche ist ein wenig geschmolzen, weil die Flasche heiß war und die Tasche aus Plastik oder etwas Ähnliches ist und ich habe mich geschämt, weil meine Tasche im Kino gestunken hat, aber du hast es nicht gemerkt.
  • A Poem is a Naked Person ist bunt und zerstreut und war ein guter Anfang für den Tag und ein Mann isst einen Becher.
  • Morgen kann man die Karte für Cemetery of Splendour reservieren, es darf nicht schiefgehen.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: SCHWARZ

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel geben ihre Eindrücke vom Festivaltag wieder. Dabei werden sie nicht zwangsläufig schreiben, um welchen Film oder welches Programm es sich handelt. Es sind einfach Eindrücke, die gleich jenen undefinierbaren Empfindungen kurz vor dem Einschlafen durch die Schläfen wandern, bis sie sich hinter den Augen sammeln, von wo aus sie je nach Inspiration unsere Träume und Filme füllen.

Zu Tag 1

Sam Fuller White Dog

Patrick

  • Ist die Kamera in der Gegenwart oder in der Vergangenheit?
  • Loznitsa und Sobytie. Einmal gibt es einen Schwenk im Regen von Moskau über das Meer der Gesichter, die den Filmemacher wieder als Menge interessieren, als Nation? Jedenfalls endet der Schwenk auf einem großartigen Bild. Ganz rechts steht ein einsamer Mann mit Regenschirm. Er scheint nicht nur den Geschehnissen auf dem Platz zu folgen, sondern den Videogrammen dieser Revolution. Man hört wie Regen auf den Schirm prasselt.
  • Es gibt keine Dragee Keksi scheinbar in diesem Jahr. Noch beschwere ich mich nicht, aber ich ahne schlimmes für jene Tage, an denen man nach Zucker lechzt, um zu überleben.
  • Nochmal zu Loznitsa. Er wirft einen wirklich in die Vergangenheit, als wäre es die Gegenwart. Darin liegt seine Politik. Wir haben schon subtilere Filme von ihm gesehen. Insbesondere der Einsatz von Tschaikowski ist etwas arg aufgesetzt. Ich hätte die Bedeutung dieser Bilder für die Gegenwart wohl auch so verstanden.
  • Wie kann man die Erfahrungen unserer visuellen Dauerbeschallung im Kino verarbeiten? 88:88 von Isiah Medina wagt einen radikalen Versuch, indem im Bilderrausch letztlich nichts mehr übrig bleibt. Der Film ist fast unansehlich, er zeigt ein Dilemma des Kinos an, die Unfähigkeit über unsere modernen Erfahrungswelten zu sprechen. Es ist ein Film nach dem Kino.
  • Sam Fuller inszeniert Hass wie Douglas Sirk Liebe (White Dog)
  • Eine traurige Gestalt, die das Kino liebt und dieses gekünstelte Lächeln zwischen den Screenings nicht.
  • Sebastian Brameshuber sagt etwas gutes nach seinem Film, er sagt, dass er es immer liebe, wenn im Filmmuseum Stummfilme ganz ohne Musikbegleitung gespielt würden, weil er so seinen eigenen Körper und die Körper seiner Umgebung plötzlich wahrnimmt und so das Kino als sozialen und lebenden Raum begreifen könne.

White Dog

Ioana

  • Ich hatte die verworrenen Beziehungen und verwirrende Abweichungen von Desplechin vermisst. Nach Jimmy P. dachte ich, dass es keine Energie mehr in den Filmen von Desplechin geben wird. Ich habe Paul Dedalus vermisst, aber nur Esther bekommen. (Patricks Besprechung von Trois souvenirs de ma jeunesse)
  • Mitten in Kaili Blues habe ich gemerkt, dass ich bis dahin vielleicht nicht richtig hingesehen hatte. (War es, weil ich Bilder von einem Discoball, Neonlichtern in einem Wassereimer gespiegelt oder einen Jahrmarkt mit bunten Ballons, als zu viele sparkles wahrgenommen habe? Oder einfach weil die Untertitel des Zitats aus der Diamant-Sutra so kurz auf der Leinwand standen, dass ich sie nicht vollständig lesen konnte?
  • Es gibt keine Dragee Keksi scheinbar in diesem Jahr. Das ist ok, weil “Keksi”  so ein abturnendes Wort ist.
  • La Vida Útil war auf jeden Fall besser anzuschauen als Computer Chess. Ich hoffe, dass sie mir nicht nur wegen s/w und Nerdigkeit vergleichbar scheinen.
  • Chinesischen Ghost Cities, Staub und Krankheiten am Ende des Tages

Fabriken im Film

Es gibt einen Rhythmus der Arbeit im Film. Rauchende Schornsteine, Motoren rattern, mechanische Bewegungen spielen Musik in der Montage und sie dynamisieren ganz nach den Eisenstein-Ideen unsere Wahrnehmung: Ja, agitatorische Fabriken im Film, ihre Bewegung zieht sich über das Land, durch die Stadt bis hinauf in den Himmel bis sogar der sinnlich-religiöse Dovzhenko sich in den kraftvollen Blick der Maschinen verliebt. Erstaunlicherweise trifft sich dieses extrem linke Propagandamaterial in seiner dynamischen Ästhetik mit jener des Propagandakinos im nationalsozialistischen Deutschland. Man denke an einen Film wie Metall des Himmels von Walter Ruttmann. Die Arbeit hängt an Fabriken und diese Fabriken werden als Motor für politische Systeme verstanden, die Arbeit wird glorifiziert und eine Fabrik ist der heilige Tempel, in dem jedes Rad in das nächste greift für einen Fortschritt, doch wohin? In seinem Fabrica nimmt Sergei Loznitsa die ikonischen Bilder des sowjetischen Kinos auseinander. Die Arbeit hat etwas Ermüdendes und Grausames bekommen hier. Die Maschinen sind unerbittlich, der Mensch wankt. Während das Fließband unaufhaltsam in ein schwarzes Nichts läuft, behindert eine aggressive Wespe Charlie Chaplin bei seiner Arbeit in Modern Times. Immer wieder hängt er in den Maschinen fest, die Automatisierung des Menschen, die Fabriken gewinnen Macht über uns. Vor dem Auge erscheinen die bizarren Schläuche in Jacques Tatis Mon oncle, die merkwürdigen Geräusche, wohin führen all diese Wege, was machen all diese Apparate? Es ist heiß in den Fabriken, ein Höllenschlund. In Michael Ciminos The Deer Hunter wird man gleich in den ersten Bildern mitten hinein geworfen in das Feuer, die sengende Hitze des Untergangs, die sich letztlich im Wahnsinn auf der anderen Seite des Planeten finden wird, aber hier ihr Echo und natürlich auch ihren industriellen Ursprung findet. Man denke nur an diese sarkastische Eröffnungssequenz in Lord of War von Andrew Niccol, in der ebenfalls eine Melodie der Fabriken erzeugt wird, eine Hand in die andere greift bis eine hergestellte Munitionskugel im Kopf eines Menschen landet. Eine Fabrik zu besitzen, bedeutet Macht wie man zuletzt auch in A Most Violent Year von J.C. Chandor sehen konnte. Macht, die im Film oft zu Gewalt führt.

Modern Times von Charlie Chaplin

Modern Times von Charlie Chaplin

Cristi Puiu bewegt sich verdeckt von Fenstern und Mauern durch seinen isolierenden Arbeitsplatz in Aurora, eine Fabrik. Sein Umgang mit Mitarbeitern ist schroff, in den Pausen sitzt er alleine am Rand der Fabrik, er bewegt sich so, dass er niemand begegnen muss. Damit ähnelt er tatsächlich Jacques Tati (man muss darüber nachdenken…). Auch Christian Bale ist ein solcher Isolierter in einer Fabrik in The Machinist von Brad Anderson. Aber in seinem Fall offenbart sich eine andere Eigenschaft von Fabriken im Film, nämlich die Gefahr eines Unfalls, das Schicksal und die Bedrohung am Arbeitsplatz. Besonders schwer wiegt das im Fall der verheimlichten Augenerkrankung in Dancer in the Dark von Lars von Trier. Es geht um Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, die Maschinen zu bedienen, aber deren Existenz daran hängt. Fabriken im Film, das ist auch Überleben und Ökonomie. Besonders heftig ist da natürlich die Arbeit in einem Atomkraftwerk wie sie in Rebecca Zlotowskis Grand Central gezeigt wird. Ein Fehler kann tödlich sein, die Bedrohung ist in diesem Fall nicht sichtbar. Der giftige Rauch in Michelangelo Antonionis Il deserto rosso, diese entfernten und doch nahen Geräusche, was passiert dort, was haben wir damit zu tun? All diese Beispiele stehen für eine Entfremdung vor einer Arbeit, die aus immer gleichen Bewegungen besteht, die zeigen wie schwer es ist die Konzentration aufrecht zu erhalten und wie wichtig die Bedingungen dafür sind. Stumpfer Wiederholungsdrang, der glückliche Sisyphos könnte sich sein Bein brechen, wenn er ausrutscht, was dann? Es sei darauf verwiesen, dass sich die vielleicht ultimativ funktionale und entfremdete Fabrik im Haushalt von Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles von Chantal Akerman findet. Die Fabrik als Lebensweise.

