Das Meer bei Šarūnas Bartas und bei Jean Epstein

In Freedom von Šarūnas Bartas ist der Anblick und das Geräusch des Meeres ein bitteres Versprechen, die untergehende Sonne brennt mit ihrem roten Atem über die Ufer einer Welt, die, das wird im Lauf des Films spürbar, einem Gefängnis gleicht. Dabei findet Bartas immer wieder Einstellungen des Meeres, die es zu einem mysteriösen Reich werden lassen, mit Formen, die wir nicht verstehen und Wellen, die an der Zeit kleben und sich gleich einem Schwarm durch dieses Wasser kämpfen. Das Rauschen ist derart penetrant, dass man es selbst im Hinterland, den Geröllwüsten des Films noch vernehmen kann. Nach einer Zeit wird klar, dass diese Bilder, die man leichtfertig mit Freiheit und Aufbruch assoziiert, in Wahrheit ein Gefängnis und eine Qual sind. Man fühlt sich schlaflos am Meer, weil man das Rauschen nicht ertragen kann. Es geht immer weiter, wie ein dösendes Summen im Hinterkopf.

Le Tempestaire2

Le tempestaire von Jean Epstein

In Jean Epsteins Le tempestaire ist die Magie des Ozeans keine Sache der Imagination oder Erwartung. Herrscher über die Stürme kontrollieren die Flut. In einer Kristallkugel verlangsamen sie und lassen das Meer rückwärts laufen. Sie sind in Wahrheit Filmemacher, die jene Zeit manipulieren, die der Motor für jene salzigen Wiesen sind, die gegen die schroffen Felsen brechen. Schon zu Beginn wird das klar, wenn Epstein dasselbe mit seinen Figuren macht und sie aus Standbildern entstehen lässt, wie ein Gott der Zeit mit dem sinnlichen Gefühl einer leichten Brise des ersten Atemzugs. Sowohl Bartas als auch Epstein interessieren sich für die Mechanismen des Meeres und das Leben im Laugenduft der Algen. Sie zeigen das Brachland eines vom Wasser verlorenen Bodens (Die Figuren bei Bartas wandern durch die Wüste einer Ebbe und gehen in einer unfassbaren Szene mit der Flut in Richtung Ufer.) und die Dynamik des Wellenspiels und des Lichts, das auf dem Wasser in tausend Teile zerbricht. In beiden Fällen ist das Meer Hintergrund für einen existenziellen Überlebenskampf. Beide thematisieren damit Emotionen beim Blick auf das Meer, das in vielerlei Hinsicht genauso arbeitet wie das Kino. Bewegung, Licht, Ton und eine Unsicherheit gegenüber den Kräften, die von diesem Wasser ausgehen und die dieses Wasser beherrschen. Beide Filme sind nicht nur Filme über das Meer sondern auch über den Wind am Meer.

Freedom2

Freedom von Šarūnas Bartas

Doch in beiden Filmen ist das Meer beziehungsweise der Wind eine Bedrohung, ein Gefängnis, eine Angst. In Freedom wird das Meer zu einem Sinnbild für politische Grenzen einer hoffnungslosen Flucht, aber einer derart erhabenen Grenze, dass man sich fragen könnte, ob es nur an unserer Wahrnehmung dieses Wassers liegt, dass es so tödlich sein kann. Gleich zu Beginn fallen Schüsse auf dem offenen Meer. Es wird kontrolliert. Doch nicht von mysteriösen Magiern und moralischen Poeten wie bei Epstein sondern von Gesetzeshütern. In einer traurigen Szene müssen wir machtlos zusehen wie Vögel losfliegen. Man selbst kann das nicht. Bei Epstein hängt das Meer an einer regionalen Folklore und am Aberglauben, bei Bartas umspannt es die ganze Welt. In beiden Fällen zeigt es ein Potenzial des Kinos an, das weit über dessen narrative Ideologien hinausreicht. Jeder Filmemacher sollte wenigstens einmal das Meer gefilmt haben, denn es scheint mir eines der wenigen Bilder zu sein, die sich nicht wiederholen können, da das Meer immer etwas anderes ist.

