Sharunas Bartas und die Angst vor dem Wort

In den Filmen von Sharunas Bartas gibt es, trotz einer leichten Öffnung in seinen letzten beiden Filmen Indigène d‘Eurasie und Peace to us in our dreams, eine anhaltende Furcht vor dem Wort. Es ist eine Angst, die weit über diese ewige und frustrierende Diskussion zur Essenz des Kinos hinausgeht. Ganz oberflächlich könnte man sagen, dass die Figuren (sie sind eigentlich Menschen) in den Filmen von Bartas kaum oder in Filmen wie Koridorius gar nicht sprechen. Sie verwenden nicht ihre Sprache, um zu kommunizieren. Haben sie eine Sprache, haben wir die Wörter, hat irgendwer ein Wort? In diesem Sinn handeln die Filme immer auch vom philosophischen Problem des Ausdrucks, jener Begegnung aus einem Gefühl und seiner Bestimmung, der Versuch den inneren Eindruck durch Worte zu veranschaulichen. Vieles im Kino von Bartas stellt die Frage, wozu man Worte braucht, wenn es doch Bilder und Töne gibt. Daran hängt zunächst der Aspekt einer Unmöglichkeit, einer Unfähigkeit.

Peace

In Peace to us in our dreams kommt eine Bekannte oder Verwandte des Protagonisten zu ihm. Wer genau sie ist, muss man sehen oder hören, es wird nicht gesagt. Sie sitzen zusammen und sie will ihm etwas erzählen. Aber kurz bevor sie es sagen kann, bricht sie in Tränen aus. Sie schafft es nicht. Ihr ganzes Gesicht zittert unter der Last des Unausgesprochenen, die eigentlich eine Last des Potenzials der Sprache ist. Häufig gewinnt Bartas einen unheimlichen Druck, eine drückende Konzentration in den Augen und Mündern, die in der Furcht vor den Worten leben, die sie in sich pressen, damit sie nicht lügen, damit auch Bartas nicht lügt, denn man darf nicht vergessen, dass es an ihm wäre, diesen Figuren eine Stimme zu geben. Es ist das Zurückhalten, das für das sensibilisiert, was zurückgehalten wird. Als wären die Worte erst das Bewusstsein, ein ungerechtes Bewusstsein mit der Gefahr eines Missverstehens und einer Offenlegung. Bilder sind (bei Bartas) oft sicherer, gerade weil sie gefährlicher sind. Sie haben mehr Respekt und sie haben in sich bereits diese Unmöglichkeit des Ausdrucks gebrochen (in ihrem Licht), sodass aus dem Zweifel eine neue Kraft entstehen kann.

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So gibt es zwei dominante Einstellungsgrößen im Werk des Filmemachers: Die Nahaufnahme (eines Gesichts) und die Großaufnahme (einer Landschaft oder eines Ortes). In beiden hängt Nebel. In beiden wird uns ganz klar gemacht, dass es Wahrnehmungsbilder sind, beschränkte Bilder, Illusionen. Im Gesicht liegt dieser Nebel in den häufig mit Tränen benetzten Augen. Aus diesen Blicken, wie jenen von Yekaterina Golubeva in Few of us oder Koridorius, die meist aus gesenkten Häuptern und zunächst geschlossenen Augen emporsteigen, entsteht eine Sehnsucht und eine Sprachlosigkeit zugleich. Die Unfähigkeit des verbalen Ausdrucks ist hier auch die Fähigkeit einer Sinnlichkeit, die im Vermeiden einer Aussage in den Fokus rückt. Aber es ist ein gefährliches Spiel, denn die Angst vor dem Wort hängt an dieser schwierigen Grenze im Werk von Bartas. Es geht um die Unterscheidung zwischen dem Blick nach Innen und dem Blick in die Welt. Wörter sind gelesen immer Teil einer Imagination, wogegen Bilder ohne diese auskommen können. Die Angst vor dem Wort ist in diesem Sinn auch der Versuch etwas zu sehen statt sich selbst in diese Welten zu projizieren. Nur im Offenlassen der Gesichter und ihrer Bedeutung, droht sich eine andere Form der gefürchteten Identifikation zu etablieren. Man sieht sich selbst in den Gesichtern und dann sieht man wieder nichts oder man sieht nicht richtig, denn wer sich selbst auf der Leinwand sieht, sieht nicht den Film wie Pedro Costa einmal treffend formulierte. Der Kuleschow-Effekt, der in vielerlei Hinsicht für die Kraft des kinematographischen Sprache steht, hat auch eine Kehrseite. Er zeigt auch die Ohnmacht dieser Sprache und die Gefahr des magisch erhöhten dritten Bilds, also jener unsichtbaren Kraft, die zwischen zwei Einstellungen entsteht und die eine ungreifbare poetische, politische oder emotional-psychologische Bedeutung in sich tragen kann. Das Missverstehen eines Blicks im Augenblick des nächsten Blicks. Diese Tendenz, die das Bild zugunsten einer Zeitlichkeit verdrängt ist in das Kino eingeschrieben, aber es gibt Wege, die das Bild zu einer Notwendigkeit machen und somit den Fokus hin zu einem tatsächlichen Zu-Sehen und Zu-Hören zu ermöglichen.

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Eine Methode von Bartas ist dabei sicherlich die Deformation. Sie beginnt beim Casting und führt zu Bewegungen und Oberflächen, die den Blick fordern, die ihn auffordern hinzusehen bevor das nächste Bild kommt, das wiederum einen neuen Blick auf den bewussten Blick legt. Und selbst wenn Bartas mitunter sehr markante Gesichter und extreme Einstellungen auswählt, so entsteht diese Konzentration auch bei eher unauffälligen Gesichtern und zwar genau, weil nicht gesprochen wird, obwohl man es erwartet. Die Deformation bei Bartas ist also keine Frage der zahlreichen Betrunkenen oder Behinderten (man denke an die bewegenden Szenen eines Mannes ohne Beine in Praejusios dienos atminimui), sondern seines Blicks, der ohne Worte auskommen will. Und so spüren wir ein Interesse, das die Textur eines Gesichts fühlbar macht und die unvermeidliche Macht einer Landschaft, die Figuren schlucken kann. In Septyni nematomi zmones gibt es eine Szene auf einer Party, bei der zwei Frauen mit verlockenden Blicken aus dem Bild schauen. Wen sie ansehen ist unklar, auch wenn der nächste Blick der Kamera auf den Protagonisten fällt. Es ist praktisch immerzu unklar in diesem Spiel der Blicke, das auch eine Antwort auf das Fehlen der Worte ist, ob eine Einstellung bei Bartas subjektiv oder objektiv ist. Es ist nur klar, dass sie ist. In dieser Verunsicherung bleibt einem nichts anderes, als das Bild für sich zu betrachten und die Relation zwischen zwei Bildern weniger als narrative (ein schreckliches Wort) oder raumdynamische Folge zu fassen, sondern als assoziative Form einer Poesie der Bilder und Töne. Damit führt Bartas eine Sprache, die sich bereits bei Meistern des Stummfilms wie Jean Epstein, Carl-Theodor Dreyer oder Victor Sjöström gefunden hat auf ein neues Level. Diese Blicke gehen immer zugleich nach außen, in die Welt, off-screen und in sich selbst. Wenn man davon spricht, dass Bresson die Close-Ups von Dreyer nach innen gerichtet hat, dann muss man sagen, das Bartas sie geteilt hat. Es erstaunt daher keineswegs, dass Bartas mit einem Film eine ethnographische Forschung betreiben kann und dabei seine eigene Seele entdeckt. Freedom oder Few of us wären perfekte Beispiele dafür.

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Die Vermischung der so falsch getrennten Spielarten Dokumentarfilm und Spielfilm ist bei Bartas daher eine absolute Notwendigkeit. Die Furcht vor den Worten ist auch die Suche nach der richtigen Distanz zu den Figuren. Man denke nur an seine großartige Sequenz in Trys dienos, in der zig Geschichten hinter Fenstern vorgeschlagen werden, aber keine wirklich erzählt werden kann. Häufig ist die Kamera in einer Entfernung, die uns nichts erklärt und gerade dadurch, weil sie eben doch nah genug ist, eine Lust am Sehen entfaltet. Sobald ein Wort gesprochen wird, kann es nicht mehr ausgelöscht werden. Es hängt wie eine Charakterisierung neben, über und in den Figuren. Es geht auch um die Falschheit von Worten an sich. Wenn jemand spricht, dann ist das oft ein Stottern und Murmeln, ein Schreien und Flüstern, in dem das Material der Sprache, die Präsenz weit und dick über den Inhalt gestülpt wird. Am Ende von Peace to us in our dreams scheint sich Bartas, der in Indigène d‘Eurasie spürbar große Probleme mit den Dialogen hatte, aus dieser Unsicherheit zu befreien. Er wagt es, etwas zu sagen, was er für richtig hält. Es ist folgerichtig, dass er selbst die Figur spricht, die sich damit womöglich angreifbar macht. Er schafft es, dass seine Worte zugleich für sich existieren und als Worte, die gesprochen werden. Es ist nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern auch, dass etwas gesagt wird. Bartas stellt immer wieder die Frage: Wie kann man sich sicher sein? Wie kann man eine Aussage treffen?