Aurora von Cristi Puiu

Aurora von Cristi Puiu

Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni

Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni

Die Landschaften um die Fabriken sind meist ein endzeitliches Ödland, Antonioni scheint mit seinem nebeligen Giftsümpfen in Il deserto rosso, in denen Schiffe am Horizont erscheinen und kein Leben möglich ist, in der Wunde einer industriellen oder post-industriellen Welt zu baden. Doch auch der Metall-Schick von James Camerons The Terminator, die tristen Schornsteine am Horizont der Stadt in Koridorius von Sharunas Bartas, die vergeblichen Leidensgeräusche einer verlassenen Industrie bei Béla Tarr, ja die Fabriken verschwinden, ihr Klang ist nur mehr ein Echo. Das gilt für die Schicksale der Arbeiter wie sie Nikolaus Geyrhalter in seinem Über die Jahre beobachtet und für die Fabriken selbst wie man es oft in den Filmen von Jia Zhang-ke (zum Beispiel 24 City, A Touch of Sin oder Still Life) sehen kann, in denen Fabriken geschlossen werden und die letzten Arbeiter wie Geister durch ein China ohne Bestimmung torkeln. Leere Fabriken, sie sind Geschichte und Erinnerung. In IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata ist die Fabrik endgültig ein Geisterort und damit finden Fabriken vielleicht eine filmische Bestimmung, die sie endgültig völlig entfernt hat von den mechanischen Festen vernichtender politischer Systeme, in eine filmische Welt, in der Platz sein kann für die Menschen, ihre Hände, Gesichter und ihre Zeit, die an diese speziellen Orten und in den speziellen Relationen zur Musik der Maschinen zwischen Überlebensdrang, Hässlichkeit, Hoffnung, Gefahr, Macht und der Schönheit von getrocknetem Öl in den Händen eines Geists führen kann. Elia Kazan hat in seinem The Last Tycoon bereits dieses Gefühl der Vergänglichkeit auf die Fabriken der Filmindustrie selbst gelegt, die leeren, funktionslosen Studios, kein Wind aus den Maschinen, kein Mondschein aus den Scheinwerfern, das Ende der Fabriken, das Ende der Illusion?

The Machinist von Brad Anderson

The Machinist von Brad Anderson

IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata

Vielleicht kann man so verstehen, warum Willy Wonka im Angesicht seiner Fabrik in Willy Wonka & the Chocolate Factory von Mel Stuart von seiner Imagination singt:

Come with me and you’ll be
In a world of pure imagination
Take a look and you’ll see
Into your imagination

We’ll begin with a spin
Trav’ling in the world of my creation
What we’ll see will defy
Explanation

If you want to view paradise
Simply look around and view it
Anything you want to, do it
Want to change the world, there’s nothing to it

Ist die Vergangenheit des Kinos seine Zukunft?

Egal ob man apokalyptischen „Ende-des-Kinos“-Gedanken oder hoffnungsvollen Fortschrittsdenkern folgt, scheint in vielen Auseinandersetzungen mit dem kinematographischen Wesen immer dessen historische, ästhetische und emotionale Vergangenheit eine Art Ideal oder Rechtfertigung zu sein. Der Blick zurück ist fester Bestandteil des Kinos. So begründete Adrian Martin unlängst seine Rückkehr in die Arbeit als freier Autor mit der Beobachtung, dass Cinephilie rückwärtsgewandt sei. Dazu zitierte er wie so oft Serge Daney: “Serge Daney once defined cinephilia as „the eternal return to a fundamental pleasure“. A pleasure whose constitution is somewhat different for each culture, each generation and, finally, each individual. But whatever it is that forms the core of the cinephile passion for any of us, it is to that, apparently, we shall return.” Filmemacher berufen sich natürlich fast zwangsläufig auf die Vergangenheit, wenn es um Einflüsse und Vorbilder geht. Sie können sich schlecht an der Zukunft orientieren und den Einfluss zeitgenössischer Filmemacher gibt man nicht gerne zu. So ist es kein Wunder, dass auch hier die Vergangenheit eine große Rolle spielt und sich bei manchem Filmemacher auch deutlich in Form und Inhalt wiederspiegelt. Nuri Bilge Ceylan ist dafür ein sehr gutes Beispiel, wird ihm doch von manchen Betrachter vorgeworfen, dass er sich sehr frei an Filmemacher wie Andrei Tarkowski oder Michelangelo Antonioni bedient. Man könnte eine ganze Liste aufstellen mit den großen Filmemachern von damals und ihrem Überleben im Werk anderer Filmemacher. Aber zum einen verkommen solche Ansätze zu unfertigen Spielereien und zum anderen ist klar, dass ein Einfluss nicht einfach nur ein Einfluss ist, er ist weder mehr noch weniger als das, ohne es jemals nur zu sein. Oft wird so getan als gäbe es die Vergangenheit des Kinos wie einen schwebenden Punkt in der Zeit völlig ohne Relation. Ein gutes Beispiel dafür hörte ich in einem Seminar zum Dokumentarfilm, in dem hintereinander Gerhard Friedls Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? und der berühmte britische Propagandafilm The Battle of the Somme gezeigt wurden und man sich begeistert auf Parallelen in der Art und Weise der Schwenks in beiden Filmen stürzte. Dabei verstehe ich, dass es diese Verbindungen gibt, aber mir fehlen die Brücken, die es ja zweifellos zwischen 1916 und 2004 gegeben hat mit tausenden ähnlichen Schwenks. Dann gibt es da Filmemacher wie Béla Tarr, von denen man immer wieder hört, dass sie sich an einer Ästhetik des Stummfilms bedienen. Das halte nicht nur ich für ziemlichen Schwachsinn, da Kamerabewegungen, Tondesign und das Schweigen in den Filmen von Tarr grundverschieden von der eigentlichen lauten, handlungsfreudigen Ästhetik vieler Stummfilme sind. Dennoch erging es mir selbst so, dass ich vor kurzem Parallelen zu entdecken glaubte, zwischen Tarr und Werner Hochbaums Morgen beginnt das Leben. Ist dieser Drang also eine Folge eines ganz anderen Drangs, der darin besteht, dass man ständig einordnen will, Brücken und Vergleiche schlagen möchte und sich sowieso ständig an seinen eigenen Seherfahrungen abarbeitet? Würde das umgemünzt auf das Kino bedeuten, dass es seit einiger Zeit ein Gedächtnis hat, das von einer solch immensen Größe ist, dass es beständig die Gegenwart durchdringt? Oder anders gefragt: Kann man überhaupt noch beziehungsweise konnte man jemals einen Film machen, der isoliert von jedweder Verbindung zur Vergangenheit des Kinos ist? Wenn man frühe und enthusiastische Theoretiker wie Jean Epstein liest, fällt einem auf, dass sie das Kino immerzu als Potenzial verstanden haben. Begeistert wird da von Möglichkeiten und Innovationen der Wahrnehmung gesprochen, die darauf warten in die Praxis umgesetzt zu werden. Heute werden nur mehr Versuche unternommen, das Kino neu-zu-denken, nicht es neu-zu-machen. Immerzu beschleicht einen das Gefühl, dass alle Wege schon gegangen worden sind, alle Ideen nur eine Wiederholung der immer gleichen und letztlich gleichermaßen scheiternden und in Kraft tretenden Utopien des Kinos sind. Dabei gleicht die Kinolandschaft dann tatsächlich einer apokalyptischen Welt, nicht weil sie völlig zerstört oder leer wäre, sondern weil man auf lauter Einzelkämpfer und Überlebenskünstler trifft, die klagen und jammern und sich von allem abgrenzen zur Gegenwart und zu allen anderen.

