Diagonale 2019: Avantgarde-Rundschau

ORE von Claudia Larcher

Wie immer habe ich meinen persönlichen Diagonale-Spielplan rund um die Programme des „Innovativen Kinos“ (wie hier jene filmischen Formen heißen, die sich weder sauber als Spielfilm, noch als Dokumentarfilm einordnen lassen – innovativ sind sie nicht immer) aufgebaut. Und trotzdem eines dieser Programme verpasst. Da diese „Rundschau“ keinen Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit erhebt, sondern (ohnehin subjektive) Wahrnehmungen präsentieren will, störe ich mich aber nicht weiter daran.

Ich habe schon im Rahmen früherer Diagonale-Ausgaben darüber geschrieben – und ich bin bei weitem nicht der einzige, der diese Meinung teilt –, dass Österreich als Filmland vor allem im Avantgarde-Bereich überdurchschnittliche Leistungen erbringt. Das hat sich auch 2019 nicht groß geändert. Problemlos ließe sich das untenstehende „Best of“ um zusätzliche Titel erweitern, ohne dass die Qualität massiv abfallen würde.

animistica von Nikki Schuster

animistica von Nikki Schuster

Unstet und sprunghaft schleicht die Kamera über den Boden. Die Pflanzen- und Tierwelt der mexikanischen Wüste zeigt sich in voller Pracht. Ornamentale Strukturen schmücken die Leinwand, sie sind nicht von menschlicher Hand geschaffen. Aus nächster Nähe werden hier die Oberflächen organischen Lebens (und Todes) untersucht. Was aus der Ferne als kompaktes, glattes Ganzes erscheinen mag, entpuppt sich durch die Lupe als porös und zerfurcht. Dünne Stacheln werden zu monströsen, furchterregenden Gebilden, das Fell von Säugern wird zu einem ruppigen Teppich. Begleitet werden diese Bilder von einem Sounddesign, dass ihnen eine weitere Dimension hinzufügt. Die Bewegungen der Kamera entlang der wundersamen Oberflächenstrukturen werden durch den Ton zum Horrortrip. Als würde sich ein mittelalterlicher Krieger am Ende einer blutigen Schlacht über Leichenberge kämpfen, wird der suchende Blick der Kamera von Knack- und Matschgeräuschen zu einer Studie des Ekels umgedeutet. Die Natur erscheint alles andere als unschuldig. Sie entblößt ihre hässlichen Seiten, zeigt ihre furchterregendsten Formen. animistica ist kein wissenschaftlich-objektiver Blick durch das Mikroskop, kein Naturfilm, der seinem Zuseher neue Perspektiven auf die Welt näherbringen will, er ist ein Test der Wahrnehmung, der zur Diskussion stellt, ob Schönheit und Grausamkeit nicht zwei Seiten einer Medaille sind.

Antarctic Traces von Michaela Grill

Antarctic Traces von Michaela Grill

Die Durchlässigkeit der verschiedenen filmischen Kategorien hat zugenommen, seit Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber die Diagonale leiten. Der zunehmenden Menge an dokumentarisch-fiktionalen Hybriden und essayistisch-experimentellen Formen kommt eine solche Auflösung der starren Grenzen entgegen. So wird Antarctic Traces von Michaela Grill im Katalog etwa als Dokumentarfilm geführt, aber in einem Programm des „Innovativen Kinos“ zusammen mit Avantgarde-Filmen gezeigt. Hier ist Grills Film sehr gut aufgehoben. Ein filmischer Essay über die South Georgia Islands und vor allem über den Walfang, der dort in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrieben wurde und beinahe zur Ausrottung der ganzen Spezies geführt hat. Eine Frauenstimme liest Exzerpte aus Logbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen und Erfahrungsberichten zum Thema. Dazu sieht man die Ruinen der verlassenen Walfangstationen an der Küste, die von der Natur (namentlich von Robben, Seeelefanten und Pinguinen) wiedererobert wurden und Fotografien des Meeres. Eindringlich und bildlich wird die Jagd auf die Riesen der Meere geschildert, ohne dass je Fotos oder Bewegtbilder von Walfängern zu sehen sind. Erst zu den Credits bieten historische Fotografien die Gelegenheit des Abgleichs der Schilderungen mit konkreten Bildern. Man ertappt sich dann beim Gedanken, dass es diese Bilder gar nicht gebraucht hätte. Die Wortgewalt der Erzählung vermag es, einen Film zu tragen (Duras wird in diesem Text auch noch Thema sein).