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Er unterscheidet auch ganz bewusst im Schauspieler zwischen dem Sein und dem Spielen. Es geht ihm um eine Betonung von Körpern und Gefühlen, die sich hinter Worten verstecken wüden. Dabei entsteht ein merkwürdiges Paradox, denn gewissermaßen versteckt sich Bartas natürlich auch hinter seinem Schweigen. Vielleicht hat er sich deshalb dafür entschieden, einen Schritt in die Sprache zu gehen. In einem Interview sagte der Litauer, dass er 20 Jahre gebraucht habe, um derart glaubwürdige Dialoge hinzubekommen. Diese Aussage zeigt sehr deutlich, dass die Angst vor dem Wort bei Bartas kein Selbstzweck war und ist. Trotzdem ist sie auch ein politischer Aspekt, denn aus der Poetik der Wortlosigkeit entsteht eine Politik. Sie bewegt sich in ähnlichen Bahnen wie die Ziellosigkeit in seinem Trys dienos und das Warten in Korridorius. Das Nicht-Sprechen ist auch eine Form der Machtlosigkeit, der unklaren Verhältnisse. Bartas wird von vielen neben Béla Tarr als der Filmemacher des post-sowjetischen Zustandes gesehen. Einem Zustand, in dem zum einen der Zweifel an der Repräsentation eine äußerst wichtige Rolle spielt, der Zweifel an Worten nicht nur inbegriffen, sondern vordergründig. Die Wahrheit der Dinge kann nicht mehr in der Rhetorik liegen. Darüber hinaus aber ist dieser Versuch, das Potenzial einer Lüge zu umschiffen, auch ein Zustand des Verharrens, der Unmündigkeit von Menschen.

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Bei Bartas gibt es diese Machtlosigkeit in vielen verschiedenen Facetten, häufig jedoch im Angesicht einer Gewalt, die erduldet wird, damit sie nicht noch schlimmer wird. Eine solche Gewalt gibt es beispielsweise zwischen den beiden Handpuppen mit denen Valeria Bruni-Tedeschi in A Casa spielt. Es sind Puppen, die häufig im Werk von Bartas auftauchen, sprachlose, ja leblose Gesichter und Körper aus Holz oder Stoff, die über eine Art Pantomime (nie durch Bauchrednerei bei Bartas) zum Leben erweckt werden oder nur als starre Beobachter auf einem Regal sitzen. Zwei Puppen, die sich schlagen, haben keine Kraft zu sprechen. Und weil diese Puppen genauso wie die Menschen bei Bartas nicht sprechen, ist eine Berührung der einzige Weg einer emotionalen Mitteilung. Diese Berührungen kommen im Kino von Bartas entweder einer Ewigkeit oder einer Explosion gleich. Es sind Umarmungen oder Schläge. Jede andere Berührung ist der Blick, nur die Idee dieser Berührung und das flirrende Loch, dass zwischen dieser Erwartung und dem Warten darauf entsteht.

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Wie kann man über diese Bilder und Töne bei Bartas schreiben? Wie kann man ihm mit Worten begegnen, ohne seine Weltsicht in Frage zu stellen? Wie kann man sich diesem Kino annähern, bei dem einem die Worte fehlen? Es ist kein neues Problem, wenn man sich fragt wie man über Bilder sprechen kann, aber mit Bartas gibt es bereits eine Antwort: man kann nicht. Höchstens, wenn man sich ein wenig lächerlich machen will. Aber wie man es kennt von den zahlreichen misslungen Versuchen über die eigenen Gefühle zu sprechen, so findet sich vielleicht auch in diesem Versuch der notwendige Hauch einer abstrakten Annäherung, die Bartas zwar nie erklären kann, aber hier und da empfindet.

Coughs When You Would Kiss: Spare Time von Humphrey Jennings

‘In the burrows of the Nightmare
Where Justice naked is,
Time watches from the shadow
And coughs when you would kiss.

(aus W.H. Auden - As I Walked Out One Evening)

Die Struktur von Spare Time von Humphrey Jennings ist in sich ein kleines Wunder einfacher Poesie. Jennings filmt in drei Städten mit drei unterschiedlichen industriellen Schwerpunkten: Stahl, Baumwolle, Kohle. In diesen Städten portraitiert er das Freizeitverhalten der englischen Arbeiterklasse der Vorkriegszeit. Zunächst ist da aber eine Verlorenheit. Zwar entsteht durch die Auftaktmusik und den nüchternen Ton der Erzählstimme, die sich dennoch darüber zu freuen scheint, dass es Freizeit gibt, eine Art lockerer Enthusiasmus, aber die Bilder sprechen eine andere Sprache. Etwas hilflose Schwenks über Städte mit rauchenden Schornsteinen, leere Straßen, es sind fast apokalyptische Bilder. Erst nach einigen Schitten füllen die Menschen diese kalten Straßen. Jennings filmt sie in der ersten Stadt durchgehend in Bewegung und lässt sie fast in jedem Bild auf uns zugehen. Dadurch entsteht eine Dynamik und eine Harmonie als gesellschaftliche Utopie. Gesteigert wird dieses Schwimmen im gleichen Rhythmus durch die, sich über mehrere Bilder forsetzende, innerdiegetische Musik. Wir hören sie bereits bei einem verkrampften Dartspiel und sehen sie dann in Form eines Orchesters. Die Blasmusik wechselt sich in der Folge in Form einer Parallelmontage immer wieder ab mit dem Rauch und den Mauern der Stadt. Es ist bemerkenswert, dass Jennings hier nicht auf andere Tätigkeiten schneidet, sondern auf eine Leere. So entsteht der Eindruck, dass die Freizeit und die Musik das karge Leben füllen statt nur als eine kurzzeitige Flucht zu entstehen. Gegen Ende des Films wiederholt der Filmemacher dieses Vorgehen, als er das Abfahren in den Kohleschacht im gleichen Stil,mit der gleichen Musikalität und fröhlichen Stimmung festhält, wie die Freizeit zuvor. In der Folge wird ein Western-Comic gelesen und es wird gebacken. Wie es sich gehört für einen braven Engländer wird das Heft sofort weggelegt, als das Essen auf den Tisch kommt. Es ist dies ein durchgehendes Motiv im Film. Der Ausbruch, der zurück zur Normalität führt, eine Normalität, die sich dann friedlicher anfühlt. Das gilt neben dem jungen mit dem Comic beispielsweise für einen von der Leine gelassenen Hund, der in einer für die Kamera kaum fassbaren Geschwindigkeit aus dem Bild springt, um wenige Sekunden später, zurück zu seinem Herrchen zu kehren.

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Es ist erstaunlich wie ernst die Laien sind. Kaum ein Lachen, kaum eine Verunsicherung. Mit den versteinerten Mienen einer Härte erleben sie Freude. Tauben werden gefüttert, Fahrräder repariert. Dann doch das kurze Lächeln eines Jungen, die Bewegung geht weiter. Pro Szene erlaubt sich Jennings maximal drei oder vier Einstellungen, dann treibt er weiter in der Gleichzeitigkeit dieser Freizeit. Es ist in dieser Montage, in der sich ein Stimmungsportrait vollzieht, das nicht unnötig narrativiert wird wie in Menschen am Sonntag. Spare Time ist ein tatsächliches Portrait der Menschen in der freien Zeit. Daher sind die Einstellungen auf die Fassaden der Arbeit, die diese durchdringen auch konsequent. Statt um eine eskapistische Freizeit Idee geht es um das Material der Zeit, in der man nicht arbeitet. Daher ist der Film auch durchaus ambivalent. Man stelle sich einen solchen Film heute von Ulrich Seidl oder bis vor kurzem von Chantal Akerman vor. Sind nicht Im Keller oder La chambre Auswüchse dieser Freizeit, die Jennings bereits vor dem 2. Weltkrieg in der propagandistischen Grundtendenz der GPO Film Unit versteckt?