Serge Daney

Serge Daney

Ist das alles nicht Resignation? Als junger Mensch muss man sich schon und beständig fragen, warum man heute ausgerechnet im Filmbereich arbeiten will. Es ist eine Branche der Verzweiflung (egal ob Praxis oder Theorie), obwohl das Kino immer noch so vital scheint und auch als solches beworben wird. Nur wenn man sich umsieht, dann kann man eigentlich kaum ignorieren, dass dies eine der aufregendsten Phasen in der Geschichte des Bewegtbildes ist. Wir haben einen übermäßigen Output an Filmen, Festivals en masse und jedes Jahr große und kleine Filme, die absolut großartiges vollbringen und viele der Innovationen und Utopien des Kinos erfüllen. Ein junger Kritiker bekommt bei dieser schieren Masse und Verfügbarkeit ganz neue Möglichkeiten und eine ganz neue Wichtigkeit, da er theoretisch weitaus freier und vielschichtiger Vermittlungsarbeit betreiben muss. Für Filmemacher dagegen ist es eine unfassbar aufregende Zeit, da wir uns in lauter Übergangsphasen befinden, in medialen Übergängen, in Übergängen bezüglich des Dispositivs Kino und schließlich auch neue Vertriebsmöglichkeiten und Diskussionen entstehen. Es sollte eigentlich eine Zeit der puren Kinomanie sein, aber da gibt es einige Probleme. Die gesellschaftliche Wichtigkeit von Film wird marginaler und marginaler. Andere Medien haben die Welt überrollt. Ich spreche bezüglich der Marginalisierung von Film als Kunst. Und damit ist selbstverständlich nicht allein der Kunstmarkt gemeint, sondern auch eine Betrachtungsweise industriellen Kinos als Kunst. Fast lächerlich scheinen mir die Versuche vieler Kritiker, Filme auf ihre gesellschaftliche oder politische Relevanz hin zu analysieren. Es ist deshalb lächerlich, weil es an der völlig falschen Stelle ansetzt und die zunehmende Marginalisierung von Film eher befördert als verhindert (selbst wenn es gegenteilig gemeint ist). Der Ansatz dieser Kritiker und Vermittler ist, dass sie Filme dekonstruieren und damit aufzeigen wie diese arbeiten und was sie über uns und die Gesellschaft aussagen. Das klingt an sich nicht falsch. Nur kann ein Film heute noch was über eine Gesellschaft sagen, wenn er jenseits ihrer Wahrnehmung stattfindet beziehungsweise hilft es den Filmen, wenn man sie so betrachtet? Es scheint mir immer noch fruchtbarer sich für einen filmbezogenen, formalistischen und konstruktivistischen Ansatz stark zu machen und zwar sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Denn nur über ein Interesse und eine Begeisterung für Film jenseits seiner Thematiken und Botschaften, kann man diesen wieder ein öffentliches Gehör schenken. Und genau an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das Kino doch über sein Ende hinaus ist und was dies bedeuten würde. Denn was hat die Form von Film noch mit sich und uns tun?

Haben wir vielleicht bereits eingesehen, dass es keine Zukunft mehr gibt und versuchen uns jetzt alle zu retten, wir berufen uns auf die Geister des Kinos wie Apichatpong Weerasethakul oder Gilberto Perez, jene Phantome, die so fest in die Wirkung und Technik von Film einwirken, dass man sich fragen kann, ob die Vergangenheit nicht sowieso in jedem Bild wiederkehrt. Wir berufen uns auf die verbitterten Handwerker des Kinos wie Pedro Costa, auf den Surrealismus wie Bruno Dumont oder das Ende des Kinos wie Godard. Dieses traurige Gefühl einer Nostalgie ist dominant. Nostalgieabende werden veranstaltet, „alte“ Filme werden gezeigt und man betont, was für eine Besonderheit es doch ist, dass man sie noch einmal auf Film projiziert zeigen wird. Das zieht sich von Retrospektiven auf Festivals, die zunehmende Bedeutung von Il Cinema Ritrovato in Bologna bis hin zu der unglaublichen Begeisterung für die Einfallslosigkeit eines neuen Star Wars Films. Man darf sich schon fragen, ob diese ganze Glorifizierung der Vergangenheit, das Schwärmen und die Nostalgie nicht der ultimative Sieg der Hollywoodmaschinerie mit ihren Remakes und Sequels ist, die Filmgeschichte als eine Spirale, 120 Jahre Hoffen auf die Vergangenheit. Damals war alles schöner? So einfach kann es gar nicht sein, schließlich war es doch irgendwie von Beginn an klar, dass Film sich nicht vergessen kann, schließlich hat er sich selbst (neben all den anderen Dingen, die darauf zu sehen und hören sind) gespeichert. Film ist nun mal eine einzige Erinnerung an sich selbst. Nur darf man heute noch an die Utopie des Kinematographischen glauben, an jenes Potenzial unsere Wahrnehmung zu verändern und alles umzuwälzen, uns zu erfinden im Licht der Leinwand oder des Laptops? Oder ist der Weg nach vorne kürzer als der nach hinten und deshalb ist es das Zeitalter der Zyniker, der nostalgischen Brüder, die sich nicht durch ihre Weltsicht verbinden sondern dadurch, dass sie Zynismus zu einer Marke gemacht haben. Gibt es noch Möglichkeiten im Kino? Natürlich! Technische Innovationen, Reaktionen auf eine Welt, die sich zwar nie total verändert, aber immerzu so tut als ob und die bereits angesprochenen Übergangsphasen, die neues Potenzial freilegen und in extrem versierten Interpretationen wie bei Albert Serra oder in Sergei Loznitsas Maidan wirken bereits heute und deuten auf eine Zukunft des Kinos hin. Das Kino stagniert sowohl bei einem filmischen Purismus, der Film nur im Kino und an seine ursprüngliche mediale Form gebunden sieht (vor kurzem erwischte ich mich in einem Gespräch dabei zu sagen, dass die einzige mögliche Rebellion im Kino heute sei, auf Film zu drehen) als auch bei einer formalen Nonchalance, die sich nicht bewusst ist, was sie benutzt, um zu drehen oder zu projizieren und die diese Medialität und Form nicht automatisch zu einem Gegenstand des Films oder seiner Aufführung/Besprechung macht. Letzteres wäre eine Sache der Bildung und da gibt es hierzulande und überall extreme Defizite in diese Richtung. Selbst an Universitäten werden Filme nach wie vor kommentarlos gezeigt, um geschichtliche Ereignisse zu veranschaulichen. Das ist der völlig verfehlte Turn einer Vergangenheitsbezogenheit, weil er so tut als würde Film eine Welt vermitteln, obwohl Film immer in erster Linie sich selbst und einen eigenen Zugang zu einer Welt vermittelt. Man kann daraus natürlich Informationen oder Beobachtungen filtern, aber man muss sich die Arbeitsweise des Films bewusst machen. Wie die Sache auf Filmschulen oder im Bereich der Filmwissenschaften aussieht wurde an dieser Stelle schon häufiger skizziert. Man darf davon ausgehen, dass es kein größeres Interesse an einem formalen Zugang gibt, wenn, ja wenn dieser nicht geschichtlich verifizierbar ist und man ihn in Schubladen stecken kann.

Maidan von Sergei Loznitsa

Maidan von Sergei Loznitsa

Praxis darf nicht mehr einfach nur eine Selbstverwirklichung sein, es muss wieder den Idealismus einer Kinoverwirklichung geben, die sich individuell, rebellisch und abgrenzend verstehen darf, aber nicht nur mit dem egoistischen Touch einer Willkürlichkeit argumentieren sollte, sondern Fragen stellen muss an das, was da getan wird und wie es getan wird. Was man braucht sind Kämpfer für das Kino, keine Politiker, keine eingebildeten Einzelkämpfer oder Opfer eines kapitalistischen Überlebensdrangs. Das Kino braucht idealistische Realisten, die nicht zynisch sind, weil zynisch cool ist, sondern wenn dann, weil sie es wirklich fühlen. Die ökonomischen Maschinen, die uns sagen wie ein Film auszusehen hat, welcher Film besprochen werden muss und welcher gar nicht erst ins Kino kommt, müssten abgerissen werden. Sie werden es nicht. Sie sind wie eine Selbstvernichtungsmaschine. Aber ein paar Angriffsflächen bietet jedes System.