Armageddon von Kurdwin Ayub

Armageddon von Kurdwin Ayub

Gäbe es bei der Diagonale eine eigene Programmreihe für Animationsfilme, wäre Armageddon dort wohl am besten untergebracht. Da Kurdwin Ayub seit Jahren zu den Konstanten des „Innovativen Kinos“ gehört, hat man ihren doch recht konventionellen Animationsfilm Armageddon ebenfalls dort geparkt. Obwohl ich diese kuratorische Entscheidung nicht ganz nachvollziehen kann (wäre er nicht besser in einem Kurzspielfilm-Programm aufgehoben), gibt es mir immerhin Gelegenheit an dieser Stelle darüber zu berichten. Denn das Ergebnis – unabhängig von seiner leidlichen Kategorisierung – überzeugt durch Humor mit Stirnrunzelfaktor. Die Ausgangssituation ist einfach erklärt: Wir schreiben das Jahr 2138, die beiden Wiener Vampire Anton und Franz sitzen auf einer Couch und werden interviewt. Sie berichten von der Islamisierung des Landes und von der unterschiedlichen Blutqualität verschiedener Ethnien (Asiatinnen sind am begehrtesten, treten sie unseren Breiten doch nur in Gruppen auf). Gefährlich nah am Abgrund der political uncorrectness bewegt sich dieses Gespräch. Jede Pointe lässt einen unwillkürlich zusammenzucken: Es geht um Geschlecht, Ethnien, Religion – ist Lachen darüber überhaupt erlaubt? Das Fazit: Anton und Franz sind zwar keine Puppen, sondern aus Knetmasse geformt, doch was vor 40 Jahren bei Waldorf und Statler funktioniert hat, ist heute ungebrochen effektiv.

Cavalcade von Johann Lurf

Cavalcade von Johann Lurf

Eine Art Wasserrad in einem Bach. Es ist Nacht. Das Rad erwacht zum Leben. Immer schneller und schneller dreht es sich, bis es schließlich wieder zum Stillstand kommt. Dazwischen ein Test menschlicher Wahrnehmung und der Leistungsfähigkeit des Kinoapparats. Denn dieses Wasserrad ist kein normales Wasserrad, sondern mit verschiedenen visuellen Elementen besetzt und mit mathematischer Präzision ausgetüftelt. So scheinen die Schaufelräder ab einem gewissen Tempo stillzustehen (wenn sich ihre Umdrehungsanzahl mit der Aufnahmegeschwindigkeit der Kamera deckt), der Ring aus Farbfelder im Inneren verändern je nach Drehgeschwindigkeit scheinbar ihre Anordnung und die Spiralen verändern scheinbar ihre Drehrichtung. Man hätte daraus einen anschaulichen Lehrfilm über optische Wahrnehmung machen können, Lurf hat einen Abenteuerspielplatz für die Augen angelegt.

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

Rainer Kohlbergers Filme zählen zum außergewöhnlichsten, was das österreichische Kino zu bieten hat. Es ist eine Mischung aus technologischer Konzeptkunst und irren Herausforderungen an die menschliche Wahrnehmung. Mithilfe von Algorithmen verformt Kohlberger das Bild bis zur totalen Unkenntlichkeit. Mal sieht das aus wie ein TV-Testbild, mal wie eine fehlerhafte VHS und mal entsteht originär digitale Pixelkunst. Dazu dröhnende elektronische Musik, die sich nahtlos an den Rhythmus der Bilder schmiegt. Im spezifischen Fall von It has to be lived once and dreamed twice wird die Bild-Ton-Wucht durch ein Voice-over ergänzt. Letztlich wirkt die Stimme aber eher störend, verhindert das Versinken in Bild und Ton, lässt nicht zu, dass man sich voll und ganz auf das Wahrnehmungsexperiment konzentriert. Und zugleich lassen es die mächtigen Bildkompositionen nicht zu, dass man sich auf den Text konzentriert. Überfülle kann höchst befruchtend sein, hier entkräftet sie sich selbst.