Gustave Flaubert (November)
„Ich stieg eilends zur Meeresküste hinab, mit sicherem Sprung über Geröll hinwegsetzend. Ich trug den Kopf hoch voll Selbstgefühl, ich atmete stolz die frische Brise, die den Schweiß in meinen Haaren trocknete. Der Geist Gottes erfüllte mich. Ich fühlte, wie mein Herz sich weitete. In einer merkwürdigen Erregung betete ich etwas an; ich hätte mich im Sonnenlicht auflösen und in der azurnen Unendlichkeit verlieren mögen, mit dem Duft, der von der Fläche der Fluten stieg.“

Faces pt1 (in thought)

In between is hell

A Casa2

A Casa-Šarūnas Bartas-1997

Seven5

Se7en-David Fincher-1995

Nenette et Boni3

Nénette et Boni-Claire Denis-1996

climates2

İklimler-Nuri Bilge Ceylan-2006

Mirror

Зеркало-Андре́й Арсе́ньевич Тарко́вский-1975

Ivan the Terrible

Иван Грозный-Сергей Михайлович Эйзенштейн-1944

Three Days5

Trys dienos-Šarūnas Bartas-1992

La vie nouvelle5

La Vie Nouvelle- Philippe Grandrieux-2002

The Godfather Part 21

The Godfather-Francis Ford Coppola-1972

Anatolia

Bir Zamanlar Anadolu’da-Nuri Bilge Ceylan-2011

Earth

Земля-Олександр Петрович Довженко-1930

Stalker7

Сталкер-Андре́й Арсе́ньевич Тарко́вский-1979

 

Die Bedeutung des Verzichts im Film

Ich glaube, dass die Radikalität eines Verzichts in der filmischen Sprache heute von einer noch zu benennenden Relevanz ist, die zu keiner Zeit als bloßer Formwille oder als Prinzipiendenken abgetan werden sollte. Die Frage, ob ein Film nun etwas sagen und kommunizieren soll, oder ob er eher beobachten soll und somit ein womöglich ethisch haltbareres Verhältnis zur Realität aufbaut, ist inzwischen zu einer Frage zwischen Kommerz und Festival, zwischen Klassik und Moderne im Film geworden. Daran geknüpft findet sich die Frage, ob Film überhaupt eine Aufgabe hat. Es ist klar, dass Filmemacher wie Bruno Dumont (ein expressionistischer Minimalismus), Carlos Reygadas (ein impressionistischer Minimalismus, in dieser Hinsicht ein Bruder von Claire Denis), Nuri Bilge Ceylan (ein Minimalismus der Literatur oder zuvor einer der schweigenden Gesichter), Cristi Puiu (ein realistischer Minimalismus), Jia Zhang-ke (ein elliptischer Minimalismus), Apichatpong Weerasethakul (ein spiritueller Minimalismus) oder Pedro Costa (ein abstrakter Minimalismus) Filme machen, in denen wir nicht alles sehen und hören, was unser Kopf zur Herstellung eines in sich schlüssigen, klassischen Narrativs benötigen würde. Wir sind zurück auf uns selbst geworfen oder aber die Filme geben eine Wahrnehmung der Welt wieder, die sich nicht in eine Nachvollziehbarkeit, sondern eher in Gefühle, Fragmente, Figuren und die Realität dreht.

