Sharunas Bartas und die Angst vor dem Wort

In den Filmen von Sharunas Bartas gibt es, trotz einer leichten Öffnung in seinen letzten beiden Filmen Indigène d‘Eurasie und Peace to us in our dreams, eine anhaltende Furcht vor dem Wort. Es ist eine Angst, die weit über diese ewige und frustrierende Diskussion zur Essenz des Kinos hinausgeht. Ganz oberflächlich könnte man sagen, dass die Figuren (sie sind eigentlich Menschen) in den Filmen von Bartas kaum oder in Filmen wie Koridorius gar nicht sprechen. Sie verwenden nicht ihre Sprache, um zu kommunizieren. Haben sie eine Sprache, haben wir die Wörter, hat irgendwer ein Wort? In diesem Sinn handeln die Filme immer auch vom philosophischen Problem des Ausdrucks, jener Begegnung aus einem Gefühl und seiner Bestimmung, der Versuch den inneren Eindruck durch Worte zu veranschaulichen. Vieles im Kino von Bartas stellt die Frage, wozu man Worte braucht, wenn es doch Bilder und Töne gibt. Daran hängt zunächst der Aspekt einer Unmöglichkeit, einer Unfähigkeit.

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In Peace to us in our dreams kommt eine Bekannte oder Verwandte des Protagonisten zu ihm. Wer genau sie ist, muss man sehen oder hören, es wird nicht gesagt. Sie sitzen zusammen und sie will ihm etwas erzählen. Aber kurz bevor sie es sagen kann, bricht sie in Tränen aus. Sie schafft es nicht. Ihr ganzes Gesicht zittert unter der Last des Unausgesprochenen, die eigentlich eine Last des Potenzials der Sprache ist. Häufig gewinnt Bartas einen unheimlichen Druck, eine drückende Konzentration in den Augen und Mündern, die in der Furcht vor den Worten leben, die sie in sich pressen, damit sie nicht lügen, damit auch Bartas nicht lügt, denn man darf nicht vergessen, dass es an ihm wäre, diesen Figuren eine Stimme zu geben. Es ist das Zurückhalten, das für das sensibilisiert, was zurückgehalten wird. Als wären die Worte erst das Bewusstsein, ein ungerechtes Bewusstsein mit der Gefahr eines Missverstehens und einer Offenlegung. Bilder sind (bei Bartas) oft sicherer, gerade weil sie gefährlicher sind. Sie haben mehr Respekt und sie haben in sich bereits diese Unmöglichkeit des Ausdrucks gebrochen (in ihrem Licht), sodass aus dem Zweifel eine neue Kraft entstehen kann.

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So gibt es zwei dominante Einstellungsgrößen im Werk des Filmemachers: Die Nahaufnahme (eines Gesichts) und die Großaufnahme (einer Landschaft oder eines Ortes). In beiden hängt Nebel. In beiden wird uns ganz klar gemacht, dass es Wahrnehmungsbilder sind, beschränkte Bilder, Illusionen. Im Gesicht liegt dieser Nebel in den häufig mit Tränen benetzten Augen. Aus diesen Blicken, wie jenen von Yekaterina Golubeva in Few of us oder Koridorius, die meist aus gesenkten Häuptern und zunächst geschlossenen Augen emporsteigen, entsteht eine Sehnsucht und eine Sprachlosigkeit zugleich. Die Unfähigkeit des verbalen Ausdrucks ist hier auch die Fähigkeit einer Sinnlichkeit, die im Vermeiden einer Aussage in den Fokus rückt. Aber es ist ein gefährliches Spiel, denn die Angst vor dem Wort hängt an dieser schwierigen Grenze im Werk von Bartas. Es geht um die Unterscheidung zwischen dem Blick nach Innen und dem Blick in die Welt. Wörter sind gelesen immer Teil einer Imagination, wogegen Bilder ohne diese auskommen können. Die Angst vor dem Wort ist in diesem Sinn auch der Versuch etwas zu sehen statt sich selbst in diese Welten zu projizieren. Nur im Offenlassen der Gesichter und ihrer Bedeutung, droht sich eine andere Form der gefürchteten Identifikation zu etablieren. Man sieht sich selbst in den Gesichtern und dann sieht man wieder nichts oder man sieht nicht richtig, denn wer sich selbst auf der Leinwand sieht, sieht nicht den Film wie Pedro Costa einmal treffend formulierte. Der Kuleschow-Effekt, der in vielerlei Hinsicht für die Kraft des kinematographischen Sprache steht, hat auch eine Kehrseite. Er zeigt auch die Ohnmacht dieser Sprache und die Gefahr des magisch erhöhten dritten Bilds, also jener unsichtbaren Kraft, die zwischen zwei Einstellungen entsteht und die eine ungreifbare poetische, politische oder emotional-psychologische Bedeutung in sich tragen kann. Das Missverstehen eines Blicks im Augenblick des nächsten Blicks. Diese Tendenz, die das Bild zugunsten einer Zeitlichkeit verdrängt ist in das Kino eingeschrieben, aber es gibt Wege, die das Bild zu einer Notwendigkeit machen und somit den Fokus hin zu einem tatsächlichen Zu-Sehen und Zu-Hören zu ermöglichen.