Muybridge's Disobedient Horses von Anna Vasof

Muybridge’s Disobedient Horses von Anna Vasof

Anna Vasofs Muybridge’s Disobedient Horses ist die Dokumentation verschiedener para-kinematografischer Formen. Versteht man Kino und Film als etwas, das über die Grenzen des Kinosaals und die Versuchsanordnung Projektor-Leinwand-Publikum hinausgeht, dann handelt es sich hier quasi um einen Film im Film. Vom Daumenkino über das technisierte Daumenkino (bemalte Geldscheine in einem elektrischen Zählgerät) zum aufwendigeren Versuchsaufbau mit Pappbechern, Taschenlampen und Pendeln, setzen sich hier unbelebte Bilder in Bewegung (oder werden in Bewegung gesetzt). Die Kamera imitiert dabei nur die Rolle des menschlichen Auges und fängt diese Bewegung ein. Und verdoppelt somit das Spiel mit Licht, Zeit und Bewegung. Auf den ersten Blick wirkt das alles einfach und simpel – nicht mehr als ein show reel der eigenen Basteleien. Und doch mehr als das. Denn die Vorführung der Apparaturen vor dem Kameraauge werden verdoppelt durch die Vorführung des Films vor dem Menschenauge. Ein filmisches Impulsreferat über Wahrnehmung und Dispositivtheorie.

ORE von Claudia Larcher

ORE von Claudia Larcher

ORE beginnt in höchster Höhe. Aus der Vogelansicht wirft die Kamera einen Blick auf das weiter unter ihr liegende Erzabbaugebiet. Langsam wandelt sich der Drohnenblick in einen (unmöglichen) Kameraschwenk. Nahtlos geht die Vogelperspektive in einen irdischeren Blick auf die Maschine der Bergbaulandschaft über. Ebenso nahtlos bahnt sich der Blick schließlich seinen Weg von der Oberfläche tief ins Innere des Bergs. In den Stollen. In nur sechs Minuten von höchsten Höhen in tiefste Tiefen.

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Ein gutturaler Vortrag eines scheinbar dadaistischen Gedichts: „From the stomach in your chest through your throat to the world.” Immer und immer wieder wird dieser Satz vom etwas abgerissenen Mann in Rising wiederholt. Dabei filmt er sich mit einer Videokamera selbst. Was dieser Satz bedeuten soll, wird erst nach einiger Zeit deutlich. Er ist durchaus buchstäblich zu verstehen. Dann nämlich steckt sich der Protagonist den Finger in den Hals und erbricht. Und erbricht wieder. Bis man vor lauter Dreck auf der Linse kaum mehr etwas erkennt. Dazwischen manifestartig die Erklärung dazu. Das Kotzen soll das Sprechen als Kommunikationsmittel ersetzen. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei. Man weiß nicht so recht, was man mit dieser Performance anfangen soll. Im Publikum hat sie gleichermaßen für Gelächter als auch zu geekelter Ablehnung geführt. Eine Reaktion ist dem Film in jedem Fall gewiss.