Still Life Jia Zhang-ke

Still Life von Jia Zhang-ke

Erstaunlich daran ist, dass diese Filmemacher häufig von einem politischen Standpunkt aus betrachtet werden, obwohl oder gerade weil sie sich um eine klare Aussage und Haltung herum winden. Im Verzicht liegt bekanntermaßen bereits ein politisches Moment. Dieses hat sich lediglich auf die Form verlegt (und wird im Inhalt gespiegelt). Das Musterbeispiel bleibt Pedro Costa, der seine Filme als demokratisches Unterfangen etabliert und im Verzicht eine Betrachtung von Menschlichkeit entwickelt. In diesem Sinn wird auch Sharunas Bartas interpretiert. Es heißt, dass durch das Schweigen von allen den Schweigenden eine Stimme gegeben wird. Im Aussparen macht man auf etwas aufmerksam, man betont gewissermaßen, dass etwas fehlt und das ist politisch. Aber ganz so einfach ist das nicht. Oft betrachten die Filmemacher des Verzichts eben auch politische Themen wie Jia Zhang-ke oder Claire Denis. Sie betrachten diese aber anhand des Banalen oder Außergewöhnlichen, auf keinen Fall mit der Idee selbst oder in Form eines Statements. An dieser Stelle sei bemerkt, dass Wang Bing in seinem Le fossé durchaus gezeigt hat, dass Minimalismus auch politisch lauter und deutlicher formuliert sein kann. Das wirkt dann aber aufgesetzt.

Japón von Carlos Reygadas

Japón von Carlos Reygadas

Ihre Wahrnehmung scheint in den meisten Fällen politischer als ihr Inhalt. Es wird erst in der Annäherung an den Inhalt klar, dass es sich dabei um etwas Politisches handeln könnte. Im Verzicht liegt auch ein Respekt vor der Komplexität politischer Vorgänge. Nicht die politische Haltung und Meinung der Filmemacher ist von Interesse, sondern die Realität. Eine objektive Realität ist natürlich nicht herstellbar mit einer subjektiven Sprache, aber das Aufmachen von Lücken und Fragen ist ein ehrlicherer Ansatz, als das forcierte Vertreten einer Position. Das Schwimmende und Unklare, das spätestens seit Michelangelo Antonioni eine gewisse Kontur im Kunstkino bekommen hat, ist ein politisches Statement. Aber es ist viel mehr, denn im Verzicht liegt auch die größtmögliche Hinwendung zur Konstruktion und Illusion von Raum und Zeit im filmischen Bild. Wenn bei Puiu verschiedene Dinge nicht geäußert werden oder wir bei Ceylans Filmen vor Winter Sleep enigmatische Gesichter betrachten, die ihre Emotionen hinter einem Berg aus Reflektion und Persönlichkeit verstecken, wenn sich Räume bei Jia Zhang-ke durch konstruktive Montagen und vor allem den Einsatz von Tiefenschärfe deutlich mehr als seine dieser Umwelt ausgesetzten Figuren erschließen oder Bruno Dumont beziehungsweise Claire Denis an entscheidenden narrativen Stellen eine Ellipse aufmachen, dann wird klar, dass sich die Filmemacher der Verpflichtung einer Fiktion bewusst sind. Sie wissen, dass Film in vieler Hinsicht seine Spannung aus dem „Wann und Was zeige Ich NICHT“ gewinnt. Der filmische Raum wird mir dann bewusst, wenn es ein Off-Screen gibt oder ein Bewusstsein der Richtungen der Realität, in der sich die Kamera befunden hat. Außerdem wird die Illusion derart als solche angezeigt und wir beginnen ihrer Konstruktion zu glauben. Hier beginnt für mich ein filmischer Realismus, in dem Augenblick, in dem ich ein offenes Verhältnis von der Kamera zur Realität wahrnehme und diese Offenheit kann nur durch Verzicht entstehen.