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Eine Methode von Bartas ist dabei sicherlich die Deformation. Sie beginnt beim Casting und führt zu Bewegungen und Oberflächen, die den Blick fordern, die ihn auffordern hinzusehen bevor das nächste Bild kommt, das wiederum einen neuen Blick auf den bewussten Blick legt. Und selbst wenn Bartas mitunter sehr markante Gesichter und extreme Einstellungen auswählt, so entsteht diese Konzentration auch bei eher unauffälligen Gesichtern und zwar genau, weil nicht gesprochen wird, obwohl man es erwartet. Die Deformation bei Bartas ist also keine Frage der zahlreichen Betrunkenen oder Behinderten (man denke an die bewegenden Szenen eines Mannes ohne Beine in Praejusios dienos atminimui), sondern seines Blicks, der ohne Worte auskommen will. Und so spüren wir ein Interesse, das die Textur eines Gesichts fühlbar macht und die unvermeidliche Macht einer Landschaft, die Figuren schlucken kann. In Septyni nematomi zmones gibt es eine Szene auf einer Party, bei der zwei Frauen mit verlockenden Blicken aus dem Bild schauen. Wen sie ansehen ist unklar, auch wenn der nächste Blick der Kamera auf den Protagonisten fällt. Es ist praktisch immerzu unklar in diesem Spiel der Blicke, das auch eine Antwort auf das Fehlen der Worte ist, ob eine Einstellung bei Bartas subjektiv oder objektiv ist. Es ist nur klar, dass sie ist. In dieser Verunsicherung bleibt einem nichts anderes, als das Bild für sich zu betrachten und die Relation zwischen zwei Bildern weniger als narrative (ein schreckliches Wort) oder raumdynamische Folge zu fassen, sondern als assoziative Form einer Poesie der Bilder und Töne. Damit führt Bartas eine Sprache, die sich bereits bei Meistern des Stummfilms wie Jean Epstein, Carl-Theodor Dreyer oder Victor Sjöström gefunden hat auf ein neues Level. Diese Blicke gehen immer zugleich nach außen, in die Welt, off-screen und in sich selbst. Wenn man davon spricht, dass Bresson die Close-Ups von Dreyer nach innen gerichtet hat, dann muss man sagen, das Bartas sie geteilt hat. Es erstaunt daher keineswegs, dass Bartas mit einem Film eine ethnographische Forschung betreiben kann und dabei seine eigene Seele entdeckt. Freedom oder Few of us wären perfekte Beispiele dafür.

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Die Vermischung der so falsch getrennten Spielarten Dokumentarfilm und Spielfilm ist bei Bartas daher eine absolute Notwendigkeit. Die Furcht vor den Worten ist auch die Suche nach der richtigen Distanz zu den Figuren. Man denke nur an seine großartige Sequenz in Trys dienos, in der zig Geschichten hinter Fenstern vorgeschlagen werden, aber keine wirklich erzählt werden kann. Häufig ist die Kamera in einer Entfernung, die uns nichts erklärt und gerade dadurch, weil sie eben doch nah genug ist, eine Lust am Sehen entfaltet. Sobald ein Wort gesprochen wird, kann es nicht mehr ausgelöscht werden. Es hängt wie eine Charakterisierung neben, über und in den Figuren. Es geht auch um die Falschheit von Worten an sich. Wenn jemand spricht, dann ist das oft ein Stottern und Murmeln, ein Schreien und Flüstern, in dem das Material der Sprache, die Präsenz weit und dick über den Inhalt gestülpt wird. Am Ende von Peace to us in our dreams scheint sich Bartas, der in Indigène d‘Eurasie spürbar große Probleme mit den Dialogen hatte, aus dieser Unsicherheit zu befreien. Er wagt es, etwas zu sagen, was er für richtig hält. Es ist folgerichtig, dass er selbst die Figur spricht, die sich damit womöglich angreifbar macht. Er schafft es, dass seine Worte zugleich für sich existieren und als Worte, die gesprochen werden. Es ist nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern auch, dass etwas gesagt wird. Bartas stellt immer wieder die Frage: Wie kann man sich sicher sein? Wie kann man eine Aussage treffen?