Victoria von Lukas Marxt

Victoria von Lukas Marxt

Ein Ford Crown Victoria ist der titelgebende Protagonist dieses einstündigen Films von Lukas Marxt. Er durchquert das kalifornische Hinterland. Weite, eintönige Steppen, durchbrochen nur von Eisenbahnschienen. Schier endlose Kolonnen von Güterzügen durchtrennen die gleichsam endlose Landschaft und bilden einen visuellen Referenzrahmen, den sonst nur der verlorene, fahrerlose PKW liefert, der immer wieder auf oder neben der Straße die Landschaft durchzieht. Begleitet wird die Fahrt dieses ungewöhnlichen Protagonisten von Untertiteln, die Filmklassikern entnommen sind und eine humoristische Annotation des Geschehens liefern. Irgendwo an der Schnittstelle von Landscape Art, Structuralist Film und Film-Essay bewegt sich Marxt durch Kalifornien. Und obwohl man anhand der obigen Beschreibung meinen könnte, dass sich der Versuchsaufbau schnell erschöpft, erzeugt er einen immens starken Sog. Die verschiedenen textuellen Ebenen erleben gerade genug Abwechslung, dass es immer etwas Neues zu sehen oder hören gibt, wenn das Bildfeld erschöpft scheint. Ein bisschen (und nicht nur wegen der Züge) erinnert Victoria an die früheren, analogen Arbeiten James Bennings (als dieser noch nicht so sehr von seiner eigenen künstlerischen Brillanz eingenommen war).

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

Man denkt sofort an Lumière: Die Explosion eines Fabriksgebäudes wird zeitlich umgekehrt. Aus der Implosion richtet sich das Gebäude wieder auf. Die Gebäude, um die es sich handelt, sind Anlagen von Kodak in Rochester, New York. Bei den Aufnahmen handelt es sich um Youtube-Clips von der Sprengung von Teilen des Werks im Rahmen der Konsolidierungsmaßnahmen des Unternehmens. Nur mit Ach und Krach hat Kodak den unaufhaltsamen digital turn in der Filmindustrie überlebt. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen dieser Videos war das Überleben keineswegs gewiss. Die Ungewissheit über die Zukunft des Kinos und des Analogfilms und die Erinnerung an seine frühesten Gehversuche gehen hier Hand in Hand. In kurzer und recht simpler Form errichtet Viktoria Schmid hier ein turmhohes Gedanken- und Referenzgebilde.

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

Aufnahmen aus dem Zugfenster gehören zu den Konstanten der Filmgeschichte. Siegfried A. Fruhauf liefert eine doch recht ungewöhnliche Variation dieses Motivs. Er zerschneidet die Aufnahmen der Zugfahrt und ordnet sie neu an, lässt sie tanzen im Takt der gleichnamigen Schlagzeugkomposition von Jörg Mikula. Der Wirbel der Zugfahrt-Bilder steigert sich bis hin zum Fast-Flicker. Umso schneller, desto mehr scheint Fruhaufs Ästhethik in ihrem Element. Und bald geht es nicht mehr um Züge, sondern um das Blitzen und Blinken der Bilder auf der Leinwand.

Neregių žemė von Audrius Stonys

Honourable Mention: Mavericks

Es ist fast unfair, diesen Vergleich anzustellen, aber das beste Programm „Innovativen Kinos“ wurde gar nicht in dieser Programmschiene gezeigt. Im Rahmen der Personale zu Ludwig Wüst, bekam der Filmemacher auch Gelegenheit eine Carte Blanche zu programmieren. Das Resultat war eine Reihe von vier fulminanten mittellangen Filmen, die jeder für sich das meiste, was sonst so am Festival gezeigt wurde, mit Leichtigkeit in den Schatten stellte: ob das betont unsaubere Porträt des Zeitungsboten Bobby in Robert Franks Paper Route, die dystopisch anmutenden Industriebrachen in Audrius Stonys‘ depressiv-melancholischem Neregių žemė, die philosophische Bild-Text-Juxtaposition in Marguerite Duras‘ L’homme atlantique oder Artavazd Peleshians große Armenien-Symphonie Menq. Selten war auf der Diagonale 2019 ein klareres Bild filmischer Haltung zu erkennen, selten wurde das Publikum so auf den Prüfstand gestellt – denn die Aneinanderreihung der drei Filme am Ende in ihrer ultimativ Schwere und Schwermütigkeit in Kombination mit der akuten Sauerstoffnot und der Sauna-Atmosphäre im Rechbauer-Kino (könnte man hier vielleicht eine Lüftung einbauen?) erforderte einiges an Durchhaltevermögen. Wer blieb, wurde belohnt.