Ein Geheimnis von Spare Time ist auch die Präsenz des einzelnen Freizeit-Augenblicks. Damit ist die fotografische Qualität des Films gemeint, der unheimlich lebendige, wenn auch ikonographische Bilder findet, in denen man Menschen erkennen kann, die trotz oder gerade wegen dieser konzeptuellen Idee eine große Freiheit bekommen. Jennings schreckt nicht davor zurück, den Wind oder den kleinen Unfall (ein Schal rutscht vom Klavier) in seiner Montage zu inkludieren, man spürt eine extreme Menschlichkeit in den Gesichtern. Sie werden mit großem Respekt und einem enormen Gespür für die richtige Distanz gefilmt. Von den einzelnen Gestalten in der Schornsteinwüste zu Beginn des Films bewegt sich Jennings in der Folge immer mehr zur Masse, was in England natürlich Fußball und Wettbüros bedeutet. Einmal filmt er dabei einen Mann durch ein Gitter, wobei die Schärfe auf dem Gitter liegt. Es ist ein nachdenkliches Bild am Ende des ersten Teils des Films, der mit eine Blende endet, als ein Fußballspieler zur Eckfahne läuft. Später im Film gibt es einen Tiger hinter einem Käfig und immer wieder gibt es die Mauern dieser Industrie. Der Film bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Befreiung nicht aus, sondern in diesen Mauern durch die Freizeit und der Gefangenschaft der Freizeit in diesen Mauern.

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In der Industrie der Baumwolle organisiert sich die Freizeit ähnlich, wenn auch in anderen Zeitrhythmen. Wieder beginnt Jennings in einer kurzen Verlorenheit, die er diesmal über den Ton vermittelt, da sich dieser zu Beginn sehr weit weg vom Geschehen befindet (ähnlich der Kamera, bei Jennings darf man bezweifeln, dass es sich um Direktton handelt, aber wer weiß…) Er filmt eine Jazzband und schneidet dann wieder in einer Parallelmontage durch den Ort, in dem Kinder mit Kreide auf dem Boden malen, eine Mutter ihr Kind herzt und in der Gartenarbeit verrichtet wird. Ein Gefühl für die Poesie der Alltäglichkeit offenbart sich praktisch in jedem Bild. Dieses hängt nicht nur mit der GPO Film Unit zusammen, sondern auch mit Jennings Arbeit im Rahmen der anthropologischen Bewegung Mass Observation. Doch strebt der Filmemacher hier eine Verbesserung der Zustände an oder portraitiert er lediglich diesselben? Er etabliert ein subtiles Gefühl der Unzufriedenheit durch die geschilderten Ambivalenzen, Zwischentöne und das Beständige Füllen der Leere und Leeren der Fülle. Sein straubesquer Schwenk über die Kohlestadt ist Ausdruck einer dokumentarischen Wahrheitssuche, die keine einfachen Lösungen kennt. Jennings legt sie jedoch in die Poesie seiner Bilder und Töne statt in den Kommentar. Während er schwenkt beginnt ein Feueralarm, der auch ein Fliegeralarm sein könnte. Hier etabliert sich ein weiteres Mal jenes apokalyptische Gefühl des Beginns, das womöglich bereits wie ein Schatten über England 1939 hängt. Schnell hastet der Film durch den Jahrmarkt, um dort anzukommen, wo Jennings wirklich in der Lage ist, etwas zu erkennen: Der Morgen dannach, die Stille, in der das erste Sonnenlicht die leeren Straßen küsst und das Potenzial einer anderen, freieren Zeit atmet. In solchen Momenten klingt der freudige Lärm der Volksfeste auch nur mehr wie ein Echo und die stotternden Klavierübungen, die darauf folgen betonen erneut eine gewisse Unmöglichkeit und Isolation. Menschen füllen das Bild, der Ton bleibt asynchron.

Im anschließenden Chorgesang erscheinen die Gesichter der Freizeit gleich den Silhouetten eines Film Noir. Eine merkwürdig düstere Stimmung legt sich über die Bilder. Sie kommt auch aus dem geistlichen Gesang. Jennings gibt sich der Bewegung der unteren Schichten seiner Bilder hin, eine Traurigkeit überkommt einen, aber weshalb? Weil die Freizeit irgendwann enden muss? Weil die Freizeit so schön ist? Weil sie nicht wirklich gelebt werden kann? Man kann sie auch als Wahrnehmung dieser Menschen fern einer dokumentarischen Idee verstehen, als etwas, dass sich in Jennings regte, eine Erzählstimme des Schwermuts, die im Angesicht dieser ausgezerrten, warmen, ernsten Arbeiter erzittert und sich nicht mehr anders artikulieren kann. So gibt es gegen Ende eines der der bewegendsten Bilder des Films. Eine Frau schenkt einem Mann einen heißen Tee ein. Beide wirken sehr konzentriert und förmlich, aber die Falten, die auf dem Hemd der Frau sichtbar sind, die sich erwärmende Durchgefrorenheit des Mannes und die blasse Licht, das nur die Haut der beiden zu berühren scheint, erhöht diesen eigentlich sehr alltäglichen Moment. Es ist ein Bild, das an Sharunas Bartas oder Diego Velázquez erinnert. Dazu walisische Hymnen. Wenn die Erzählstimme am Anfang verkündet, dass „This is a film about how people spend their spare time..“ liegt die Betonung auf „people“ und „film“.

Liebesbrief an Yekaterina Goulobeva

Liebe Yekaterina Golubeva,

ich habe dich gesehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob du auch mich gesehen hast. Ich bin mir sogar sicher, dass du mich nicht gesehen hast, weil zwischen dir und allen anderen immerzu eine ganze Welt zu liegen scheint, ein großes Geheimnis, denn du bist ein durch den Schnee reitender Engel, der tötet, mit dem eiskalten Atem einer verzweifelten Gleichgültigkeit, töte mich. Du stehst abseits aller Sicherheit und rauchst, im Schatten, im Sonnenlicht. Ich habe das Gefühl, dass die Sonne mit dir erfriert und die Nacht mit dir eine unendliche Wärme ist.

L'intrus von Claire Denis

L’intrus von Claire Denis

Trys dienos von Sharunas Bartas

Trys dienos von Sharunas Bartas

Ich habe deine Schreie gehört. Ich war mir nie sicher, ob es Schreie der Lust oder Schreie der Schmerzen sind. Ich habe dich abwesend, abweisend und doch verlockend gesehen. Du hast eine Feindseligkeit, die anzieht, immerzu anzieht. Dabei legst du deinen Kopf gerne in deinen Nacken. Manchmal erwischt dich dann das Licht, manchmal der stotternde Guss deiner vielen Tränen, die ich immerzu trocknen möchte oder noch besser, aufheben möchte und in ein riesiges Glas neben meine Träume stellen will. Deine Schreie sind echt wie deine Tränen, dein Lächeln ist echt wie dein Verlangen und so sehr wir mit Filmen die Vergangenheit umarmen, so sehr schmerzt, dass ich diese Zeilen eigentlich in der Vergangenheit schreiben müsste. Ich tue es nicht und halte deine magische Präsenz am Leben, die in deinen Gesten oft nur ein Windhauch ist, deine Augen sind das Geheimnis einer ewigen Sterblichkeit. Egal wohin du blickst, es wirkt immer so als würdest du mich ansehen.

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Twentynine Palms von Bruno Dumont

The Corridor

Koridorius von Sharunas Bartas

Du bist über mir geschwebt mit einem Helikopter, du bist immerzu nur auf der Reise, du gehst und kommst und niemand weiß weshalb. So bist du in zerfallene Räume geflogen, vielleicht sind sie erst mit dir zerfallen, weil alles gezittert hat. Ich will mit dir in meinem Blut baden. In unserem Strom aus Blut, wir schreien, wir weinen, wir lächeln und wir werden nicht mehr schlafen. Mit dir beginnt und endet jedes Herz. Lass uns auf Steinen in der Sonne liegen und verbrennen, lass uns zusammen verschwinden, auch wenn wir keinen Ort finden, um miteinander zu schlafen, so können wir ihn doch suchen.

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J’ai pas sommeil von Claire Denis

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Pola X von Leos Carax

 

Du hast keine Angst vor Intimität, weil du keine Angst hast, deine Angst zu teilen. Wir können im Halbdunkel tanzen bis es dunkel wird, dein Körper wird die Nacht erleuchten, deine Seele ist deine immer außerordentlich beleuchtete Haut.