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Er unterscheidet auch ganz bewusst im Schauspieler zwischen dem Sein und dem Spielen. Es geht ihm um eine Betonung von Körpern und Gefühlen, die sich hinter Worten verstecken wüden. Dabei entsteht ein merkwürdiges Paradox, denn gewissermaßen versteckt sich Bartas natürlich auch hinter seinem Schweigen. Vielleicht hat er sich deshalb dafür entschieden, einen Schritt in die Sprache zu gehen. In einem Interview sagte der Litauer, dass er 20 Jahre gebraucht habe, um derart glaubwürdige Dialoge hinzubekommen. Diese Aussage zeigt sehr deutlich, dass die Angst vor dem Wort bei Bartas kein Selbstzweck war und ist. Trotzdem ist sie auch ein politischer Aspekt, denn aus der Poetik der Wortlosigkeit entsteht eine Politik. Sie bewegt sich in ähnlichen Bahnen wie die Ziellosigkeit in seinem Trys dienos und das Warten in Korridorius. Das Nicht-Sprechen ist auch eine Form der Machtlosigkeit, der unklaren Verhältnisse. Bartas wird von vielen neben Béla Tarr als der Filmemacher des post-sowjetischen Zustandes gesehen. Einem Zustand, in dem zum einen der Zweifel an der Repräsentation eine äußerst wichtige Rolle spielt, der Zweifel an Worten nicht nur inbegriffen, sondern vordergründig. Die Wahrheit der Dinge kann nicht mehr in der Rhetorik liegen. Darüber hinaus aber ist dieser Versuch, das Potenzial einer Lüge zu umschiffen, auch ein Zustand des Verharrens, der Unmündigkeit von Menschen.

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Bei Bartas gibt es diese Machtlosigkeit in vielen verschiedenen Facetten, häufig jedoch im Angesicht einer Gewalt, die erduldet wird, damit sie nicht noch schlimmer wird. Eine solche Gewalt gibt es beispielsweise zwischen den beiden Handpuppen mit denen Valeria Bruni-Tedeschi in A Casa spielt. Es sind Puppen, die häufig im Werk von Bartas auftauchen, sprachlose, ja leblose Gesichter und Körper aus Holz oder Stoff, die über eine Art Pantomime (nie durch Bauchrednerei bei Bartas) zum Leben erweckt werden oder nur als starre Beobachter auf einem Regal sitzen. Zwei Puppen, die sich schlagen, haben keine Kraft zu sprechen. Und weil diese Puppen genauso wie die Menschen bei Bartas nicht sprechen, ist eine Berührung der einzige Weg einer emotionalen Mitteilung. Diese Berührungen kommen im Kino von Bartas entweder einer Ewigkeit oder einer Explosion gleich. Es sind Umarmungen oder Schläge. Jede andere Berührung ist der Blick, nur die Idee dieser Berührung und das flirrende Loch, dass zwischen dieser Erwartung und dem Warten darauf entsteht.

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Wie kann man über diese Bilder und Töne bei Bartas schreiben? Wie kann man ihm mit Worten begegnen, ohne seine Weltsicht in Frage zu stellen? Wie kann man sich diesem Kino annähern, bei dem einem die Worte fehlen? Es ist kein neues Problem, wenn man sich fragt wie man über Bilder sprechen kann, aber mit Bartas gibt es bereits eine Antwort: man kann nicht. Höchstens, wenn man sich ein wenig lächerlich machen will. Aber wie man es kennt von den zahlreichen misslungen Versuchen über die eigenen Gefühle zu sprechen, so findet sich vielleicht auch in diesem Versuch der notwendige Hauch einer abstrakten Annäherung, die Bartas zwar nie erklären kann, aber hier und da empfindet.