WdK Tag 7: „Überschwang/Exuberance“ – Beauty without Pain? Planetarium von Rebecca Zlotowski + Fuddy Duddy von Siegfried A. Fruhauf

„Beauty without pain“. Der deutsche Filmemacher Philip Gröning gibt während der letzten Diskussion der diesjährigen Woche der Kritik eine Minimaldefinition von Kitsch um sein Erlebnis der ersten 15 Minuten von Planetarium zu beschreiben. Er habe sich im falschen Film gewähnt, so leer sei diese Schönheit. Der Film bediene da anfangs eine Retro-Ästhetik in vollen, warmen Farben, die sich irgendwann im Laufe der letzten Jahre durch die unreflektierte Übernahme von einem period Film zum immer nächsten als vermeintlich präzise Darstellung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etabliert habe.

Es gibt diese Ästhetik, man muss sich nur die letzten Filme von Woody Allen anschauen. Das ist wirklich sediertes, schmerzbefreites Kino, so unaufdringlich loungig wie die ewig plätschernde Jazz Musik, die aus dem Off kleistert oder auf den Partys der Cafe Society für die rechte Stimmung der Indifferenz sorgt (vielleicht hätte der in Cannes passender die Eröffnungsparty eröffnet als das Filmprogramm?). Stilistisch scheint Planetarium sich da anfangs einzureihen: warme Farbpalette, schwere Kontraste, wohlkadrierte Einstellungen, eine fließende Kamera, historisch korrekte Kostüme in säuberlich akkuraten Sets und, bitte, angenehm geschnitten das Ganze, keine Experimente. Auch inhaltlich passts, oder? Ein Schelm, wer da an Magic in the Moonlight denkt: in Zlotowskis Film sind es zwei junge amerikanische Frauen, Schwestern (Natalie Portman und Lily-Rose Depp), die im Paris der späten 30er Jahre mithilfe ihrer Fähigkeit Kontakt zu Geistern aufzunehmen an ein wenig Geld und Ruhm kommen wollen. Wie Emma Stone in Magic in the Moonlight treffen sie dabei auf einen Mann, der irgendwie im selben Geschäft tätig ist, in dem der Illusion. Der ältere Mann ist nun aber kein zynischer Zauberkünstler wie Colin Firth, sondern ein französischer Filmproduzent namens Korben (Emannuel Salinger), der sich der Schwestern annimmt um mithilfe ihrer Fähigkeiten das Kino zu seiner wahren Bestimmung zu führen: einen echten Geist filmen!

Versteht man Filme als die Summe ihrer Zutaten, die, wenn streng nach Rezept addiert, das Erwartbare ergeben, dann kann man nach 15 Minuten von Planetarium sagen (und es wurde in der Kritik gesagt): Alles da! Freuen wir uns auf ein psychologisches, schönes und ergreifendes Period Piece! Dann wird man aber auch nach spätestens 50 Minuten enttäuscht sein (und auch das war die Kritik), denn Zlotowskis Film bricht und durchlöchert nach und nach die vorgefertigten gültigen Formen eines 30er Jahre Dekadenz-und-Zusammenbruch-Epos. Es gibt da ein Zuviel, einen ‚Überschwang‘, der die gesetzten Erwartungen überdehnt und den Schmerz einholt um den Kitsch zu überholen. Zu viel Präsenz, die Kamera rückt den Gesichtern und Texturen zu nah und führt sie über einen psychologischen Darstellungsmodus hinaus. Salingers große runde Augen sind so unergründbar traurig, Lily-Rose Depp ist so großartig blutleer und ausdruckslos. Das Kino, die Kamera ernähre sich parasitär von ihrem Leben, bemerkt Philip Gröning in der Diskussion. Die Kostüme sind zu extravagant und die Sets zu abgründig, die riesenhaften Knöpfe an Natalie Portmans Hosenanzug weisen darauf hin, genauso wie die ausgestellten toten Mäuse in Salingers Haus: Das ist eine Filmwelt, historische Wahrheiten gibt es hier nicht einfach so zu sehen. Aber was gibt es in Planetarium dann?