Wo könnte ein Umdenken stattfinden? Es gibt nicht viele Anhaltspunkte, aber zwei sind mir schon seit einiger Zeit zumindest als abstraktes Konstrukt bewusst. Das erste Umdenken würde die Filmpraxis selbst betreffen, es geht um ein Umdenken bezüglich der narrativen Form. In den zahlreichen Inhalt VS. Form Debatten, die man in Filmkreisen führt, kommen immer wieder unterschiedliche Zugänge zu Begriffen wie „Handlung“ oder „Geschichte“ an die Oberfläche. Ein Grund für diese porösen Grenzen ist sicherlich die Unterscheidung des „Wie“ und des „Was“ bezogen auf den Plot eines Films. Worin es eine erstaunliche Armut gibt sowohl im Kunstfilm- als auch im Mainstreambereich sind Veränderungen in der narrativen Form. Wie anders ist zu erklären, dass Non-Fiction derzeit einen so hohen Stellenwert genießt als damit, dass dort neue narrative Möglichkeiten offenbar werden? Wie anders ist zu erklären, dass ein mittelmäßiger Film wie Boyhood von Richard Linklater derart gefeiert wird, als damit, dass ein innovativer Zugang zur Produktion eines Films mit einer innovativen Erzählform verwechselt wird? Der Film gibt vor etwas Neues und Aufregendes mit der narrativen Form zu machen, tut es aber nicht. Nun mag man mir sicherlich mit einiger Berechtigung widersprechen, denn schließlich arbeiten viele Filmemacher immer wieder an interessanten narrativen Formen. Genannt seien nur Filmemacher wie James Benning, Sergei Loznitsa oder Claire Denis. Der Hunger, den man dennoch hat auf Veränderungen hängt vielleicht mit den frühen Utopien eines Jean Epstein zusammen. Denn dort wurde Kino als eine Möglichkeit begriffen, die Erfahrung der Realität sichtbar zu machen. Heute dagegen ist der bessere Film oft eine Antwort, ja ein Gegenkonzept zu dieser Wahrnehmung. Die Entschleunigung eines Tsai Ming-liang, eines Ben Rivers oder eines Lav Diaz, die mancherorts unter dem Begriff Slow-Cinema zusammengefasst wird (wieder so ein Schubladendenken), wird als Antwort auf unsere Wahrnehmung verstanden nicht als ihre Repräsentation oder gar Realität (darüber ist unser Zynismus nun wirklich schon lange hinaus). Die Mischformen spielen wohl eher unserem Zweifel und dem Versagen gegenüber einer emotionalen Abbildung der Realität in die Karten (Stichwort: spekulativer Realismus), als dass sie das Kino als Möglichkeit verstehen. Film scheint am Limit zu sein, wenn es darum geht, unsere Weltwahrnehmung wiederzugeben. Aber ist das wirklich so. Vor kurzem forderte unser Kollege hier auf Jugend ohne Film, Andrey Arnold in einem Gespräch einen Film, der ihm diese Wahrnehmung und Welt im Facebook-Zeitalter nahebringt. Nach einiger Zeit dachte ich, dass man sich vielleicht mit Chantal Akermans Toute une nuit (1982) an diese Art der Erfahrung heranmachen könnte und später vielen mir noch Michael Snows Presents (1981) oder gar So Is This (1982) ein, alles Film die über ihre Form von einer Wahrnehmung erzählen. Also wieder in der Vergangenheit suchen? Genau hier würde ein zweites Umdenken einsetzen, das damit aufhören muss zu fragen, ob ein Film alt oder neu ist. Natürlich spielen historische Gegebenheiten eine große Rolle im Umgang mit Film, man kann daraus ästhetische, produktionstechnische und politische Richtungen erkennen, analysieren und ja, einordnen, aber für die Erfahrung und Wahrnehmung des Kinos wäre es viel interessanter, wenn man einen Film in der Gegenwärtigkeit seiner Projektion oder Wiedergabe betrachtet und sich endlich eingesteht, dass das Kino, das wir heute sehen können nicht die Vergangenheit sein kann. Stattdessen schauen sich viele Zuschauer ältere Filme an, um sie mit neueren Werken vergleichen zu können beziehungsweise um die Entwicklung eines Autors nachzuvollziehen. Warum sollte es eine Entwicklung geben? Wer sagt mir in welche Richtung sie läuft? Es gibt ein immerzu gegenwärtiges Gesamtwerk. Epochen werden analysiert und als abgeschlossen betrachtet und mehr als genug junge Filmschaffende haben mir schon gesagt, dass sie sich schwer tun mit Filmen von „früher“. Wie könnte ein Medium überleben, das sich so stark mit der Vergangenheit identifiziert, wenn von ihm eine Aktualität verlangt wird, die es zwar immer hat, aber nie bezogen auf den Inhalt haben kann. Historiker töten das Kino. Vielmehr ist die Filmgeschichte doch ein Netz an Visionen, Inspirationen und Verbindungen, das immer wieder eine neue Straße offenbart und eine neue Möglichkeit über etwas zu erzählen, etwas zu beobachten oder es einfach nur zu lieben, bereithält. Wenn man die Vergangenheit des Kinos als seine Gegenwart begreift, dann kann man es wirklich kennenlernen.

Toute une nuit von Chantal Akerman

Toute une nuit von Chantal Akerman

In diesem Kino ist Nostalgie ein Gefühl, das sich im Jetzt verankert. Hou Hsiao-Hsien hat in seinem Millenium Mambo auf unfassbar geniale Weise genau diese zeitliche Verdrehung der Gefühle im Kino kommentiert. Ein Szenario in der ganz nahen Zukunft wird mit dem bedauernden Ton eines Flashbacks erzählt. Das Kino erzählt von der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Das muss sich weder in existenziellen Sci-Fi-Spielereien äußern noch in großen Gefühlen. Es darf auch eine ganz nüchterne Feststellung sein. In diesem Kino kann es nicht die Aufgabe eines Filmkritikers sein, sich exklusiv mit zeitgenössischen Filmproduktionen zu befassen, da es vielleicht Filme gibt, die über das Hier und Jetzt des Kinos und der Welt mehr sagen als Filme des Jahres 2015, die das aber gar nicht sagen müssen, weil sie für sich selbst vielleicht genug sind und damit auch genug für jede Art der Vermittlung, Programmierung und Besprechung. Ich betone, dass eine öffentliche Besprechung aktueller Filme so oder so unabdingbar ist. Es ist eher eine Frage des Umfangs und der Alternativen, aus dieser Sklavenhaltung auszutreten. Nun gibt es in dieser Hinsicht ja bereits viele Auswüchse und versuche im Internet. Nischen für Unbezahlte, Hobbies für Leidenschaftliche. Aber wenn die Kritik den Filmen folgt, dann werden weitere Schritte in diese Richtung womöglich unumgänglich. Sieht man sich an in welcher Regelmäßigkeit große Filmemacher sich in der Zwischenzeit auf vergangenes Kino berufen und dabei dessen Unvergänglichkeit betonen, sich sowohl formal als auch inhaltlich in einem Austausch mit diesem Kino befinden, dann wird es Zeit, dass man das weder als verklärte Nostalgie betrachtet noch als Romantik sondern schlicht akzeptiert, dass das Kino nur in der Gegenwart sein kann.

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien

Diese Vergangenheit ist kein Punkt ohne Verbindung. Ein Filmemacher, der sich an der Ästhetik von Schwenks versucht, kann daher nie nur in Relation zu einem Film aus den 10er Jahren gesetzt werden. Der Schwenk hat eine Geschichte, die kein Filmemacher ignorieren darf. Natürlich kann nicht jeder Filmemacher sehr viele Filme gesehen haben und obwohl das eigentlich verlangt werden müsste, wird er sich dieses Wissen sozusagen über einen Schneeballeffekt aneignen können, denn sieht er zum Beispiel einen Schwenk bei Visconti, bekommt er eine Ahnung eines Schwenks bei Renoir und so weiter. Das hat natürlich nichts mit dem wirklichen Dreh zu tun, wenn man im Wind steht, Hunger hat und es unheimlich schwer ist, die Schärfe zu halten. Aber was hat einen eigentlich dazu veranlasst, einen Schwenk zu machen? Welchem Gefühl folgt man, wenn man sich für eine Geschwindigkeit und eine Perspektive entscheidet? Da wir in einer Welt leben, in der das Bild schon lange die Realität überholt hat, beruht unsere Seherfahrung auf Bildern. Die Bilder eines Schwenks, bekommen wir am ehesten im Kino oder Fernsehen zu sehen. Selbst ein Filmemacher wie Lisandro Alonso, der sich ganz bewusst von den Orten, also der Realität inspirieren lässt, der seine Einstellungen mehr oder weniger organisch aus der Welt filtert, thematisiert mit einer Beständigkeit die Fiktionalität seines eigenen Werks (insbesondere in Fantasma und Jauja), dass klar sein muss, dass der Realismus immer ein Bild ist und ein Bild kann nicht einfach sterben. Mit Leos Carax, der sich immer wieder von den Ursprüngen des Films inspirieren lässt, kann man die Welt durch die Augen des Kinos betrachten. Dazu muss man aber hinsehen, nicht zurückblicken.

Jauja von Lisandro Alonso

Jauja von Lisandro Alonso

Die 13 Kinomomente des Jahres 2014

Horse Money

Wie jedes Jahr möchte ich auch 2014 meine Kinomomente des Jahres beschreiben. Diese Liste ist keineswegs endgültig, da ich sicher in den kommenden Jahren viele Schätze entdecken werde, die es verdient gehabt hätten, auf meiner diesjährigen Liste zu stehen. Ich beschreibe ausschließlich Momente aus Filmen aus dem Jahr 2014. Dabei gehen natürlich eine Menge Filme verloren, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe und die mir vielleicht die wahren Kinomomente des Jahres bescherten. Damit meine ich zum einen die zahlreichen Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum (hier vor allem jene von John Ford, Hou Hsiao-Hsien und Satyajit Ray), im Stadtkino Wien (Tsai Ming-liang), im Metrokino Wien (Peter Handke Schau), auf Crossing Europe (Joanna Hogg) oder der Diagonale (Agnès Godard). Außerdem gibt es natürlich Filme, die erst dieses Jahr regulär oder nicht-regulär ins Kino kamen, die ich aber zum Jahr 2013 rechne. Dazu gehört allen voran die Entfremdungshypnose Under the Skin von Jonathan Glazer oder der zugedröhnte Scorsese-Zirkus The Wolf of Wall Street.