Coughs When You Would Kiss: Spare Time von Humphrey Jennings

‘In the burrows of the Nightmare
Where Justice naked is,
Time watches from the shadow
And coughs when you would kiss.

(aus W.H. Auden - As I Walked Out One Evening)

Die Struktur von Spare Time von Humphrey Jennings ist in sich ein kleines Wunder einfacher Poesie. Jennings filmt in drei Städten mit drei unterschiedlichen industriellen Schwerpunkten: Stahl, Baumwolle, Kohle. In diesen Städten portraitiert er das Freizeitverhalten der englischen Arbeiterklasse der Vorkriegszeit. Zunächst ist da aber eine Verlorenheit. Zwar entsteht durch die Auftaktmusik und den nüchternen Ton der Erzählstimme, die sich dennoch darüber zu freuen scheint, dass es Freizeit gibt, eine Art lockerer Enthusiasmus, aber die Bilder sprechen eine andere Sprache. Etwas hilflose Schwenks über Städte mit rauchenden Schornsteinen, leere Straßen, es sind fast apokalyptische Bilder. Erst nach einigen Schitten füllen die Menschen diese kalten Straßen. Jennings filmt sie in der ersten Stadt durchgehend in Bewegung und lässt sie fast in jedem Bild auf uns zugehen. Dadurch entsteht eine Dynamik und eine Harmonie als gesellschaftliche Utopie. Gesteigert wird dieses Schwimmen im gleichen Rhythmus durch die, sich über mehrere Bilder forsetzende, innerdiegetische Musik. Wir hören sie bereits bei einem verkrampften Dartspiel und sehen sie dann in Form eines Orchesters. Die Blasmusik wechselt sich in der Folge in Form einer Parallelmontage immer wieder ab mit dem Rauch und den Mauern der Stadt. Es ist bemerkenswert, dass Jennings hier nicht auf andere Tätigkeiten schneidet, sondern auf eine Leere. So entsteht der Eindruck, dass die Freizeit und die Musik das karge Leben füllen statt nur als eine kurzzeitige Flucht zu entstehen. Gegen Ende des Films wiederholt der Filmemacher dieses Vorgehen, als er das Abfahren in den Kohleschacht im gleichen Stil,mit der gleichen Musikalität und fröhlichen Stimmung festhält, wie die Freizeit zuvor. In der Folge wird ein Western-Comic gelesen und es wird gebacken. Wie es sich gehört für einen braven Engländer wird das Heft sofort weggelegt, als das Essen auf den Tisch kommt. Es ist dies ein durchgehendes Motiv im Film. Der Ausbruch, der zurück zur Normalität führt, eine Normalität, die sich dann friedlicher anfühlt. Das gilt neben dem jungen mit dem Comic beispielsweise für einen von der Leine gelassenen Hund, der in einer für die Kamera kaum fassbaren Geschwindigkeit aus dem Bild springt, um wenige Sekunden später, zurück zu seinem Herrchen zu kehren.

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Es ist erstaunlich wie ernst die Laien sind. Kaum ein Lachen, kaum eine Verunsicherung. Mit den versteinerten Mienen einer Härte erleben sie Freude. Tauben werden gefüttert, Fahrräder repariert. Dann doch das kurze Lächeln eines Jungen, die Bewegung geht weiter. Pro Szene erlaubt sich Jennings maximal drei oder vier Einstellungen, dann treibt er weiter in der Gleichzeitigkeit dieser Freizeit. Es ist in dieser Montage, in der sich ein Stimmungsportrait vollzieht, das nicht unnötig narrativiert wird wie in Menschen am Sonntag. Spare Time ist ein tatsächliches Portrait der Menschen in der freien Zeit. Daher sind die Einstellungen auf die Fassaden der Arbeit, die diese durchdringen auch konsequent. Statt um eine eskapistische Freizeit Idee geht es um das Material der Zeit, in der man nicht arbeitet. Daher ist der Film auch durchaus ambivalent. Man stelle sich einen solchen Film heute von Ulrich Seidl oder bis vor kurzem von Chantal Akerman vor. Sind nicht Im Keller oder La chambre Auswüchse dieser Freizeit, die Jennings bereits vor dem 2. Weltkrieg in der propagandistischen Grundtendenz der GPO Film Unit versteckt?