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Few of us von Sharunas Bartas

No Place Like Cannes

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Ich habe die Zukunft gesehen, und die Zukunft heißt Cannes. Was ist Cannes? Ein Filmfestival? Eine Party? Ein Marktplatz? Ein Zirkus? Alles auf einmal, versteht sich. Eine hundertköpfige Hydra, die jeden Besucher von allen Seiten bedrängt und in unzählige Richtungen zerrt, eine Verdichtung und Potenzierung dessen, was man für gewöhnlich „Festivalerfahrung“ nennt. Im Folgenden will ich versuchen, rückblickend ein paar meiner jungfräulichen Eindrücke festzuhalten, in der verfehlten Hoffnung, die Widersprüche dieses hypertrophen Massenevents aufzulösen. Geäußerte Kritik schließt den Autor nicht aus, denn so viel ist sicher: Wer nach Cannes fährt, ist unweigerlich ein Teil von Cannes, ein Öltropfen im Fegefeuer der Eitelkeiten.

Cannes ist das Gegenteil von Reflexion. Im Festivalradius, der im Grunde das gesamte Stadtzentrum einschließt, gibt es keine richtigen Rückzugsorte. Will man innere Einkehr halten, darf man seine Unterkunft eigentlich nicht verlassen – ansonsten wird man mitgerissen von den Reizfluten und Menschenströmen und kommt erst wieder zur Ruhe, wenn der Tag sich seinem Ende zuneigt und der nächste bereits wartet. Die Bevölkerung des mittelgroßen Kurortes wächst während der Filmfestspiele drastisch an. Straßen, Gassen, Restaurants und Lokale platzen aus allen Nähten, Raum fehlt physisch und psychisch. Die Croisette verwandelt sich zu Stoßzeiten in einen kilometerlangen Passantenschlauch, der nur schleppend pumpt, Prunk-Karossen drücken sich wie Eisbrecher durch den massigen Pulk. Aufmerksamkeit ist ein hart umkämpftes Gut, man ist zum Antennenschicksal verdammt: Werbebanner, Filmplakate, Videowände, Geschäftsauslagen, Partyzelte, Artisten, Akrobaten und Straßenmusiker buhlen unisono um die Gunst von Auge und Ohr. Wer hier kein Star ist, will einer sein.

Schafft man es, zu diesen Bedrängnissen auf Abstand zu gehen, was ohnehin nur im übertragenen Sinne möglich ist, wird man sich (als Neuling jedenfalls) immer noch schwer tun, einen klaren Gedanken zu fassen – einen Gedanken also, der sich buchstäblich setzen kann und nicht Gefahr läuft, von einem anderen ausgebootet und weitergepeitscht zu werden. Dafür sorgen der Druck und die Geschwindigkeit von Plansoll und Meinungsstrudel. Eines merkt man sehr schnell: So gut wie niemand ist hier, um einfach nur Filme zu schauen. Alle haben zu tun, müssen wo sein, etwas schreiben, jemanden treffen, irgendwas sehen, später, bald, jetzt. In dieser Atmosphäre könnte nur Tsai Ming-liangs buddhistischer „Walker“ inneren Frieden finden. Die Journalisten-Schreibdomäne im Palais des Festivals versinnbildlicht den Dauerstress: Sie erinnert mit ihrer Zeitzonen-Uhrenwand, dem Wasserspender und der Schlange vor dem Kaffeeausschank an einen heillos überfüllten news room, wo alle in sich hinein und gegeneinander arbeiten.

Darüber hinaus hat nicht jeder das Glück, einigermaßen frei über seine „Freizeit“ verfügen zu können. Das mehrfarbige Badge-System parzelliert die Akkreditiertenmasse gleich einem Kastenwesen. Wie Ignatiy Vishnevetsky treffend in einem seiner Cannes-Beiträge für den AV-Club bemerkt, konstituiert diese Aufteilung für jeden einzelnen Rang ein gesondertes Verhältnis zur Zeit. Wem ein weißes Kärtchen um den Hals baumelt, der hat freie Fahrt, die Rosaroten können es noch relativ gemütlich angehen, Inhaber blauer und gelber Ausweise haben kaum temporalen Spielraum; wenn sie einen Film sehen wollen, müssen sie sich zwei, bestenfalls drei Stunden vorher anstellen, und selbst dann ist der Einlass nicht garantiert. Damit ist die Tagesplanung weitestgehend abgehakt, will man noch essen, schlafen und arbeiten. So sind die Menschen, die sich begegnen, oft immer noch auf verschiedenen Ebenen unterwegs.

Unter Hochdruck kommt es schneller zu Reaktionen. Cannes ist fraglos ein guter Ort, um Menschen kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Für viele Festivalbesucher stellt dies ein ausdrückliches Reiseziel dar. Niemand hier hat einen Heimvorteil, jeder ist bis zu einem gewissen Grad fish out of water, keiner will durchgehend alleine bleiben. In den endlosen Schlangen, vor denen in den Nebensektionen nicht einmal die wenigen Götter in Weiß gefeit sind, kommt es unweigerlich zu Gesprächen. Vielleicht kennt man einander über fünf Ecken, vielleicht ist man sich am Vortag in einer Bar begegnet, aber eigentlich gibt es keine Voraussetzungen für Konversation. Das Mitteilungsbedürfnis ist oft stärker als die Scham, soziale und berufliche Hierarchien sind von Sonne und Schweiß aufgeweicht, werden durchlässiger.

Diese Festivalkommunikation ist ein seltsames Spiel. Sieht man vom Rapport mit Freunden und Bekannten ab, dessen Grundkoordinaten abgesteckt sind und der daher verknappten, reibungslosen und informativen Meinungsaustausch ermöglicht (informativ in der Hinsicht, dass jede Meinungsäußerung an ein beiderseitig bekanntes Weltbild gekoppelt ist und daher fürs Erste keiner näheren Ausführung bedarf, um sich ein provisorisches Bild von einem beurteilten Objekt zu machen), hängen die Aussagen Fremder für Fremde, so sie einsilbige Blitzurteile bleiben, wie ungreifbare Rauchschwaden in der Luft. Cannes besteht jedoch aus den bereits genannten Gründen (Zeitmangel, Reflexionshemmung) fast ausnahmslos aus Blitzurteilen. Sagt einem X, den man gerade erst kennengelernt hat und über dessen Geschmack und Haltung man so gut wie nichts weiß, dass ein bestimmter Film gut war, ohne sein Urteil näher zu erläutern, ist der Informationsgehalt dieser Äußerung gleich Null. Für Erläuterungen bleibt indes nur selten Zeit. Assoziiert man X mit einem spezifischen Medium, besteht der Mehrwert seiner Aussage darin, dass man später zu jemand anders sagen kann: „X vom Medium Y hat Film Z für gut befunden.“

Der Konsens nimmt sich, was er kriegen kann. Cannes ist ein hochkarätiges Premierenfestival. Die hier gezeigten Filme liegen schon vor ihrer Uraufführung hoch im Dis-Kurs, entweder kraft des Leumunds ihrer Urheber oder aus anderen Gründen, und sei es auch bloß der Umstand, dass sie in Cannes gezeigt werden. Es sind Filme, die man prägnant umschreiben kann als „der Film von X“, „der Film mit X“ oder „der Film über X“. Die cinephile Welt giert nach Meinungen zu diesen Filmen. Entsprechend hoch ist der Druck auf die anwesenden Journalisten, Spontanmeinungen zu generieren. Das faszinierende an Cannes ist, dass hier jeder (zumindest für kurze Zeit) auf sich allein gestellt ist mit seiner Urteilsbildung – eigentlich eine kleine Utopie. Keine Rezensionsaggregatoren, die einem vorkauen, welcher Bewertungstrend sich abzeichnet, keine Vorabkritiken, die einem Positionierungsoptionen offerieren – nur der Film, der Zuschauer und sein persönliches Stimmungsbarometer. Das Resultat ist ein chaotisches Gewirr aus mehr oder weniger ausgegorenen Einschätzungen, unter denen sich aufrichtige Impulsreaktionen ebenso finden wie reflexartige Rückgriffe auf Erfahrungswerte und Gemeinplätze oder verzweifelte Versuche, den werdenden Konsens zu antizipieren. Nur langsam kristallisiert sich das heraus, was sich nach dem Festival als Usus einpendeln wird. Auch dafür sind sie da, die Festival-Dailies der Branchenblätter, die Kritikerspiegel, die wilden Twittergüsse: Um den Anwesenden die Meinungsbildung zu erleichtern und die Angst zu mildern, nicht zu wissen, was man sehen, was man sagen soll.