Dies ist also weder eine subjektive Liste der besten Filme des Jahres noch gibt es in ihr irgendeine relevante Reihenfolge. Vielmehr ist es eine Liste, die in mir geblieben ist. Die kleinen Erinnerungen, die Träume, die man nach den Filmen hatte, die Ekstase, die man manchmal an Sekunden und manchmal an Stunden eines Films festmachen kann. Es geht um diese Atemzüge, in denen mein Herz aufgehört hat zu schlagen und ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu sehen. Wenn Film in seiner Gegenwart schon wieder verschwindet, dann bekommt unsere Erinnerung daran eine besondere Bedeutung. Die Erinnerung speichert, verändert oder ignoriert einen Film. Sie ist nicht denkbar und nicht lenkbar. Genau hier trifft uns das Kino mit seiner Wahrheit. In der Erinnerung liegt auch die Fiktion, die im diesjährigen Kinojahr eine solch große Rolle gespielt hat. In vielen Filmen wurde die Frage gestellt, wann und wie Geschichten entstehen, wie sie an unsere Lügen, unsere Vergangenheit und an unsere Träume gebunden sind. Das Kino existiert zweimal. In der Gegenwart seiner Projektion und in der Gegenwart unserer Erinnerung.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa – Ventura spuckt

Horse Money Pedro Costa

Eigentlich ist Cavalo Dinheiro ein einziger Augenblick, in dem jedes Blinzeln zu einer filmischen Sensation wird. Wenn ich mich allerdings für einen dieser Flügelschläge der Augenlider entscheiden muss, ist das jene Szene, in der wir aus einer weiteren Einstellung den erschöpften Ventura sehen. Er hat einen Husten- und Spu(c)kanfall und steht im Schatten einer Lichtung. Mit gebeugter Haltung bebt er zwischen Häusern, Welten und Zeiten. Dabei sind Vögel zu hören, wie ein Moment des Friedens in der (körperlichen) Revolution. Ein derart poetisches Leiden habe ich selten gesehen und gehört.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan – Die Zeit springt

Feuerwerk am helllichten Tage

Es ist dieser Sprung in die Zukunft, der mit einem Moped in einem Tunnel beginnt, der den Schnee, den verdreckten Schnee in die schwarze Kohle bringt. Das Moped verlässt den Tunnel und fährt an einem Betrunken vorbei. Es wird langsamer, dreht um. Hier beginnt das virtuose Spiel der Perspektivwechsel, eine Verunsicherung, eine Leere in der Stille und eine Anspannung im Angesicht der Mitmenschen. Es ist ein Phantom Ride, der umdreht, um zu stehlen. Am Straßenrand liegt völlig betrunken in einem Winterschlaf unsere Hauptfigur. Wir passieren ihn nur als Randfigur, aber wir ergreifen die Gelegenheit. Ab diesem Zeitpunkt herrscht ein Schleier der Verunsicherung über Bilder, Figuren und den Film selbst, der einen kaum mehr loslassen kann.

P’tit Quinquin von Bruno Dumont – Van der Weyden schießt in die Luft

Kindkind Dumont

In Bruno Dumonts Unfassbarkeit P’tit Quinquin herrscht eine anarchistische Derbheit, die sich in der ironischen Umarmung einer Absurdität und Deformation entlädt wie man sie wohl noch nie gesehen hat. Der Naturalist hat sich in einen Surrealisten der Realität verwandelt und mit der zuckenden und stolpernden Figur des Polizisten Van der Weyden hat er die perfekte Verkörperung seiner Welt erschaffen. In einer der vielen irrsinnigen Szenen dieser Figur schießt der gute Mann zum Schrecken seiner Umgebung spontan in die Luft. Es gibt keinen Grund dafür, außer vielleicht den Knall selbst, die Freude und das Adrenalin daran und genau hierin liegt der neue Existentialismus des Bruno Dumont. Man muss lachen und dann fühlt man sich ganz alleine.

Maidan von Sergei Loznitsa-Die Kamera bewegt sich

Maidan Loznitsa

Mein formalistisches Herz erlitt einen Orgasmus als ich sah wie sich der Fels in der revolutionären Brandung, der von einer statisch-poetischen Kamera verkörpert wurde, dann doch dem Schicksal seiner Lebendigkeit ergeben musste und sich ob der zahlreichen Angriffe, dem Chaos der politischen Ungerechtigkeiten und den Prozessen einer Gemeinschaftlichkeit bewegen musste. Mitten im Kampfgeschehen stehend, flieht die Kamera hektisch wackelnd einmal in eine andere Position. Es ist die einzige Kamerabewegung im Film, an die ich mich erinnern kann. Alles andere ist statisch. Fast erstickende Sanitäter torkeln um sie herum und im nebeligen Hintergrund offenbart sich langsam eine schwarze Wand aus Polizisten. Stimmen sind zu hören und immer wieder ein Knall und plötzlich wird uns klar, dass wir gefährdet sind. Denn die Distanz, die wir haben, kann nur gebrochen werden, wenn sie eine Distanz bleibt und in ihrer Distanz angegriffen wird.

Jauja von Lisandro Alonso-Dinesen zieht seine Uniform an

Jauja Alonso

Jauja ist ein Film voller Erinnerung. Vielleicht nehme ich aus diesem Grund ein Bild aus dem Film, das darüber hinausgeht, weil es neben dem somnambulen Aussetzen einer zeitlichen Regung auch einen einsamen Stolz erzählt, der so wichtig ist für unsere Wahrnehmung einer Person, sei es in Träumen, durch die Augen eines Hundes oder im Kino. Kapitän Dinesen (der aus undefinierbaren Gründen für mich beste Name einer Figur im Kinojahr 2014) hat festgestellt, dass seine Tochter in der Leere der Wüste verschwunden ist. Im murnauesquen Mondlicht macht er sich hektisch auf den Weg. Dann bricht er plötzlich ab. Ganz langsam richtet er seine Uniform her. Er kleidet sich. Er bereitet sich vor. Aus der Panik erwächst die Spiritualität, aus dem Mond wird ein entstehender, glühender Feuerball.

La meraviglie von Alice Rohrwacher-Bienenschwarm

Land der Wunder Rohrwacher

La meraviglie ist wohl der einzige Film auf dieser Liste, der dem Leben nähersteht als dem Tod (obwohl er vom Tod erzählt…). Eine schier unendliche Energie geht durch die Alltäglichkeit des Kampfes dieser Bienenzüchterfamilie. Wie ein Sinnbild ohne Metaphorik fungieren dabei die Einstellungen, die sich im Surren und Treiben der Bienenschwärme verlieren. Denn die Lebendigkeit des Films und die organisierte und nur scheinbare Richtungslosigkeit finden sich auch in den schreienden Massen an Bienen. Aber welch Wunder dort wirklich möglich ist, zeigt sich in der Zärtlichkeit des Umgangs der älteren Tochter, die in einem perfekten Erklingen von Schönheit inmitten des Chaos eine Biene aus ihrem Mund klettern lässt. Magie und das ewige Summen bis die Zeit vorbei ist.

Turist von Ruben Östlund-Der POV Hubschrauber

Höhre Gewalt

Ruben Östlund beherrscht in seinem Turist die Psychologie seiner Figuren und jene des Publikums zur gleichen Zeit. Diese zynische Souveränität korrespondiert in ihrer perfiden Perfektion mit dem Inhalt und so ist es nur konsequent, dass Östlund sie mindestens an einer Stelle zusammenbrechen lässt. Diese Stelle findet sich im schockierendsten Perspektivwechsel des Kinojahres. In einem Moment der völligen Erbärmlichkeit, des grausamen Schweigens nach einer Offenbarung des Geschlechterkrieges, fliegt ein Spielzeugufo durch das Zimmer im Touristenhotel. Östlund schneidet in einen POV aus dem Gerät und bricht damit nicht nur die Anspannung sondern zeigt welch sarkastischer Horror sich hinter dieser Psychologie verbirgt. Ich springe jetzt noch, wenn ich mich daran erinnere. Es ist wie eine Erinnerung an die Welt inmitten des Dramas. Es sei natürlich gesagt, dass Turist ein Film ist, der sich mit der Bedeutung eines einzigen Moments befasst. Aber er sucht vielmehr die Momente, die aus einem Moment resultieren.

Journey to the West von Tsai Ming-liang – Lavant atmet

Denis lavant Tsai

Im Fall der Meditation Journey to the West ist es ein Ton, den ich nicht vergessen kann. Es ist das ruhige Atmen des schlafenden Denis Lavant. Seine vibrierenden Nasenflügel, sein Erwachen, das antizipiert wird. Seine ruhende Kraft, die alles mit ihm macht, was es in den Bewegungssinfonien bei Carax kaum geben kann. Ich höre es. Es ist gleichmäßig und es ist von einer ähnlichen Schönheit wie jede Sekunde in dieser Rebellion der Langsamkeit.

Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan – Der verbale Tod

Winterschlaf Ceylan

Nuri Bilge Ceylan erforscht in seinem Winter Sleep die Kraft von Film als Literatur. Er bewegt sich auf einem philosophischen Level mit großen Schriftstellern und macht fast unbemerkt auch noch ungemein gute Dinge mit dem Kino. Ein solcher filmischer Augenblick findet sich in der plötzlichen Abwesenheit der Schwesterfigur nach einem intensiven Dialog mit ihrem Bruder, einem verbalen Mord der Widerwärtigkeiten, Lügen und grausamen Wahrheiten. Sie befindet sich hinter einer geschlossenen Türe und die wie das so ist mit Worten, wird einem die Tragweite von ihnen zumeist nicht im Moment ihrer Aussprache bewusst, sondern im Moment der Reaktion. Hier ist die Reaktion eine Abwesenheit. Im Dunst eines erdrückenden Winters des Selbsthasses.