Twentynine Palms Bruno Dumont

Twentynine Palms von Bruno Dumont

Dieser Verzicht kann auch geringer und weniger radikal sein wie zum Beispiel die Rahmungen eines John Fords oder die RKO-Filme von Jacques Tourneur zeigen, denn dort wird nicht ein Gefühl von Verzicht etabliert, sondern lediglich auf das verzichtet, was unnötig erscheint. In dem Moment spricht man dann von einem Handwerk und von einer Notwendigkeit. Dieser Notwendigkeit unterliegt aber ein Verzicht auf das Ausschmückende, das Bombastische, das Prinzipienhafte. Plötzlich wird Film zu dem, was wir nicht sehen. Eine erhöhte Konzentration, ja ein Wiedererlernen des vergessenen Sehens ist nur in diesen Filmen möglich. Natürlich kann man auch in klassischeren Filmen genauer hinsehen, man kann mehr sehen, man kann sie auseinandernehmen. Die Intelligenz dieser Betrachtung geht dann aber zumeist vom Zuseher aus und nicht vom Film selbst. Zugespitzt könnte man formulieren, dass uns Filme wie jene von Claire Denis erst ermöglichen, in Filmen von David Fincher etwas anderes zu sehen als Plot.

Aurora von Cristi Puiu

Aurora von Cristi Puiu

Der zweite Verzicht liegt wie bereits formuliert in der Zeit. Zunächst handelt es sich um einen Verzicht der narrativen Manipulation von Zeit, also ein Spürbarmachen der Zeit. Andy Warhol hat dieses Spiel wohl am weitesten getrieben. Cristi Puiu hat in seinen Filmen einen perfekten Ansatz gefunden, um die manchmal absurden Bewegungen von Figuren in der Zeit zu seinem eigentlichen Inhalt zu machen. Das zeigt auch, dass es im Verzicht nicht um das gehen kann, was passiert, sondern darum, wie es passiert. Und es gibt deutlich spannendere Möglichkeiten etwas über das Wie zu erzählen als über das Was. Der zweite zeitliche Verzicht liegt in der Ellipse, dem Auslassen. Nun erscheint das Fragmentieren zunächst als besonders konstruiert und realitätsfern. Das hängt allerdings damit zusammen, ob man die Realität als subjektive Wahrnehmung oder als objektive Größe versteht. Ohne mich in einen zu philosophischen Diskurs zu stürzen, möchte ich doch behaupten, dass die filmische Sprache einzig zu einer Wahrnehmung der Realität, einer kinematographischen Realität befähigt ist. Einzig im Verzicht ermöglicht sie uns diese Wahrnehmung anzuzeigen und somit deutlich näher an eine Objektivität, nennen wir es im Sinn von Godard Wahrheit heranzukommen. Daran hängt natürlich auch das impressionistische Prinzip der Erinnerung, der Inspiration, der Flüchtigkeit. Das Kino wird davon angetrieben und generiert es im Zuseher. Carlos Reygadas stürzt sich in vielen seiner Filme in solche inneren Bewegungen. Das Erstaunliche bei ihm und bei vielen anderen Minimalisten wie beispielsweise auch Semih Kaplanoğlu oder Sergei Loznitsa ist, dass die Subjektivität in der Betrachtung der Realität entsteht und nicht wie bei fantastischen Filmemachern oder Kommerzmenschen in der Herstellung einer Welt. Nein, Reygadas filmt einfach seine Tochter und drückt damit etwas über sich selbst aus, was uns angeht, weil es eben ein Verhältnis zur Realität hat. Das Ehrliche, Subjektive entsteht bei ihm durch seine Form, also auch durch seinen Verzicht.