Schön ist, wenn man die seltene Gelegenheit hat, diesen eigentümlichen Schwebezustand zu nutzen, um ohne Absicherung in Debatten die Qualitäten eines Films auszuloten, sich auf ein Gegenüber einzulassen, seine Beobachtungen mit den eigenen abzugleichen, gemeinsam angewandte Filmkritik zu betreiben, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, auf die der andere ebenso neugierig ist wie man selbst, wohl wissend, dass zum gegebenen Zeitpunkt niemand sattelfest ist und die Deutungshoheit für sich beanspruchen kann. Selbst wenn sich dieser Forschergeist auf scheinbare Oberflächlichkeiten stürzt, ist er ansteckend, etwa wenn enthusiastische Zuschauer versuchen, den arabesken Plot von Hou Hsiao-Hsiens Assassin mit Hilfe von handgezeichneten Diagrammen und Stammbäumen zu enträtseln.

Die größte Herausforderung, die Cannes an einen Besucher stellt, der gewohnt ist, ein Mindestmaß an Übersicht zu haben, ist die nahezu unerträgliche Gleichzeitigkeit, die völlig unverhohlene Absurdität eines reibungslosen Nebeneinanders von konträren Perspektiven, Lebensentwürfen, Haltungen, Weltbildern, Kunstvorstellungen, Idealen und Werten, die in diesem schillernden Schmelztiegel vor sich hin blubbern, ohne zu schmelzen (auch in Bezug auf Selbstdarstellung, Tempo und Aufmerksamkeitsökonomie mutet der ganze Irrsinn an, als hätte sich Facebook in eine Stadt verwandelt). Angesichts all dieser Aporien wirkt jede Diskussion darüber, wer warum in welcher Schiene läuft oder nicht läuft, wer warum welchen Preis gewonnen oder nicht gewonnen hat bzw. gewinnen hätte sollen, binnen kürzester Zeit müßig – die Blickwinkel und Bedeutsamkeitskriterien der verschiedenen Individuen, Interessensgruppen und Entscheidungsträger schließen sich zumeist aus, die Gräben zwischen den Fronten sind zu tief, es geht um Grundsatzfragen, und auch für diese fehlen Reflexions- und Begegnungsräume, es sei denn, man schafft sie sich selbst, was nicht gerade einfach ist. Palme d’Or für Dheepan? Für manche ein wichtiges Statement. Für andere… Forget it, Jake – It’s Cannes. Im Théâtre Croisette leuchtet vor den Quinzaine-Screenings ein projiziertes Banner, das zur Befreiung des in Russland inhaftierten ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov aufruft. Indes prangt auf nahezu allen Markt-Programmen Werbung für russische Blockbuster in spe, Animationsfilme, Kriegs- und Actionspektakel, die Investoren erheischen, eine nationale Kinoindustrie, die sich zum großen Feldzug ins Publikumsbewusstsein rüstet und hier eine dankbare Vermarktungsplattform gefunden hat. Aber das gehört eben zum „wirtschaftlichen“ Teil von Cannes und nicht zum „politischen“, ebenso wie die ausufernde Dekadenz einem anderen Universum entspringt als die „ethischen Smokings“ von Thierry Frémaux oder das Prestige-Prädikat des Programms. Wo liegt der Brennpunkt dieser Energiefelder? Sie scheinen einander gegenseitig zu bedingen, erst im Verbund machen sie diesen Ort zu einem Magneten für die Mächte des Weltkinos, die dann in den Hinterzimmern des Festivals (was gar nicht verschwörerisch klingen soll; in den Vorzimmern ist schlichtweg kein Platz mehr) Produktionen in die Wege leiten, die irgendwann im Wettbewerb laufen werden. Cannes reproduziert sich selbst.

Und doch wird man das Gefühl nicht los, das dieser ganze spektakuläre, strukturlose Trubel mit seinem blendenden Similiglanz, dieses pompöse Pandämonium aus aufgedonnerten Stars und Starlets, Schaulustigen auf Klappleitern, überforderten Cinephilen, gehetzten Presseagenten, Journalisten auf Interview- und Kontroversenjagd, trinkseligen Jurysitzungen, Cocktail-Empfängen und Strandfeten, Hupkonzerten und Menschenschlangen, schlaflosen Nächten und verkaterten Morgenstunden, surrealen Q&As und Konferenzen – dass dieser ganze Schall, Rauch und Wahn dem Kino doch etwas bringt, weil irgendwo mittendrin eine Handvoll formal radikaler Filme eine ungeahnte Öffentlichkeit erfahren, eine Öffentlichkeit, die ihnen sonst niemals zuteilwerden würde, Filme von Miguel Gomes, Šarūnas Bartas oder Apichatpong Weerasethakul, in den Nebensektionen zwar, aber dennoch in Cannes, und somit auf dem Wellenkamm von Cannes mitreitend, Richtung anderer Festivalufer, mit ihrem schwellenden Ruf bereits überschäumend in die Erwartungsbecken der globalen Kinokultur, ein Hype, und wie jeder Hype etwas aufgesetzt, aber nicht unbedingt falsch, nicht unbedingt schlecht bei schwierigen, sperrigen Filmen, nach denen ohne Hype kein Hahn krähen würde, Filme, über die ich hier nicht schreibe, weil ich sie erst von Cannes trennen muss, um sie wirklich zu sehen.

 

Die Sehnsucht nach Bewegungslosigkeit im Kino

Ein Text, der von der Bewegungslosigkeit des Kinos sprechen will, muss natürlich voller Widersprüche sein. Denn nicht zuletzt ontologisch betrachtet, besteht das Kino aus Bewegung: Bewegung des Films, Illusion der Bewegung auf der Leinwand, Bewegung in unseren Herzen. Serge Daney hat Film mit dem vorbeiziehenden Himmel verglichen: Die Wolken sind die Figuren, die vom Off-Screen beleuchtet werden. Selbst wenn man im digitalen Zeitalter durchaus einen Unterschied feststellen muss, so bleibt doch dieser unendliche Drang nach Bewegung, die Idee, im Dunklen sitzend die Welt zu umreisen. Nicht zuletzt arbeiten technische Entwicklungen wie 3D genau an dieser Illusion. Aber in der eigenen Bewegungslosigkeit einen sich bewegenden Spiegel zu suchen, ist bereits ein Paradox. Darin liegt die Illusion begründet, eine Lüge, aber auch eine Hingabe, bei der man gibt, indem man vertraut. Und es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass man sich selbst beim Betrachten eines Standbildes oder einer Fotografie emotional bewegt, dann fließt man nicht mit dem Strom einer Folge von Bildern, sondern kann sich tief im Bild verlieren, an den Rändern suchen, in den Texturen schwimmend, alles bleibt eine Bewegung. Und genau das ist eine Sehnsucht vieler großer Filmemacher. Denn sie wollen ihre Bilder festhalten, die Zeit festhalten, nicht verlieren, was eigentlich zur Flüchtigkeit verdammt ist. Mindestens soll aber die Dauer manifest werden. Zum einen kann etwas immer wiederkehren, wenn es einmal gefilmt ist (so der Legende nach die Inspiration von Steven Spielberg, der einen Crash zweier Modelleisenbahnen als Kind festhalten wollte, damit er es immer wieder sehen kann), zum anderen kann es sich unendlich in der Zeit entfalten. Es geht hier also um eine im Projektor, in den Pixeln und im Kopf bewegte Bewegungslosigkeit.

L'Avventura Antonioni

L’Avventura von Michelangelo Antonioni

Und dann beginnt ein Kampf gegen die Flüchtigkeit der Bilder, der Erinnerung, dieser ewige Drang der nächsten Einstellung, die im Kino lauert, die oft erst die Poesie oder Bedeutung generieren kann: Das nächste Bild, ein unbekanntes Bild, das bei seiner Geburt logisch oder irritierend wirken kann, aber immer am vorherigen Bild arbeitet, obwohl es selbst schon lange heimgesucht wird von einem weiteren nächsten Bild. Wenn man jeden Tag an Filmen arbeitet, dann spürt man womöglich eine Erschöpfung der Bilder, gleich der erschöpften Liebenden, die nur mehr in ihrer umschlungenen Haltung verharren können, eine Bewegungslosigkeit, die man im Kino fast nie sieht, aber die in den Rhythmus der Bilder eingeschrieben ist. Ein Durchatmen, ein erschlaffen, gemeinsam zwischen Auge und Bild.