Phantom Power von Pierre Léon – Die Hände von Fritz Lang

Pierre Léon

Man ist schon trunken, ob der Musik und der Worte, dann kommen die Bilder. Es sind nicht jene Bilder von Léon selbst, sondern es ist dies eine Liebeserklärung an Fritz Lang. Die Hände von Fritz Lang, die zärtlich krallen, die halten und fallen, vielleicht töten, manchmal lieben. Sie sind Bewegung und Erinnerung, in ihnen findet sich ein Stottern im Angesicht einer Sucht, sie sind wie eine Unmöglichkeit zu berühren, sie berühren.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu – Die Angst von Porumboiu

Porumboiu Bukarest

Es ist nur eine kleine Randbemerkung, man bemerkt sie kaum, aber sie ist entscheidend. In diesem Gespräch zwischen Vater und Sohn, im Angesicht eines verschneiten Fußballspiels äußert Corneliu Porumboiu, dass er als Kind Angst hatte vor dem Fernseher. Diese Angst wird nicht weiter erläutert und sein Vater, der das Spiel als Schiedsrichter leitete, geht nicht weiter darauf ein. Aber in dieser Formulierung liegen die Unheimlichkeiten und dir Zärtlichkeit des Films zur gleichen Zeit. Ist es die Angst des Sohnes, wenn er seinen Vater unter Druck sieht? Ist es die politische Angst eines Rumäniens kurz vor der Revolution? Ist es die Angst vor dem Schnee, der Kälte, dem Ende der Welt? Ist es die Angst vor der Zeit, die Angst vor der Erinnerung, ist es gar keine Angst sondern eine Illusion? Ist es eine Vorteilsregelung, wenn der Vater darauf nicht eingeht, ermöglicht er so das Leben und das Spiel, den Fortgang von allem?

From What is Before von Lav Diaz – Es beginnt der Regen

Lav Diaz Locarno

Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass es Geister gibt. Vor kurzem war ich in einem Wald und alles war ganz still. Plötzlich hörte man einen Wind kommen und erst eine halbe Minute später erreichte dieser Wind die Bäume unter denen ich wartete. Er zog durch sie hindurch und weiter in die Tiefen des dunklen Dickichts. Bei Diaz kommt so der Tod. Zunächst sehen wir einen Mann und eine Frau im digitalen schwarz-weiß einer übermächtigen Umwelt an einem Fluss. Plötzlich sieht der Mann etwas Off-Screen, ein unheimliches Gefühl entsteht. Dieses Gefühl entsteht alleine aus der Zeit, die Diaz fühlbar macht. Es beginnt zu regnen. Etwas ist passiert, wir haben es gespürt. Es wirkt als würde ein böser Geist erscheinen, man bekommt es mit einer unsichtbaren Angst zu tun. Dabei denke ich an den Wind im Wald. Dann erscheint im Bildhintergrund eine leidende Frau. Sie bricht zusammen und beklagt weinend den Tod ihres Sohnes. Kurz darauf sitzt sie in einem Kreis und singt über den Tod ihres Sohnes und ihr Schicksal. Die Frauen und Männer, die um sie sitzen beginnen nach und nach zu weinen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, man muss selbst weinen, man spürt jeden Tropfen Verlorenheit, persönlich und politisch.

Leviathan von Andrey Zvyagintsev – Das Meer

Leviathan

Immer wenn Zvyagintsev das Meer filmt, findet seine Kamera das profunde Wesen seiner Ambition und erreicht eine spirituelle Kraft, die dem modernen Kino ansonsten aufgrund seines reflektierten Zynismus abgeht. Leviathan ist ein Film wie die Philosophie einer brechenden Welle, ein wundervolles Monster im Ozean, es treibt dort seit Jahrhunderten. Es ist ein suizidaler Magnet, eine andere Welt, eine Grenze. Das Meer ist auch trügerisch, denn hier finden sich zugleich der Tod und das ewige Leben. Es ist eine sehnsuchtsvolle Lüge und in der Weite erblickt man entweder die Hoffnung oder die Hoffnungslosigkeit. Das Meer kann uns alles geben und alles nehmen. Hier ist die Natur, die Bewegung und die Reise in einem Bild.

this human world 2014: Gedanken über ein Festival vor der Haustüre

this human world Sujet 2014

Filmfestivals ähneln in gewisser Weise intensiven Fortbildungsseminaren. Anstatt jedoch irgendwohin in die Pampa zu fahren (von A wie Altlengbach bis Z wie Zirl), um sich dort in einem dieser austauschbaren Seminarhotels einzukasernieren, und den ganzen Tag in einem stickigen Raum langweiligen Vortragenden zu lauschen, sucht man sich ein Hotelzimmer oder eine Couch eines Bekannten und verbringt seine Tage in einem (zumeist) übermäßig klimatisierten Kinosaal. Man mag geneigt sein zu glauben, ein Filmfestival in der Heimatstadt erspart Anfahrtswege und Kosten, die so ein Aufenthalt in der Fremde halt so mit sich bringt – das Filmfestival in der Heimatstadt als gelobtes Land, wo Milch und Honig fließen. Interessanterweise habe ich bis jetzt eher die umgekehrte Erfahrung gemacht. Das Zuhause bietet nämlich Ablenkungen, die einem in der Fremde erspart bleiben: banale Haushaltstätigkeiten, Vorlesungen, Freunde. Kurzum, verschlägt es einen eigens für ein Filmfestival in eine andere Stadt, ist man zwangsläufig fokussierter, mehr bei der Sache und versucht, „wenn man schon mal da ist“, so viel wie möglich davon mitzunehmen. Festivals in der Heimatstadt hingegen nimmt man eher „so nebenbei“ wahr, während sie mit anderen (kulturellen) Aktivitäten konkurrieren; man richtet seinen Tagesplan nicht nach dem Festival aus (es sei denn es handelt sich um die Viennale), sondern geht halt hin, wenn sich die Gelegenheit bietet. Für das this human world hatte ich mir eigentlich vorgenommen eine Art hybriden Mittelweg gefunden, was mir aber leider nicht ganz gelungen ist und ich schlussendlich doch nicht so oft gehen konnte/wollte, wie ich ursprünglich vorhatte. Das Resultat dieses zerstückelten, von Lust, Laune und verfügbarer Zeit abhängigen Festivalbesuchs schlägt sich hier in diesem Text nieder, der gleichsam zerstückelt, anekdotisch und keinesfalls ganzheitlich eine spannende Woche Revue passieren lässt.

Derby Crazy Love von Maya Gallus und Justine Pimlott

Derby Crazy Love von Maya Gallus und Justine Pimlott

Ein verspäteter Festivalauftakt, ein Matineebesuch: Derby Crazy Love vom Regieduo Maya Gallus und Justine Pimlott stand am Programm – das heißt siebzig Minuten tätowierten Frauen beim martialischen Roller Derby zuzusehen. Diplomatisch ausgedrückt lässt sich über den Film konstatieren, dass er Spaß macht, weil er eine Subkultur, ja Parallelwelt, ans Tageslicht bringt, die man anderweitig nicht zu Gesicht bekommt. Weniger diplomatisch könnte man über die vergleichsmäßig uninspirierte Inszenierung dieses Lesbenkults ätzen – aber das würde gegen jede Form von political correctness verstoßen und ist demnach wohl fehl am Platz wenn man über das this human world schreibt. Denn passend zu den Hauptspielorten, den Hipstermekkas Schikaneder und Top Kino, wird hier Diversität, Toleranz und Integration großgeschrieben. Ja, für eine Woche beginnt man fast zu glauben, dass wir in einer politisch und sozial aufgeschlossenen Welt leben, in der Menschen sich reflektiert und erwachsen mit ihren Problemen auseinandersetzen. Da wird die politische Lage in Syrien filmisch aufgearbeitet, mit Einführungen noch eingehender beleuchtet und auf die Flüchtlingsproblematik aufmerksam gemacht und da darf auch Sergei Loznitsas Maidan noch einmal die Leinwände Wiens betören (Loznitsas Parforceritt war der wohl beste Film des Festivals). Zwar konnte keiner der Filme in Sachen Agitationspotenzial mit dem an Einseitigkeit nicht zu überbietenden Manipulationsmeisterstück Everyday Rebellion der Riahi-Brüder mithalten, der seit einigen Wochen regulär an den Festivalspielstätten zu sehen ist, aber Filme wie Syria Inside wussten ebenfalls gekonnt Bilder verletzter Kinder und zerbombter Häuserruinen aneinanderzureihen und mit pathetischer Musik zu unterlegen; hätte man den Besuchern bei Verlassen des Kinosaals statt eines Stimmzettels ein Transparent ausgehändigt wäre wohl eine nette Demo zustande gekommen. Schade eigentlich, denn zumindest die ersten dreißig Minuten von Syria Inside, also bevor das Bearbeiten der Tränendüsen losging, waren sehr spannend. Der Film bemühte sich historische, kulturelle und politische Hintergründe zu erklären und diese Erklärungen verspielt und humorvoll aufzubereiten. Handyvideos, staatlicher Rundfunk und kleine Sketches alternieren mit der Moderation durch ein syrisches Komikerduo, das in einer Studiosituation durch den Film leitet. Mit Fortdauer des Films geht der Humor aber zusehends verloren und der Film erschöpft sich in einer uninspirierten Aufzählung von Assads Gräueltaten und Beschreibungen des heroischen Kampfs der Free Syrian Army.