Ne change rien

Ne change rien von Pedro Costa

Je radikaler dieser Verzicht, desto mehr macht er auf einen Missstand aufmerksam. Dieser Missstand liegt in der Pornographie der subjektiven Erinnerungen, den Bilderfluten, denen wir uns heute ausgesetzt sehen, den Filmen, Clips und Profilen, die uns alles zeigen, der Tatsache, dass fast jeder Mensch heute seine eigene, geschlossene und schöne Geschichte in Bildern erzählt. Darin gehen Erinnerungen und Wahrheiten verloren. Die Frage heute ist: Töte ich meine Erinnerung oder rette ich sie, wenn ich ein Bild mache? Da das Bild schon lange Zeit die Realität überholt hat, sehen wir oft die gespeicherte Wahrnehmung der Realität vor der eigentlichen Realität. Nun zeigt ein Filmemacher, der sich dieser Flut widersetzt und etwas nicht zeigt, etwas spürbar macht (Tsai Ming-liang wäre hier ein besonders rebellisches Beispiel) und auf etwas verzichtet, dass es sich durchaus noch lohnt hinzusehen. In diesem Hinsehen, dieser erhöhten Bedeutung des Blicks werden dann nicht nur Zeiten und Räume wahrnehmbar sondern auch Gefühle. Dabei sind nicht die theatralen Gefühle eines gelungenen Plottwists gemeint, sondern Gefühle, die in unserer Relation zu den Bildern entstehen. Dies ist gerade in der heutigen Zeit eine große Kunst, da wir natürlich leichter und schneller Gefühle empfinden, wenn wir Bilder sehen, auf denen wir selbst oder Freunde zu sehen sind. Aber die filmischen Bilder des Verzichts lehren uns, dass auch die Bilder selbst Gefühle haben. Wenn ein Film etwas nicht zeigt, dann liegt das auch daran, dass es ihm vielleicht unangenehm war, dass er sich etwas scheut. Die geschlossenen Türen von Pedro Costa, die Unschärfen bei Jia Zhang-ke oder das Nicht-Zeigen bei Claire Denis sprechen alle von einer Zärtlichkeit des emotionalen Einflusses. Wenn Denis den Autounfall in Les salauds nicht zeigt, aber das völlig zerstörte Auto, dann ist das ein Bild, das uns sofort trifft. Es ist ein Bild, das wir kennen, das die Gewalt spürbar macht statt sie einfach zu zeigen und es zwingt uns zum Hinsehen. In diesem Hinsehen verbinden sich dann Imagination, Realität und Erinnerung zu einem Gefühl, das durch Framing, Ton- und Musikgestaltung usw. eine subjektive Wahrnehmung widergibt. So betrachten wir ein Bild, statt es nur mehr zu machen und zu teilen. Es bleibt also keine Überraschung, dass diese modernen Filmemacher sich mit Erinnerungen auseinandersetzen und diese spürbar machen. Warum sollte dies nicht eine der wichtigsten Möglichkeiten von Film im 21. Jahrhundert sein?

Les salauds von Claire Denis

Les salauds von Claire Denis

Kritiker und viele Zuschauer bemängeln, dass sich diese Filme mit Absicht einem Verständnis entziehen. Diese Behauptung kann ihren Grund aus meiner Sicht nur in zwei Dingen haben. Zum einen ist es schlicht die Faulheit einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den Filmen, die bei den Kritikern aufgrund einer alltäglichen visuellen Reizüberflutung zu Stande kommt und bei den Zusehern an einer fehlgeleiteten Wahrnehmung sogenannter Aufgaben von Kunst sowie schlichtem Desinteresse, Ignoranz und Zeitproblemen festzumachen ist. Zum anderen haben sie wohl tatsächlich verlernt hinzusehen, denn in allen genannten Beispielen wird mehr erzählt, mehr gesagt und mehr gefühlt als in jedem Unterhaltungsfilm. Dies ist keine Verneinung von Narration, da alle Filme narrativ sind. Es geht einzig darum, dass unsere bequemlichen Erwartungen an Narration durchkreuzt werden müssen, damit wir einen neuen Raum und eine neue Zeit für etwas Politisches, etwas Persönliches und etwas Filmisches bekommen. Wenn es so etwas wie eine filmische Wahrnehmung gibt, dann muss diese auch nach eigenen Mustern funktionieren, sie muss poetisch sein und notwendig, sie muss verzichten und fließen, sie hat das Bild, den Ton, die Montage, die Erzählung, das Schauspiel und die Kombination all der Dinge, die in all das einfließen. Sie tut gut daran, sich dieser Mittel bewusst zu sein, denn wenn sie nicht verzichtet oder einen ihrer Aspekte ignoriert, wird sie untergehen zwischen all den oberflächlichen Bildern dieser Welt. Denn wo ist sonst der Unterschied?