Ein Geheimnis von Spare Time ist auch die Präsenz des einzelnen Freizeit-Augenblicks. Damit ist die fotografische Qualität des Films gemeint, der unheimlich lebendige, wenn auch ikonographische Bilder findet, in denen man Menschen erkennen kann, die trotz oder gerade wegen dieser konzeptuellen Idee eine große Freiheit bekommen. Jennings schreckt nicht davor zurück, den Wind oder den kleinen Unfall (ein Schal rutscht vom Klavier) in seiner Montage zu inkludieren, man spürt eine extreme Menschlichkeit in den Gesichtern. Sie werden mit großem Respekt und einem enormen Gespür für die richtige Distanz gefilmt. Von den einzelnen Gestalten in der Schornsteinwüste zu Beginn des Films bewegt sich Jennings in der Folge immer mehr zur Masse, was in England natürlich Fußball und Wettbüros bedeutet. Einmal filmt er dabei einen Mann durch ein Gitter, wobei die Schärfe auf dem Gitter liegt. Es ist ein nachdenkliches Bild am Ende des ersten Teils des Films, der mit eine Blende endet, als ein Fußballspieler zur Eckfahne läuft. Später im Film gibt es einen Tiger hinter einem Käfig und immer wieder gibt es die Mauern dieser Industrie. Der Film bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Befreiung nicht aus, sondern in diesen Mauern durch die Freizeit und der Gefangenschaft der Freizeit in diesen Mauern.

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In der Industrie der Baumwolle organisiert sich die Freizeit ähnlich, wenn auch in anderen Zeitrhythmen. Wieder beginnt Jennings in einer kurzen Verlorenheit, die er diesmal über den Ton vermittelt, da sich dieser zu Beginn sehr weit weg vom Geschehen befindet (ähnlich der Kamera, bei Jennings darf man bezweifeln, dass es sich um Direktton handelt, aber wer weiß…) Er filmt eine Jazzband und schneidet dann wieder in einer Parallelmontage durch den Ort, in dem Kinder mit Kreide auf dem Boden malen, eine Mutter ihr Kind herzt und in der Gartenarbeit verrichtet wird. Ein Gefühl für die Poesie der Alltäglichkeit offenbart sich praktisch in jedem Bild. Dieses hängt nicht nur mit der GPO Film Unit zusammen, sondern auch mit Jennings Arbeit im Rahmen der anthropologischen Bewegung Mass Observation. Doch strebt der Filmemacher hier eine Verbesserung der Zustände an oder portraitiert er lediglich diesselben? Er etabliert ein subtiles Gefühl der Unzufriedenheit durch die geschilderten Ambivalenzen, Zwischentöne und das Beständige Füllen der Leere und Leeren der Fülle. Sein straubesquer Schwenk über die Kohlestadt ist Ausdruck einer dokumentarischen Wahrheitssuche, die keine einfachen Lösungen kennt. Jennings legt sie jedoch in die Poesie seiner Bilder und Töne statt in den Kommentar. Während er schwenkt beginnt ein Feueralarm, der auch ein Fliegeralarm sein könnte. Hier etabliert sich ein weiteres Mal jenes apokalyptische Gefühl des Beginns, das womöglich bereits wie ein Schatten über England 1939 hängt. Schnell hastet der Film durch den Jahrmarkt, um dort anzukommen, wo Jennings wirklich in der Lage ist, etwas zu erkennen: Der Morgen dannach, die Stille, in der das erste Sonnenlicht die leeren Straßen küsst und das Potenzial einer anderen, freieren Zeit atmet. In solchen Momenten klingt der freudige Lärm der Volksfeste auch nur mehr wie ein Echo und die stotternden Klavierübungen, die darauf folgen betonen erneut eine gewisse Unmöglichkeit und Isolation. Menschen füllen das Bild, der Ton bleibt asynchron.