Neben dem Zuviel gibt es ein Zuwenig, Lücken, die der Film in seine eigene Form reißt. Am Anfang noch sehr eng erzählt, lösen sich die direkt kausalen Beziehungen der Montage langsam auf und es bleiben lose Enden. Plötzlich sind die Schwestern getrennt und der Jude ist enttarnt. Dann geht alles ganz schnell: der Schriftzug auf dem Spiegel, die Aufsichtsratssitzung, der Schauprozess, das Gefängnis und Korben ist aus dem Film verschwunden. Zwischendurch scheint der Versuch Geister zu filmen nach langen Tests in einem futuristischen Labor gelungen zu sein, um sich dann vor versammeltem Publikum und den Augen der Kamera doch als gescheitert zu erweisen. Der Film schafft hier Unsicherheiten und unlösbare Fragen, die mit der klassischen Form des auf Linearität angelegten ‚Historiendramas‘ nicht vereinbar sind.

WDK17, Planetarium_01

Während in Woody Allens Magic in the Moonlight die romantisierte Liebesgeschichte und die nebulöse, dabei stets verwaschen ungenaue Zauberei-Allegorie in Beliebigkeit aneinander vorbeireden, sind für Planetarium seine Reflexionen des Kinos notwendig Teil der Geschichte die er erzählt und deshalb ebenso historisch eingebunden. Ineinander reflektieren sich die historischen Umstürze der späten 30er Jahre und die Erkenntnismöglichkeiten der spezifischen filmischen Form. In seinem Spiel mit den Zuschauererwartungen versucht Planetarium einerseits sich aus seiner eigenen Form zu befreien, erkennt aber zugleich, dass eine sinnvolle Kritik nur aus dem Inneren der Form möglich ist, indem ihre Unzulänglichkeiten aufgedeckt werden. Der Film muss vor sich selbst kapitulieren.

Der Vorwurf der Kritik, der Film sei ein „meandering mess“, hervorgebracht von Owen Gleiberman für Variety (und stellvertretend für die amerikanische Kritik überhaupt), lässt sich so als zunächst neutrale Beobachtung aufnehmen und ins Positive wenden. Die losen Enden der Erzählung und einiger Montagesequenzen, sowie die Auslassungen aller Schreckensbilder, die als ewige Erwartungsbilder des Historiendramas sonst da stecken, wo Zlotowskis Film sich selbst durchlöchert hat – keine Gestapo im Regen, keine unberechenbar charmanten SS-Offiziere, keine Menschentransporte, keine Begräbnisse, ja, überhaupt keine Gewalt, kein Tod im Bild – weisen Planetarium als Film aus, der reflektiert hat, dass es Dinge gibt die sich in einer bestimmten Form nicht darstellen lassen. Dabei tappt er klugerweise nicht in die Falle des Bilderverbots, in die Son of Saul sich so überzeugt hineingeworfen hat, als er die Ästhetisierung des Schreckens im Bild einfach ersetzt hat mit der Ästhetisierung des Schreckens im Ton und einem aufdringlich nahen Off. Planetarium hält die Bilder des Schreckens so fern wie möglich, im vollen Bewusstsein, dass er sie eh nicht wird davon abhalten können, die Auslassungen zwischen Festnahme, Gericht, Gefängnis und Verschwinden zu bevölkern.

Der wichtigere Unterschied scheint mir aber zu sein, das Nicht-Zeigen mit den Notwendigkeiten einer historischen Situation und einer inhärenten Formenkritik zu verbinden, statt sich wie Son of Saul damit zu brüsten eine ‚Antwort‘ auf ein etwaiges, externes Bilderverbot gefunden zu haben. Planetariums zunehmend gestörten Erkenntnismöglichkeiten reflektieren den historischen Zustand einer Welt, die, je näher sie dem erwartbaren Abgrund kommt, umso weniger verstehen und glauben mag von dem bevorstehenden Fall. Diese Verwirrung von Erwartungen kann der Film formal einholen, weil er sich einer klassischen, erwartungsbeladenen Form bedient, aus der er sich ebenso wenig zu befreien vermag, wie Salinger, der noch im Gefängnis an das gute Ende glaubt. Das Problem des Verstehens eines historischen Prozesses wird hier konsequent in ein Problem der Formen des Denkens überführt. Wenn die Formen des Denkens nicht Schritt halten können mit den historischen Ereignissen, dann wird ein Verständnis unmöglich. Das neoklassische Historiendrama dekonstruiert sich hier selbst, aber schafft es im Einklang mit der Geschichte nicht, sich ganz zu zerstören, um Platz zu machen für eine neue Form, ein neues Verstehen.