Few of us von Sharunas Bartas

Few of us Golubeva

In der sich und uns transformierenden Natur in Sharunas Bartas faszinierender Kommunikationslosigkeit Few of us leben die Tofalaren. Diese ethnische Minderheit in Sibirien ist in ihrer Existenz bedroht. Bartas schickt ihnen einen dunklen Engel in Person des in eisiger Schönheit erglühenden Wasserfalls Katerina Golubeva. In den ersten Minuten kreist sie mit einem Hubschrauber über die verlassenen Eisfelder und Berghänge. Ein Blick von oben ohne Destination. Zu Beginn wird so eine Grenze zwischen Mensch und Natur sowie Modernität und Vergangenheit definiert. Es ist ein überlegener, ein romantischer, aber zugleich auch Angst machender Blick. Sich an den Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion bewegend wird Bartas in kontemplativen Bewegungen mit einigen Strategien arbeiten, um ein Gefühl für diese sibirische Landschaft samt ihrer Emotionen zu erzeugen. Golubeva wird landen. Der Hubschrauber sinkt wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt und verschmilzt ganz im Sinn von Merleau-Ponty mit den knarzenden Wipfeln einiger verlassener Tannen. Die Tofalaren nennen sich selbst Tofa. Das bedeutet Mensch. Bartas nähert sich ihnen im Stil eines Ethnographen. Beobachtend, zurückhaltend und doch voller Sensibilität für die Falten in den Gesichtern, das Verlangen der Einsamkeit in den durstigen Augen, die Kälte und den Alkohol. Es wird keine wirklichen Dialoge geben. Nur ein Gemurmel und Unverständliches ganz wie bei Jacques Tati. Grandios dabei ist erneut die Tongestaltung durch Vladimir Golovnitskiy. Schritte, die man nicht sehen kann, erzeugen eine Bedrohung, verkohlte Baumstämme heulen unter der Last einer kalten Sonne.

Few of us Golubeva

Warum sucht Golubeva, die in ihrer ersten Einstellung wie eine Heilige im Schatten gemalt wird, diesen verlassenen Ort auf? Hat sie dort eine Geschichte? Kennt sie dort wen? Ihre Haltung in den von zärtlichen Öllampen beleuchteten Hüten ist zunächst weder feindlich noch freundlich. Sie ist einfach nur da. Der Film provoziert von Zeit zu Zeit eine metaphorische Lesart, die einen allerdings kaum weiterbringen dürfte. Ursprünglich waren die Tofalaren ein großes, nomadisches Volk. Sie lasen in Bäumen über die Geschichte eines Ortes. Bartas macht es ähnlich mit seiner filmischen Sprache. Da gibt es jenen Blick in das Off, der in Parallelmontagen zwischen einer atemberaubenden Umwelt und den Gesichtern ihn ihr, einen poetischen Sog erzeugt, eine Wechselwirkung zwischen den Menschen und ihrer Umgebung. Immer wieder geht der Blick auf etwas, dass wir nicht sehen können. Auf diese Art entwickeln wir eine Neugier, eine sinnliche Faszination am Fremden. Golubeva ist fremd in dieser Welt, die scheinbar ohne Reflektion auf ihren Tod zusteuert, in kreisenden Bewegungen sich selbst auslöschend. In ihrer Rolle zwischen Begehren und Bedrohung erinnert sie ein wenig an Scarlett Johansson in Under the Skin. Denn auch sie ist ein Fremdkörper, der nicht nur vor der Umwelt, sondern auch vor sich selbst fremd zu sein scheint. Statt zu stehen, zittert sie, statt zu sprechen, schließt sie ihre Augen. Aber auch sie beginnt, ins Off zu blicken. Dabei sind ihre nassen Augen nie verbunden mit der Gegenwart dieser Welt. Wie alle Figuren im Film blickt sie durch Raum und Zeit hindurch. Hier ist nichts verbunden, nichts kann sich helfen, die Wahrnehmungen driften aneinander vorbei. Selbst in der Sexualität beginnt eine sich abkehrende Entfremdung oder eine Angst.