Im anschließenden Chorgesang erscheinen die Gesichter der Freizeit gleich den Silhouetten eines Film Noir. Eine merkwürdig düstere Stimmung legt sich über die Bilder. Sie kommt auch aus dem geistlichen Gesang. Jennings gibt sich der Bewegung der unteren Schichten seiner Bilder hin, eine Traurigkeit überkommt einen, aber weshalb? Weil die Freizeit irgendwann enden muss? Weil die Freizeit so schön ist? Weil sie nicht wirklich gelebt werden kann? Man kann sie auch als Wahrnehmung dieser Menschen fern einer dokumentarischen Idee verstehen, als etwas, dass sich in Jennings regte, eine Erzählstimme des Schwermuts, die im Angesicht dieser ausgezerrten, warmen, ernsten Arbeiter erzittert und sich nicht mehr anders artikulieren kann. So gibt es gegen Ende eines der der bewegendsten Bilder des Films. Eine Frau schenkt einem Mann einen heißen Tee ein. Beide wirken sehr konzentriert und förmlich, aber die Falten, die auf dem Hemd der Frau sichtbar sind, die sich erwärmende Durchgefrorenheit des Mannes und die blasse Licht, das nur die Haut der beiden zu berühren scheint, erhöht diesen eigentlich sehr alltäglichen Moment. Es ist ein Bild, das an Sharunas Bartas oder Diego Velázquez erinnert. Dazu walisische Hymnen. Wenn die Erzählstimme am Anfang verkündet, dass „This is a film about how people spend their spare time..“ liegt die Betonung auf „people“ und „film“.

Liebesbrief an Yekaterina Goulobeva

Liebe Yekaterina Golubeva,

ich habe dich gesehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob du auch mich gesehen hast. Ich bin mir sogar sicher, dass du mich nicht gesehen hast, weil zwischen dir und allen anderen immerzu eine ganze Welt zu liegen scheint, ein großes Geheimnis, denn du bist ein durch den Schnee reitender Engel, der tötet, mit dem eiskalten Atem einer verzweifelten Gleichgültigkeit, töte mich. Du stehst abseits aller Sicherheit und rauchst, im Schatten, im Sonnenlicht. Ich habe das Gefühl, dass die Sonne mit dir erfriert und die Nacht mit dir eine unendliche Wärme ist.

L'intrus von Claire Denis

L’intrus von Claire Denis

Trys dienos von Sharunas Bartas

Trys dienos von Sharunas Bartas

Ich habe deine Schreie gehört. Ich war mir nie sicher, ob es Schreie der Lust oder Schreie der Schmerzen sind. Ich habe dich abwesend, abweisend und doch verlockend gesehen. Du hast eine Feindseligkeit, die anzieht, immerzu anzieht. Dabei legst du deinen Kopf gerne in deinen Nacken. Manchmal erwischt dich dann das Licht, manchmal der stotternde Guss deiner vielen Tränen, die ich immerzu trocknen möchte oder noch besser, aufheben möchte und in ein riesiges Glas neben meine Träume stellen will. Deine Schreie sind echt wie deine Tränen, dein Lächeln ist echt wie dein Verlangen und so sehr wir mit Filmen die Vergangenheit umarmen, so sehr schmerzt, dass ich diese Zeilen eigentlich in der Vergangenheit schreiben müsste. Ich tue es nicht und halte deine magische Präsenz am Leben, die in deinen Gesten oft nur ein Windhauch ist, deine Augen sind das Geheimnis einer ewigen Sterblichkeit. Egal wohin du blickst, es wirkt immer so als würdest du mich ansehen.

Twentynine Palms2

Twentynine Palms von Bruno Dumont

The Corridor

Koridorius von Sharunas Bartas

Du bist über mir geschwebt mit einem Helikopter, du bist immerzu nur auf der Reise, du gehst und kommst und niemand weiß weshalb. So bist du in zerfallene Räume geflogen, vielleicht sind sie erst mit dir zerfallen, weil alles gezittert hat. Ich will mit dir in meinem Blut baden. In unserem Strom aus Blut, wir schreien, wir weinen, wir lächeln und wir werden nicht mehr schlafen. Mit dir beginnt und endet jedes Herz. Lass uns auf Steinen in der Sonne liegen und verbrennen, lass uns zusammen verschwinden, auch wenn wir keinen Ort finden, um miteinander zu schlafen, so können wir ihn doch suchen.

J'ai pas sommeil2

J’ai pas sommeil von Claire Denis

Polax8

Pola X von Leos Carax

 

Du hast keine Angst vor Intimität, weil du keine Angst hast, deine Angst zu teilen. Wir können im Halbdunkel tanzen bis es dunkel wird, dein Körper wird die Nacht erleuchten, deine Seele ist deine immer außerordentlich beleuchtete Haut.

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Few of us von Sharunas Bartas