Syria Inside von Tamer al-Awam und Jan Heilig

Syria Inside von Tamer al-Awam und Jan Heilig

Mein Plan zu Beginn des Festivals war es alle vier Filmprogramme des Syrien-Specials anzusehen. Nach Syria Inside und Syria: Snapshots of History in the Making hatte ich darauf allerdings keine Lust mehr. Nicht nur, dass ich das Gefühl hatte bereits alles zu wissen, was mir diese Filme zu sagen haben, und vor allem wie sie es mir zu sagen haben, sondern auch, weil sich eine gewisse Abstumpfung einstellte, die die Redundanz der Inszenierungsstrategien mit sich bringt und zu enervierender Frustration, statt zu einer Schockreaktion führt.

Da gab ich schließlich dem zweiten Festivalschwerpunkt „Everytime We Fuck We Win“ den Vorzug. In dieser Programmschiene stand feministische Pornographie am Plan und abgesehen davon, dass ich mir als Mann unter Frauen etwas fehl am Platz vorgekommen bin, musste ich feststellen, dass circa ein paar hundert Filmemacher von Goodyn Green lernen könnten, wie man einen Sexualakt wirkungsvoll in Szene setzt. Damit meine ich gar nicht zwangsläufig, dass die Menschen vor der Kamera nicht schön sein dürfen (ganz im Gegenteil – ich mag schöne Menschen), aber die Alternative dazu ist keineswegs so abstoßend, wie große Filmproduzenten das befürchten. Wie kritisch ich auch dem Begriff eines „female gaze“ gegenüberstehe, in diesen Filmen wird sehr radikal deutlich, wie sehr sich dieser Blick von den eintönigen und eindimensionalen Praktiken der konventionellen Pornographie unterscheidet. Ironisch, dass gerade diese Filme aber den heiligen Gral der Pornoindustrie – Authentizität – vermitteln, der den aalglatten, perfekten Industriefilmen fehlt.

Maidan von Sergei Loznitsa

Maidan von Sergei Loznitsa

Als letzten Gedanken noch eine kurze Notiz zum vielleicht „größten“ (im Sinne von glamourösesten) Film, der am Festival gezeigt wurde – Fatih Akins The Cut. Akin ist es tatsächlich gelungen einen europäischen Film zu machen, der aussieht wie ein amerikanischer und sich dem amerikanischen Markt offenkundig anbiedert, ohne jemals eine reelle Chance zu haben auf diesem Markt tatsächlich zu reüssieren. Die lächerliche Entscheidung seinen Protagonisten englisch sprechen zu lassen und den Film in den Vereinigten Staaten enden zu lassen, ändert nämlich nichts daran, dass The Cut zu lang, zu schwerfällig, zu deprimierend und zu austauschbar ist um jemals gutes Geld zu machen. Das Ergebnis ist ein Hybrid, über den sich Kritiker auf Festivals lustig machen und den Zuschauer mit einem leicht verstörten Achselzucken schnell wieder vergessen werden. Was ein gewichtiges Statement zum türkischen Völkermord an der armenischen Minderheit hätte werden können, verkommt zu einem von Zufall und Willkür geprägten Roadmovie, das nicht einmal als Rachedrama taugt, sondern nur merklich bemüht daran ist die Fördertöpfe möglichst vieler unterschiedlicher Länder anzuzapfen.

Das this human world gibt einen Ausblick auf eine Welt, in der niemand wegen seiner Sexualität, seiner Ethnizität oder ähnlichem ausgeschlossen und unterdrückt wird. Die Auswahl der gezeigten Filme macht diese Weltsicht mehr als deutlich, was einerseits, von einem politischen Standpunkt aus, zu begrüßen ist, andererseits zu einer Flut an mittelmäßigen Filmen führt, die zu sehr damit beschäftigt sind ihre Meinung möglichst eindeutig hinauszuposaunen, als die vermittelte Weltsicht in der Form zu spiegeln. Denn die beste politische Kunst ist jene, in der Inhalt und Form untrennbar und ununterscheidbar sind, wo Weltsicht und künstlerische Vision sich gegenseitig bedingen.

Vladimir Golovnitskiy – Tondesigner

Maidan Loznitsa

Stimmen verschlingen sich gegenseitig in der Kollaboration von Vladimir Golovnitskiy und Sergei Loznitsa. Kalter Wind und die wilden, klagenden Schreie einer Kuh. Die Lieder der Revolution und beständige Parolen aus den Lautsprechern. Die Landschaften werden spürbar in fast starren Portraitaufnahmen. Denn während das Bild in den Nebelschwaden einer fantastischen Entfremdung und Totalen einer sozialen Wirklichkeit kaum Rückschlüsse auf die Seele zu lässt, dringt der Ton tief in sie ein. Manchmal ist außer einem sanften Wind die einzige Bewegung im Ton hörbar, der Ton bewegt sich selbst unter den starren Bildern: Ein langsames Knarzen, ein trabendes Pferd, der Atem. Jeder Ton bedeutet etwas und die Bedeutung wird mit den Bildern assoziiert. So steht das Geräusch angehender Schweinwerfer für eine schnelles Schneiden mit dem Messer und wenn es eingesetzt wird, dann wird damit ein dramaturgischer Bruch betont. Auf bis zu 60 Tonebenen arbeitet Golovnitskiy, der so sehr an die Magie des Unsichtbaren glaubt wie Loznitsa selbst. Golovnitski arbeitet monatelang an Kurzfilmen, die er fast manisch durchkomponiert. Dabei steht an erster Stelle (und so sollte das bei jedem Tonmann sein) die Idee von Film als visuelles Medium.

Der Ton ist darin eine andere Ebene und so gehört es (zumindest in der Zusammenarbeit mit Loznitsa) zu den Selbstverständlichkeiten, dass es nicht darum geht Dialoge verständlich zu machen, Kommentare über die Bilder zu legen oder einen Naturalismus zu erzeugen. Vielmehr ähnelt der Ansatz des Duos jenem des großen Jacques Tati, der bekanntlich seinen Ton völlig unabhängig vom Bild gestaltete und gewissermaßen zweimal Regie führte. Zunächst für das Bild und dann für den Ton. Loznitsa und Tati (zum Teil in Zusammenarbeit mit dem großen Jacques Carrère) treffen sich im Gemurmel und der Klarheit ihrer Unverständlichkeit. Im hypnotisch-formalistischen Landscape erzählen sich wartende Menschen Geschichten, die wir nicht sehen, die aber gesprochen werden; sie spielen zwischen den abgeschwenkten Nahaufnahmen frierender Gesichter und liefern wie oft bei Golovnitskiy einen Kontext, ein Gefühl, aber nicht eine klare dramaturgische Linie. Die Alltäglichkeit und Gewalt des menschlichen Wartens drückt sich so auf der Tonebene aus und lässt uns erahnen und fühlen, was unter den Bildern liegt. Der Ton ist für ihn eine Imagination, die aus der künstlerischen Wahrheit der Dokumentationen entsteht. Das gilt für dringliche, politische Dokumentationen im Stil von Maidan genauso wie für Fiktionen wie My Joy. Golovnitskiy, der von Loznitsa als Genie bezeichnet wird, betont die Bilder nicht im Sinn einer Verstärkung sondern im Sinn einer neuen Ebene, die nicht autonom entsteht sondern aus den Bildern geboren wird, assoziativ, frei und nach einer Wahrheit suchend. Diese Wahrheit liegt eben nicht nur im objektiven Ton, über den insbesondere im deutschen Kino kaum hinausgereicht wird sondern im subjektiven Ton, im assoziativen Ton, im symbolischen Ton und im surrealistischen Ton. Manchmal wechselt sich die Erzählperspektive alleine im Ton, manchmal wird das Bild davon deformiert. Distanz und Nähe werden oft ausschließlich im Ton erzeugt in der Kollaboration von Golovnitskiy und Loznitsa. Dies ist insbesondere dann spannend, wenn Golovnitskiy an Found Footage Material arbeitet und dieses beispielsweise seiner propagandistischen Funktion beraubt. Das ist auch eine Umarmung der Manipulation, der Fantasie im Dokumentarischen, die allerdings immer von einer moralischen Strenge überwacht wird. Jener eines Künstlers, der nach Wahrheit sucht.