Nun gibt es einige unhaltbare Versuche, die Sehnsucht von Filmemachern nach einer absoluten Art des Sehens (die, die sich Zeit für das eine Bild nimmt), unter gemeinsamen Begriffen zu fassen. Einer der schlimmsten dabei ist „Slow-Cinema“, weil er genau diesen Widerspruch zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit aus dem Kino verbannt und so tut, als würde sich das Kino langsamer bewegen, wenn Bilder länger stehen. Nur, weil eine Fingerbewegung im Kino mindestens genauso viel Kraft haben kann wie eine Armee, ist dieser Widerspruch möglich. Es wird von einer Rebellion gegen die immerzu beschleunigte Welt der glatten Oberflächen gesprochen, Kino als Antwort, als Lehre des Wiedersehens und Wieder Sehen Könnens. Aber auch kann man von einem inneren Zustand sprechen, in dieser Zeit der Unsicherheiten und Unklarheiten, in denen Vergangenheit, Gegenwart, Traum, Realität, Bild und Schlaf schon lange in ein einziges Aussetzen ihrer Deutlichkeit eingetreten sind, ein schwarzes Loch, das nach zwei Dingen sucht: Sicherheit und Gefühl. Und dafür will man nur noch schauen und trotzdem ans Ziel kommen. Die Bewegungslosigkeit ist ein Weg an dieses Ziel, denn in ihr gibt es weniger Differenzen. In diesem Sinn ist das Kino also keine Rebellion sonder eine Deskription. (Eine Alternative über die man auch schreiben könnte, liegt in der Hyperbewegung bei Philippe Grandrieux.) Es gibt jene Differenz des Blickenden und des Angeblickten, aber es gibt auch eine bewegungslose Pose, die den Darsteller von seiner Darstellung befreit, die ihn von sich selbst befreit sogar. Wer ist man nämlich, wenn man posiert? Wer sind diese starren Gestalten am Ende einer Szene bei Fassbinder? Wer sind die Liebenden in Antonionis L’Avventura? Gibt es sie? Schaut man sich zum Beispiel den Film Now, Voyager von Irving Rapper an, wird man feststellen, dass sich der Gang, die Bewegung von Bette Davis im Lauf (im ewigen Lauf) des Films verändert, es ist ein Machtgewinn, in dieser Bewegung liegt der Ausdruck und der Eindruck ihres Selbstbewusstseins. Sie lebt in einem Hier und Jetzt, das im zeitgenössischen Kontext eigentlich nur eine Illusion sein kann. Wenn sich jemand nicht bewegt im Kino ist er/sie in der Regel tot. Aber dennoch ist er/sie präsent. Oft erwischt man sich, wie Bitomsky schreibt, wie man nach der Bewegung der Toten im Film sucht. Das Pochen einer Halsschlagader, ein leichtes Zucken, ein sich erhebender Bauch…als würde uns die Bewegung Sicherheit geben oder vielmehr eine Kontrolle über den Film. Hier liegt eine Sehnsucht nach Bewegungslosigkeit, weil wir von einer Lücke sprechen zwischen der Darstellung und der Realität. Und diese Sehnsucht lässt uns weitaus genauer blicken, als wir es eigentlich tun würden. Darin versteckt sich womöglich das Potenzial einer Sinnlichkeit, die damit zu tun hat, dass wir selbst lebendig werden wollen. Man muss sich nur diesen unvergesslichen Wimpernschlag in Chris Markers La Jetée vor Augen führen, jenes Erwachen der Bilder, Bilder, die nie wirklich lebendig waren und nie wirklich tot. Hierin liegt der Moment des Verliebens begraben, genau jener Impuls von der Bewegungslosigkeit (der Herzschlag setzt aus, man wird vom Blitz getroffen, man ist blind…) zur absoluten Bewegung, die in sich nur wieder verharren will (die Liebenden nach dem Sex, der Kuss, die Umarmung, die Zeit, die nie vergehen darf…). Wenn ich also in mir und auch in einigen anderen Filmemachern den Impuls spüre, der von der Bewegung zurück zur Bewegungslosigkeit will, dann hat das mit der Suche nach der Unschuld zu tun. Man will wieder jene erste Bewegung sehen, die Ingmar Bergman in seiner Autobiographie so schön beschreibt, jenes Wunder, jenes Verlieben, den Beginn der Zeit des Kinos. Der erste Mensch, der über eine Leinwand läuft. Er kann nur aus der Bewegungslosigkeit stammen.

Chris Marker

La Jetée von Chris Marker

In Cavalo Dinheiro arbeitet Pedro Costa exakt in diesem Zwischenreich aus Bewegung (Leben, Erinnerung, Gesellschaft) und Bewegungslosigkeit (Sterben, Vergessen, Gesellschaft). Er beginnt seinen Film mit Fotografien, die später wie das Echo einer anderen Welt der Bewegungslosigkeit wiederkehren, die uns in ihrer Starre verfolgen und mit den Masken, Statuen und gefrorenen Einstellungen des Films harmonieren. Einmal filmt Costa eine sterbende Hand, zitternd und kreiert damit ein weiteres Echo zu Alain Resnais Hiroshima, mon amour, einem Film, der die Bewegungslosigkeit und die Bewegung, ja die erschöpften Liebenden, das ultimative Ende und den Beginn der Zeit in sich trägt. Wann dieser Film begonnen hat und wann er endet, kann keine Rolle mehr für uns spielen. Er beginnt mit seinem Ende und endet mit seinem Beginn. Edvard Munch hat gesagt: Ich bin sterbend geboren. Er hatte Recht. Die Bewegung ist nicht echt. Zusammen mit Alain Robbe-Grillet hat Resnais auch in L’Année dernière à Marienbad an dieser Bewegungslosigkeit, ob dem Zwischenreich der Erinnerung und der Realität gearbeitet, aber weitaus sinnlicher und damit sehnsuchtsvoller ist Robbe-Grillet dieser Widerspruch in seinem L’immortelle gelungen.

Unsterblichkeit hängt an dieser Bewegungslosigkeit, eine eingefrorene Zeit als einzige Chance auf Unendlichkeit? Doch kann man in diesen Statuen das Licht einer Lebendigkeit, ja sogar einer Echtheit finden? Vielmehr scheint dieses Prinzip der Wiederholung, der wiederkehrenden Bilder tief mit der Illusion (und der Sinnlichkeit dieser Illusion) verwurzelt zu sein, ein Land der Träume, eine tickende Uhr, die wieder beginnt und wieder beginnt und wieder beginnt. Vielleicht ist es kein Beginn, sondern ein ständiges Aufhören, ein Aussetzen, ein Zweifel an der eigenen Funktionalität. Man hat das Gefühl, dass die Zeit hier selbst reflektieren muss. Sie ist immer weitergelaufen, aber unter welchen Vorzeichen? Kann das heute noch relevant sein? Eine Erschütterung der Zeit (man sagt, dass die Zeit mit dem 2. Weltkrieg erschüttert wurde und das ist auch richtig, aber ist sie heute vielleicht sogar völlig überschüttet?) bedeutet gleichermaßen eine Erschütterung des Kinos.