Viel mehr gemeinsam hat die deformierende und kontemplative Filmsprache von Bartas mit jener von Lisandro Alonso. Die elliptische auftauchende Sexualität, die Verweigerung einer Offenbarung und die rhythmischen Schocks, die dem beobachtenden Treiben entspringen, zeigen deutliche Parallelen. Es sind die Dinge, die wir nicht sehen, die wir nicht genau sehen, an die wir uns klammern müssen. So schwer fällt es uns, das Fremde zu verstehen. Eine Verlorenheit stellt sich ein, die meditativ wie die ruhigen, rauschenden Gebirgsbäche auf eine Katastrophe zuläuft. Warum begann dieses Volk zu sterben? Ähnlich wie Alonsos zelebriert Bartas auch die Sensation des Raumes und der kleinen Regungen. Ein Zug an einer Zigarette offenbart so einen Ozean. Der Film sucht nach den Seelen seiner Figuren und damit auch ihrer Vergangenheit. Eine nahe Einstellungen auf die von Falten umzingelten, zuckenden Augen eines Tofalaren wird zur körperlichen Erfahrung eines Menschen, die nur in großen Kunstwerken möglich ist.

Few of us Bartas

Es wird von Krankheiten berichtet: Die schwarzen Pocken. Eine fremde Macht. Man kann sich nicht sicher sein, ob diese Krankheit in der Welt von Few of us gerade ausbricht, ob wir Zeuge einer göttlichen Intervention werden. Im Streit um die Weiblichkeit und Sexualität explodiert eine Gewalt, die aus den glühenden und schwitzenden Visagen herausdringt, ohne die Lider der Augen zu bewegen. Es ist fast eine paradiesische Erzählung, nur dass Eva keine Verbindung zu Eden herstellen kann. Am Ende steht aber hier wie dort eine Vertreibung und Flucht. Ein Sterben, das vielleicht gerade erst beginnt. Aber es ist mehr. In langen Einstellungen lässt Bartas seine Figuren in der Landschaft verschwinden. Die subtile Bedrohung erinnert stark an einen anderen großen Film mit Golubeva: Twentynine Palms von Bruno Dumont. Wie dort ist es gerade die Nicht-Kommunikation, das Unerklärte, was uns beunruhigt. Das wundervolle und unerklärte Nicht-Erschließen einer Welt, das unsere Existenz nicht von unserer Essenz löst sondern unsere Existenz zur Essenz macht. Die Alltäglichkeit und das Spürbarmachen der Zeit, das Few of us in manchen Szenen nahe an die drückende Poesie eines Béla Tarrs bringt. Das Aufsteigen auf ein Reittier, das Sitzen im Geröllfeld, eine Schneeverwehung, der Mond umgeben von Wolken. Alles erzählt von der Existenz.

In mancher Hinsicht ist der Film auch ein Western, eine Fremde ohne Namen in einer von Ritualen und Prinzipien gesteuerten Welt, die Erschließung einer Welt. Wir befinden uns auf der Suche nach einem Frieden, den es nicht geben kann. Es ist die gescheiterte Hoffnung auf eine Heimat, auf eine Verortung. Was eine dann bleibt, ist auf die Natur zu hören, die mit ihren Augen uns beobachtet genau wie dieser Film mindestens genauso auf uns zurückblickt, wie wir auf ihn schauen. So werden wir wieder zu einer rauen und wilden Existenz, auf uns selbst zurückgeworfen und darin liegen vielleicht jene Gleichheit und Kommunikation, die so verloren scheinen. Sie finden sich im Licht dessen, was uns die Natur zu sehen erlaubt.