Am Anfang von O Milagre de Santo Antonio hören wie eine wehende Fahne (wir sehen sie auch). Außerdem Vogelgezwitscher und Grillen. Dann folgt eine Schwarzblende, die Loznitsa zur Rhythmitisierung seiner Filme gerne einsetzt. Wir hören eine Glocke, es klingt wie eine Kuhglocke. Dazu nach wie vor der Wind und die Vögel. Nun sehen wir einen Stier in einem Gebüsch. Er kaut und die Schmatzgeräusche sind sehr deutlich zu hören. Dazu rhythmisch und etwas schneller die Kuhglocke, entfernt bellt ein Hund. Langsam blendet das Geräusch von Trommelschlägen auf. Erst entfernt, dann immer lauter. Der Hirsch verharrt kurz reglos, das Bild wird schwarz. Der Titel erscheint, die Trommeln werden geschlagen. Dazu hört man männliche Stimmen reden.Und immer noch der Wind und die Vögel. Es gibt eine Überblendung im Ton. Wir hören jetzt andere Vögel, eine andere Stimmung. Ein junges Mädchen schaut uns hinter einem Absperrband genauso an wie vor ihr der Stier. Entfernt hören wir laute Stimmen und schwere Gegenstände, die bewegt werden. Sie klingen wie das Echo der Trommel. Hinter dem Mädchen ist ein Eingang. Kommen die Geräusche dort heraus? Die Geräusche werden hektischer, die Vögel werden lauter. Wie so oft geht die Geräuschkulisse über den Schnitt hinaus und zeigt damit an, dass sie nicht unbedingt zum Bild gehören muss. Wir sehen einen Eingang. Aus ihm kommt ein Arbeiter. Wir hören seine Schritte, sie sind synchron.Er wirft einen Karton auf einen Haufen und zieht eine Folie aus dem Dunkeln. Die Folie scheint endlos lang zu sein. Das Geräusch wird lauter als der Mann auf die Kamera zugeht damit und schließlich daran vorbei und es klingt nun wie das Meeresrauschen in einer Muschel. Eine weitere Blende im Ton, ein harter Schnitt im Bild. Nun sehen wir einen Mann mit einem Besen kehren. Wir hören das Kehrgeräusch und im Hintergrund nach wie vor die arbeitenden Männer. Nun auch Frauenstimmen. Kurz nach den Frauenstimmen, kommt ein Mann um die Ecke gelaufen und im selben Moment setzen Kirchenglocken ein. Sie spielen eine Melodie, die über den nächsten Schnitt (ein weiterer Mann mit einem Besen) hinweggeht. Überall Schritte, es entsteht das Gefühl eines gemeinschaftlichen Treibens. Die Vögel sind wieder zu hören. Das Geräusch eines grillenden Spatzes geht über in das hohe Geräusch einer Schnur, an der ein Mann zieht. Dazu weiter die Kirchenglocken. Der Mann mit der Schnur blickt ins Off und dort hört man ein Geräusch als wäre etwas umgefallen. Es rumpelt hier und da. Wir hören jetzt ein Fahrzeug im Off. Es bleibt stehen (nichts davon ist zu sehen, aber der Mann mit der Schnur blickt ins Off). Türen gehen auf, eine Schiebetür eines Sprinters. Das Vogelgezwitscher wird lauter. Ein metallenes Geräusch während wir nun im Bildvordergrund einen Mann mit einer großen Schnur sehen und im Hintergrund den Sprinter und zwei Männer. Golovnitskiy lässt uns oft das nächste Bild erahnen durch seine Tongestaltung.

Das waren die ersten drei Minuten des Films und das ist ganz großes Kino.

Filmfest Hamburg 2014: The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy

The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy ist einer jener Filme nach denen man nur schwer zu Wort kommen kann. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil der Film selbst komplett ohne Worte auskommt und ohne Untertitel, Voice-Over oder sonstige Hilfsmittel in Zeichensprache erzählt wird. Es geht darin um den Taubstummen Sergey der neu auf ein heruntergekommenes Internat für Taubstumme gelangt. Schnell kann er sich in der brutalen Welt dort durchsetzen und steigt in einem illegalen Ring von Geldeintreibung, Raubüberfallen und vor allem Prostitution ein, der vom Internat ausgeht. Gleichzeitig verliebt er sich in rauer Weise in eine der taubstummen Prostituierten. Was folgt ist ein Portrait einer gerade durch ihre Stille erdrückenden Gewaltspirale, die einem schonungslos in den Magen schlägt. Der Sieger der Semaine de la Critique in Cannes ist im Gegensatz zum Sieger der Un Certain regard Sektion ein Film über den man reden muss und reden wird.

Dabei vertraut der Ukrainer Slaboshpytskiy auf lange Plansequenzen, die sich oft gleich einer Musical-Choreografie in fließenden und körperlichen Bewegungen entfaltet. So begleitet die Kamera eine Gruppe der Jugendlichen in einem seitlichen Travelling. Sie sammeln sich, sie begrüßen sich und laufen formiert los. Ein durchkomponierter und fesselnder Rhythmus entsteht, der ob der fehlenden Worte den Blick herausfordert und damit die Kapazitäten und in gewisser Weise auch das Wesen des Kinos entblößt. Die Schlägereien, Raubüberfälle und Sexszenen sind eigentlich Tanzszenen. Der schonungslose Sozialrealismus bricht jegliche Ästhetik auf, aber im Kern bewegt dieser musikalische Motor den Film. Natürlich ist The Tribe kein Stummfilm. Immer wieder kommen flüsternde Geräusche aus den Mündern der Protagonisten und ständig hört man die Umgebung. Es ist dennoch gut, dass Slaboshpytskiy außer in wenigen Beispielen auf ein überstrapaziertes Sound-Design verzichtet. Denn die Möglichkeiten einer plötzlichen Lautstärke sind verlockend. Einmal muss sich eine Figur lautstark übergeben und dieses von ihrem Körper ausgehende Geräusch ist ein kleiner Schock. Vielmehr gibt sich der Regisseur das ein oder andere Mal unnötigerweise der Schwäche hin sehr deutlich zu zeigen, dass diese Figuren nichts hören und damit auch nicht wahrnehmen, was für uns äußerst grausam ist. Manchmal gibt sich der Film diesem Effekt zu sehr hin.

The Tribe 2014

Oft steht die Kamera auch lange an einem Ort und erstickt damit den Zuseher, dem die Kehle zugeschnürt wird, ob der unfassbaren Brutalität, die sich auf dieser Insel unter dem Radar dessen, was wir öffentliche Wahrnehmung nennen, hinrichtet. Nur einmal gibt es ein Verhör bei der Polizei. Dieses scheint aber keine Konsequenzen zu haben. Zumindest keine einschneidenden. Die Zeichensprache selbst ist für jene, die sie nicht beherrschen ein faszinierendes Rätsel. Immer wieder glaubt man, dass man verschiedene Zeichen erkennt, es ist eine Freude sie zu lesen wie ein Bild, wie das Kino. Statt Mitleid für seine wirklich taubstummen Darsteller zu evozieren, nimmt der Film eine Perspektive ein, die keine Perspektive kennt. Hier geht es nicht um den Blick auf ein Taubstummeninternat, hier geht es um die schrecklichen Dynamiken aus dem Inneren dieser Welt. Dabei erinnert der Film in der Mischung aus formaler Konsequenz und inhaltlicher Brutalität an Irréversible von Gaspar Noé und 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile von Cristian Mungiu. Mit letzterem eint ihn die Brutalität einer Abtreibung. Aber dort wo Mungiu die Grausamkeit dadurch entfaltet, dass er uns aus dem Zimmer ausschließt, liegt sie für Slaboshpytskiy im unerträglichen Draufhalten. Am Ende trifft er einen so hart, dass man kaum mehr hinsehen kann und endet dann im exakt hoffnungslosesten Moment.

Neben der Gewalt spielt auch die Sexualität eine maßgebliche Rolle. Sergey bezahlt seine Angebetete, damit sie mit ihm schläft und kommt ihr dann doch immer wieder nahe. Dies sind die einzigen Momente des Glücks im Film, die in ihrer Länge unheimlich zärtlich und intensiv dargestellt werden. Später jedoch wird sich die Gewalt mit der Sexualität verbinden bei Sergey. Gruppendynamiken in dieser Hölle erinnern an Picco von Philip Koch. Nur gibt es dort Erklärungen, Ausreden und verbalen Terror während wir in The Tribe gar keine Chancen bekommen, zu verstehen. Vielmehr müssen wir ertragen und versuchen, aus unseren Beobachtungen alleine zu schließen. Irgendwann fällt der Abstand der Kamera auf. Es gibt nur marginale Naheinstellungen, alles findet in der Entfernung statt. Eine Welt ist dazwischen. So entsteht ähnlich wie im nebeligen Letter von Corbitt Howard und Sergei Loznitsa eine Entfremdung aus einer anderen(???) Welt, die einen tief berührt und nicht mehr loslassen will.