Hiroshima, mon amour

Hiroshima, mon amour von Alain Resnais

Also gibt es die Bewegungslosigkeit nur im Angesicht einer aussetzenden Zeit, eines Zweifels gegenüber der Realität, der in den zahlreichen Geister- und Zwischenwelten des modernen Kinos stattfindet? Nein, denn die Bewegungslosigkeit ist auch ein Schatten der Banalität und Erbarmungslosigkeit der Zeit. Je, tu, il, elle von Chantal Akerman und It’s Keiko von Sion Sono arbeiten mit dieser erdrückenden Bewegungslosigkeit (Liegen, Starren, Sitzen, Liegen, Starren, Liegen, Sitzen usw.) vor dem Hintergrund einer brutalen Uhr, die einem nichts sagt, die nur, seit ihrem Beginn der Countdown zum Tod ist. Doch Count-Down ist ein falsches Wort, denn hier zählt nichts runter…vielmehr geht es immer weiter und man kann nur zusehen wie die Uhr tickt. Mit schmerzvoller Sehnsucht wie bei Akerman oder ironischer Leere wie bei Sion Sono, der seine Protagonisten fröhlich die Zahlen einer Minute mehrfach singen lässt. Die Bewegungslosigkeit macht im Kino erst die Zeit bewusst. So auch in Bergmans Hour of the Wolf, in der eine der wenigen Bewegungen dem Zeiger der Uhr gilt. Da sich dieser Zeiger immer bewegt, egal ob wir ihn sehen oder nicht, zeigt sich erneut, dass es keine reine Bewegungslosigkeit geben kann in einem Medium der Zeit. Aber es gibt ein inneres und äußeres Nichts, ein Pausieren, eine Flucht oder Abkehr von der Welt. Oder eben jenes Warten, das bei Akerman und Sion Sono zu- und niederschlägt, ein Warten, dass dann zu einer Bewegungslosigkeit und zugleich Hoffnungslosigkeit wird, wie auch bei Béla Tarr oder Sharunas Bartas. Jacques Rancière hat sich mit Blick auf das Kino von Tarr gefragt, welches Geheimnis in einer Minute (des Wartens) liegt. Er schreibt von einer Koexistenz der Handlungen, die unter dieser Dauer ablaufen. Da ist also wieder die Tiefe dieser Bewegungslosigkeit, die einen Raum öffnet, statt ihn beiseite zu wischen. Die Bewegungslosigkeit wäre also auch die Zeit nach der Geschichte und wenn Bewegungslosigkeit gleich einer Hoffnungslosigkeit ist und Rancière schreibt, dass Filme nicht von Hoffnung handelten, sondern Hoffnung seien, dann wird auch klar, dass Filme Bewegung sein müssen. Aber wohin in oder mit dieser Hoffnungslosigkeit?

L'immortelle von Alain Robbe-Grillet

L’immortelle von Alain Robbe-Grillet

Eine interessante Lösung im Zeitalter der Geister, die bereits zu Phantomen ihres gespenstischen Mythos geworden sind, ist die Kreisbewegung, ja die Wiederkehr. Sogar das Blockbusterkino hat diese Wiederkehr entdeckt, sei es die banale Feststellung in George Millers Mad Max: Fury Road, dass man nicht immer weiter sinnlos in die Hoffnung fahren sollte, sondern lieber zurückfahren sollte oder sei es in Doug Limans Edge of Tomorrow das ständige Durchexerzieren einer vorbestimmten Zukunft, die nur durch eine immerwährende Wiederkehr verändert werden kann (man denke in diesem Zusammenhang auch an Christopher Nolans Inception und Interstellar). Ist die rückwärtige Bewegung also ein Versuch der filmischen Sprache, gegen die Bewegungslosigkeit zu kämpfen? Es gibt kein Ziel außer das Überwinden der Bewegungslosigkeit, die in beiden Filmen mit einer rasenden Geschwindigkeit offenbart wird, als wäre Sisyphos auf Speed. Oder sind es etwa die Blicke bei Filmemachern wie Bartas, Costa, Hitchcock (der hat sich hier nicht verirrt, sondern der ist hier geboren) oder Claire Denis, die eine Bewegung in der Sehnsucht bewegungsloser Augen finden? Schließlich braucht man Bewegungslosigkeit, um Bewegung sichtbar zu machen. (man denke an die Wolken in The Aviator von Martin Scorsese). Erst der eingefrorene Körper lässt uns die Schönheit seiner Bewegung erahnen, weil die Bewegung sich ständig selbst verflüchtigt. Denkt man an die widerkehrenden Bilder bei Robbe-Grillet erahnt man ihre Verbindung zu dieser Frustration der Bewegung. Immer wieder in L’immortelle sehen wir eine Einstellung vom Meeresufer in Istanbul. Und dennoch zeigt sich in der Wiederkehr dieser Einstellungen, in den Bildern, die wir öfter sehen ein gewisses Misstrauen, wir zweifeln, wir erhöhen unsere Konzentration, denn wir sind trainiert und dumm: Wenn wir ein Bild öfter sehen, dann hat es eine besondere Bedeutung, glauben wir und verstehen ganz automatisch Kino als Narration statt als Leben. Robbe-Grillet hat gesagt, dass genau das Gegenteil der Fall wäre. Wenn man etwas öfter sehen würde, würde es an Bedeutung verlieren.

Je, tu, il, elle von Chantal Akerman

Je, tu, il, elle von Chantal Akerman

Die Kreise, die durch Zeit und Ort laufen, verweisen auf eine Nahtlosigkeit, die nicht den nötigen Widerspruch zulässt zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit, das Potenzial zur Befreiung schwindet in dieser narrativen Strategie und dennoch wird das Gefühl einer Befreiung evoziert, weil man sich besinnt, weil es eine Weisheit ist, dass man manchmal zurückgehen muss, um vorwärtszugehen. Aber das filmische Pendant dazu, der Vertigo-Effekt, erzeugt einen Schwindel, der darauf verweist, dass man diese Bewegung nicht mehr aushalten kann. Man wird ohnmächtig und bewegungslos. Auch Vertigo spielt in einem Zwischenreich. Hitchcock verleitet das Bild und den Blick zu einer Starre, die den Tod hervorzaubert, um ihn dann als Illusion und Grausamkeit zu entlarven.

Eine weitere Lösung ist die extreme Verlangsamung der Bewegung, eine Art Kompromiss wie in den Walker-Filmen von Tsai Ming-liang. In seinem neuesten Werk No No Sleep verbindet sich diese Entschleunigung wie so oft mit dem Verlangen einer Einsamkeit. Aus dieser Einsamkeit entsteht dann Aufmerksamkeit. Das Licht ist in Bewegung, aber es ist auch still (so wie die Wasseroberfläche des Bades im Film) beziehungsweise die Bewegung des Lichts wird erst durch die Stille des Bildes sichtbar. Bewegungslosigkeit im Kino meint also nur einen bestimmten Rhythmus der Bewegung. Ich habe immer jene Filmemacher bewundert, bei denen man sich in diesem Rhythmus wohl fühlt, die eine Präsenz schaffen, eine Präsenz, die Bewegungslosigkeit in tausende Regungen zerfallen lassen kann, in denen der Drang zur Bewegung, zur Liebe und zur Befreiung offenbart. Wir sprechen hier weniger von denkenden Bildern als von fühlenden Bildern. Daher ist Kontemplation auch ein falscher Begriff, da hier oft kein Platz mehr ist für eine Reflektion. Es ist die Präsenz der Bewegungslosigkeit. Apichatpong Weerasethakul ist ein Meister dieser Präsenz, die sich vom Potenzial einer Bewegung füttern lässt. Bresson, ein großer Meister der Regungen, Zuckungen und sehnsuchtsvollen Begierden, die aus seiner Bewegungslosigkeit eine Bewegung machen, schreibt: beautiful in all the movements that he does not make (could make).

Kim Novak Hitchcock

Vertigo von Alfred Hitchcock

Man könnte also sagen, dass die Sehnsucht nach der Bewegungslosigkeit im Kino nichts anderes ist, als das Verlangen nach der Wahrheit einer Bewegung, der Wahrheit des Kinos selbst, die immer zugleich Illusion (der Wind) ist und Realität (das abgefallene Blatt, reglos zwischen den Fingern eines toten Soldaten). Hinter dieser Sehnsucht versteckt sich vielleicht auch die Frage: Warum bewegen wir uns überhaupt? (Dante: Love moves the sun and other stars)

Time Through His Hands: Seven Invisible Men von Šarūnas Bartas

Es ist eine kalte Nacht, nasse Augen wachen. Eine Gruppe von Autoknackern, die wir praktisch nie in derselben Einstellung sehen werden, eröffnet die Einsamkeit in Seven Invisible Men von Šarūnas Bartas. Der Film wird als Ausnahme im Oeuvre des Filmemachers gesehen, denn es wird ein bisschen mehr gesprochen als gewöhnlich und vor allem gibt es durchaus Genreelemente. Im Kern aber handelt Seven Invisible Men von der gleichen Ratlosigkeit und Ziellosigkeit, die das außerordentliche Werk des litauischen Filmemachers immer wieder heimsuchen. Man könnte den Film als einen Roadmovie verstehen, einen Roadtrip als Flucht, als Flucht ins Nichts, in ein Nichts zwischen Heimat und Identitätslosigkeit. Lichtpunkte dämonisieren die Nacht in den ersten Minuten, in denen man alles spürt, ohne dass man auch nur irgendeine sogenannte Information bekommt. Die Dringlichkeit, die Armut, die Anspannung, die Überzeugung und die Angst im Umgang mit dem Diebstahl. Dann gibt es einige Schauplatzwechsel. Bartas gibt sich für wenige Augenblicke seiner aus Freedom bekannten epsteinesquen Faszination für die Bewegungen des Ozeans hin, Wellen, die sich verwandeln, die das Meer verwandeln oder einfach nur Bewegung sind. Es ist ein Film der Bewegungen, die kommen und gehen, die wieder zurücklaufen, die auch rückwärts laufen könnten. Kurz darauf ein Vogelschwarm in der Steppe, später sehen wir Sand durch Finger rinnen. Alles ist eine poetische und materielle Sinnlichkeit, die durch ihr Aussehen etwas Greifbares bekommt. Man findet sich ähnlich wie in Victor Kossakovskys Belovy am Ursprung einer Welt und an ihrem Ende zugleich. Das Verlassene ist auch das Verlorene, das Verlorene ist auch das Ewige und das Ewige ist auch das Sterbliche.

Bartas Seven Invisible Men

Wie in jedem Bartas-Film strömt auch hier weißes Licht durch die Fenster. Menschen stehen in diesem Licht, weil man in ihm die Wahrheit sieht. Viele Einstellungen scheinen auf dieses Besondere, Einmalige zu warten, sie scheinen es anzuziehen. Ein kleines Spiel mit dem Licht, eine unerwartete Bewegung, ein Blick, der mehr sagt als jede Dramaturgie. Darauf zielt Bartas, so scheinen seine Einstellungen aufgebaut zu sein. Immer wieder gibt es Totalen, die zugleich wie ein Atemzug und ein Hammerschlag zwischen die Gesichter treten. Der Film spielt auf der Halbinsel Krim, darin liegt eher eine metaphysische denn eine politische Bedeutung. Allerdings wird aus dem Metaphysischen bei Bartas etwas Politisches, wenn die poetischen Bilder einer verlassenen Landschaft auch als soziales Milieu einer beständigen Verlorenheit agieren und von einer gespiegelten Schönheit berührt werden, gespiegelt, weil wir sie sonst nur in den Augen der Verbrecher wieder finden. Worin liegt die Funktion? Worin liegt der Sinn? Eine zugleich philosophische wie auch politische Frage, die bei Bartas zu einer notwendigen Formulierung wird. Er filmt die verlangenden, hungrigen und verdursteten Gesichter und erzählt mit seinem Blick etwas über die Sterblichkeit und über die Machtlosigkeit. Wie bei Pieter Bruegel d.Ä. werden seine Gesichter und Handlungen trotz ihrer Rauheit und Überforderung von einer fast heiligen Würde beseelt, Bartas glaubt nicht zwangsläufig an das Gute im Menschen, aber er glaubt an die Schönheit und Vollendung der Traurigkeit, der Schwächen und der Abhängigkeiten. Dabei ist er ständig auf der Suche nach einem wahren Ausdruck, der genauso zerbrechlich und verloren ist wie jener der Figuren. Bartas offenbart nicht nur eine Welt oder deformiert sie teuflisch (wie man das beispielsweise Ulrich Seidl vorwerfen könnte), er ergreift sie, indem seine Bilder von dieser Welt ergriffen werden, ein Griff ohne Mitleid oder Überlegenheit, sondern eine Begegnung, bei der kein Bild weiß, was es sehen wird, kein Anthropologe analysiert, was das bedeutet, sondern das auf das reagiert, was sichtbar und unsichtbar im Äußeren zum Vorschein tritt.

In all der Zwecklosigkeit entsteht eine Gewalt. Sie liegt zunächst in der Erwartung, in den versteckten Waffen, den harten Gesichtern und ihren Blicken ins Off, ihren Reaktionen aufeinander, vielleicht schlagen sie gleich zu? Bartas verlegt zwar nicht die Wirkung der Gewalt ins Off, aber ihr Ursprung liegt für ihn zwischen zwei Bildern. Zwei männliche Gesichter, zwei Frauengesichter, es gibt Verzweiflung, Neid, Eifersucht. Es ist immer der Blick auf den Anderen, der hier zur Gewalt wird. Jeder Gegenschuss ist eine Zielscheibe. Irgendwann führt Bartas eine Analogie zu den zahlreichen Tieren im Film ein. Ein Warten, ein Erschrecken, ein Getötet werden, ein Schlafen, ein Kampf. Damit verliert sich Seven Invisible Men jedoch nicht in einer plumpen Metaphorik, sondern setzt vielmehr auf die Gleichzeitigkeit der Dinge, auf die Gleichgültigkeit der Welt. Dort könnte man wieder eine Verbindung zu Bruegel ziehen, auch wenn Bartas die Menschen durch die seinem Medium geschuldete Zeitlichkeit durch Montage trennt, während Bruegel sie in einem Bild darstellt. Dennoch passieren hier und dort die Dinge gleichzeitig, sie passieren vielleicht so, dass sie kaum Bedeutung für das Gesamtbild zu haben scheinen.

Seven Invisible Men5

Wenn es einen großen Unterscheid zu Bartas vorherigen Filmen gibt, dann liegt der an manchen Eindeutigkeiten, die er sonst eher vermieden hatte. So wird unmissverständlich klar, dass der Hof, auf dem die zweite Hälfte des Films spielt zur Familie des Protagonisten gehört, dass dort seine Tochter ist. Die Kriminellen flüchten dorthin und sie versinken in dieser endlosen Steppe und im brutalen Rausch ausufernder Besäufnisse, die eine Verzweiflung freilegen, die weit größer ist als die Fragen nach Familie oder Verbrechen. In dieser Rückkehr und der Sprachlosigkeit ob dieser Rückkehr, liegen Parallelen zu Lisandro Alonsos Liverpool. Es geht hier nicht um die Heimatkonflikte, die man aus den meisten deutschen Filmen kennt, also nicht um eine intellektuelle Idee von Identitätsproblemen, hier geht es um das körperliche Gefühl, das keiner Idee folgen kann. Es verlangt, liebt und sehnt sich im gleichen Atemzug, wie es sich völlig fremd vorkommt und nicht kommunizieren kann. Man kann es nicht greifen, weil es wie der Sand durch die Finger rinnt und wie die Wellen ständig seine Erscheinung ändert. Es geht um eine Zerrissenheit, nicht weil die Dinge sich verändern, sondern weil es solche gibt, die beständig sind. Und sei es die Veränderung, die beständig kommt. Zwischen dem tragischen Gesang (eine erstaunliche Darstellung vorschriftlicher Kunstüberlieferung), der Poesie des Gelages fällt die offene Verzweiflung eines Mannes in das Auge und die Ohren der Zuseher. Niemand will und kann ihn hören, es wird sogar über ihn gelacht. Eine außerordentliche Einsamkeit entsteht, die nichts damit zu tun hat, dass die Figuren alleine sind, sondern vielmehr damit, dass sie in sich selbst sein müssen. Deshalb sind die Momente des Friedens im Film auch jene, in denen man durch Sehen (Fotografien, Frauen, Natur) oder Hören (Herzschlag, Schüsse, Gesang) sein Inneres verlassen kann.

Wie Post Tenebras Lux von Carlos Reygadas ist Seven Invisible Men auch ein Film über den Übergang von Tag und Nacht, ein Musical zum Rhythmus einer Hoffnungslosigkeit, lass uns Tanzen bis wir untergehen. Die anhaltende Dämmerstimmung bringt entweder den Frieden einer unschuldigen Bewegung, die eine Oase entstehen lässt, wie Nuri Bilge Ceylan in seiner Teeszene in Once Upon a Time in Anatolia oder in der völligen Vernichtung und Aussichtslosigkeit, dem Feuer, das wie in Offret von Andrei Tarkwoski nicht nur ein Haus beendet, sondern eine ganze Welt. Meist sind die Oase und die Vernichtung in der gleichen Szene, so wie wenn die junge Tochter von der älteren Frau in einem orangen Licht gesäubert wird und aus eben jenem orangen Licht das tödliche Feuer entsteht. Oder jener bizarre Moment, indem die Frau während sie ausgezogen wird, ihren Mittelfinger in Richtung Kamera richtet, dann ein Victory-Zeichen macht und wieder den Stinkefinger zeigt. Es scheint in Richtung Bartas zu gehen.Ein merkwürdig reflexiver Moment, der in sich jedoch vom gleichen Leiden am Schönen durch den Blick der Kamera, von der Schönheit des Leidens und der Nähe und Offenbarung erzählt, die so schwer herstellbar ist und die doch jede Minute Film von Bartas zu durchziehen scheint.  In dieser Nacht bei Bartas kann man nur in den Augen erkennen, was ihr zum Tag fehlt, aus Mangel an besseren Worten würde ich es Liebe nennen. Aber das Verlangen dieser Augen ist sterblich.

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