Der im Anschluss vorgeführte Fuddy Duddy, ein etwa 5 Minuten langer Experimentalfilm von Siegfried A. Fruhauf, macht dieses Formproblem offensichtlich. Vollkommen evident erscheint mir die gemeinsame Programmierung der beiden Filme: Fuddy Duddy macht die Bilder, die Planetarium nicht möglich sind. Eine Ordnung von Quadraten zerstört sich in aggressivem Dauerflackern selbst und bildet die Illusion einer Tiefe, eines Abgrundes in der Mitte der Leinwand. Das ist die Umpolung des Kinos – voll auf Angriff! –, die mit Kriegs- und Schreckensbildern quasi die Lücken von Planetarium ausfüllt und  einen direkten Schmerz erfahrbar macht. Der Schmerz in Planetarium selbst ist immer ein indirekter, der aus den Diskrepanzen zwischen dem formal zu Erwartenden, dem Gezeigten und den allseits bekannten historischen Fakten entsteht. Am Ende des Films, im Jahr 1943, steht Laura Barlow (Natalie Portman), inzwischen Schauspielerin, im Set an einem Fenster, schaut in den Sternenhimmel aus Lichterketten und spricht in ihrer Rolle als Waisenmutter: „Tomorrow will be a great day!“

Diagonale 2016: Avantgarde Rundschau

Atlantic35 von Manfred Schwaba

„Gibt es eine andere Liebe, als die der Dunkelheit, eine Liebe, die sich am helllichten Tag laut kundtäte?“ (Albert Camus)

Die Diagonale als Schaukasten und Jahresbericht des österreichischen Filmschaffens ist trotz seiner selbst auferlegten strikten geographischen Einschränkung eines der spannendsten und best-kuratierten Festivals seiner Größe. Nicht zuletzt liegt das an der beeindruckenden Riege an unabhängigen Künstlern, die sich im experimentellen und avantgardistischen Filmemachen üben. Bei der Diagonale sind ihre Filme in der Sektion „Innovatives Kino“ zu finden – ein furchtbarer Name, den die neue Festivalintendanz leider nicht geändert hat – und in meiner Planung sind diese Kurzfilmprogramme Fixpunkte. Die behutsame Neuausrichtung des Festivals hat auch vor dieser Programmsparte nicht halt gemacht, mit Claudia Slanar wurde eine Co-Kuratorin ins Boot geholt, die einzelnen Programme sind stärker durch kuratorische Überlegungen geprägt und es lassen sich nun sehr viel klarere Fäden durch die einzelnen Filme der Programme ziehen. An und für sich ist das eine begrüßenswerte Entwicklung und doch hatte ich einige Male den Eindruck, das ein Film eher deshalb ausgewählt wurde, weil er gut in ein bestimmtes Programm passte, als aufgrund seiner filmischen Qualitäten – vielleicht ist das aber auch nur eine Überinterpretation meinerseits oder aber der aktuelle Jahrgang des avantgardistischen Filmschaffens kann ganz einfach nicht mit dem Output der letzten Jahre mithalten. Im Folgenden ein paar Filme, die mir aus unterschiedlichen Gründen besonders imponiert haben:

Der beste Weg von Angelika Herta

Der beste Weg von Angelika Herta

Wie visualisiert man den Alltag einer Blinden? Diese unmögliche Fragestellung liegt Angelika Hertas Film zugrunde. Das Ergebnis ist fast unerträglich selbstironisch und gesättigt mit beißendem Humor der Marke „ich bin blind, ich darf das“. Das kann man lustig finden oder aber anbiedernd bourgeois, in jedem Fall geht der Film sehr spielerisch mit seiner Grundidee um. Konsequent müsste ein Film über das Leben einer Blinden eigentlich ohne Bilder auskommen, oder zumindest mit Bildern jenseits naturalistischer Bildästhetik arbeiten. Herta hält sich allerdings nicht lang mit solchen konzeptionellen Überlegungen auf, sondern denkt in erster Linie an ihr (sehendes) Publikum. Die Stimme eines Sprachprogramms, das normalerweise die Textinhalte von Computerbildschirmen vorliest, trägt in Der beste Weg einige Anekdoten aus dem Leben einer Blinden vor, die gleichzeitig in weißer Schrift auf schwarzer Leinwand zu sehen sind. Die kleinen und großen Probleme des Blindendaseins werden auf vergnügliche Art und Weise von der mechanischen Stimme vorgetragen. Die Komik erwächst dabei zum einen daraus, was erzählt wird, aber nicht zuletzt auch durch die monoton-abgehackte Vortragsweise der Computerstimme. Damit dem Auge beim Zuhören nicht langweilig wird, wird auch die Schrift in ausgewählten Momenten animiert, bleibt stehen „wie ein sturer Esel“ oder verteilt sich über die Leinwand, wie eine Handvoll verstreuter Münzen. Das sind billige Gimmicks, dumme Spielereien, die eigentlich mit der Logik des Films brechen, aber wer braucht schon logische Konsequenz, wenn er konsequent Schabernack treibt.

Herbst von Meinhard Rauchensteiner

Herbst von Meinhard Rauchensteiner

Es können wohl nicht viele Filme von sich behaupten, ihren Reiz aus der Konfrontation von Rainer Maria Rilke und einem Stofftier zu beziehen. Rilkes namensgebendes Gedicht ist hier Ausgangspunkt für eine unwahrscheinliche Komödie: im Zentrum des Geschehens ein Stofftier, das von einer statischen Kamera aufgenommen, den ganzen Film hinweg nicht bewegt wird; off-screen eine Stimme, die laut, fast herrisch, Rilke rezitiert. Das Stofftier, mit integriertem Tonaufnahme und –abspielmechanismus „antwortet“ auf die Rezitation, Rilkes Gedicht wird zur Iteration, die menschliche Stimme wird abgelöst durch die mechanische Stimme des Stoffstiermonsters. Die Sinnlichkeit der Poesie wird in einem komödiantischen Gebrüll aufgelöst, die Tücken des Sprechmechanismus des Stofftiers bringen die hohe Dichtkunst Rilkes an die Grenzen ihrer Wirkkraft.

Hidden Tracks von Karin Fisslthaler

Hidden Tracks von Karin Fisslthaler

Karin Fisslthaler ist nicht zu Unrecht regelmäßiger Gast auf der Diagonale. Ihre Filme zeichnen sich durch popkulturelle Sensibilität, Musikalität und vor allem durch fabelhaftes Rhythmusgefühl aus. Hidden Tracks ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme und gerade in Sachen Rhythmik ein herausragendes Werk. Es gehört einiges an Chuzpe dazu einen Film aus Found-Footage-Schwarzblenden zu montieren und noch mehr künstlerische Befähigung, daraus etwas zu gestalten, das nicht nur auf konzeptueller Ebene funktioniert. Und wie es funktioniert: ein sorgfältig durchkomponierter Reigen aus kurzen Momentaufnahmen, der verdichtete letzte Lebenshauch der filmischen Einstellung. Fisslthaler breitet diese Verdichtung aus, webt ein feines Netz aus filmischen Referenzen, das durch Schnitt und Musik in einem rhythmischen Pochen aufgeht.

distortion von Lydia Nsiah

distortion von Lydia Nsiah

Der Tod und die Verwesung üben seit Urzeiten eine besondere Faszination auf den Menschen aus. Filmische Metaphern dafür finden sich zuhauf, mit expliziter cinematischer Nekrophilie hat sich zum Beispiel Bill Morrison einen Namen gemacht. Das nun vermehrt der digitale Tod beschworen wird, ist eine logische Entwicklung unserer Zeit. Lydia Nsiahs distortion ist nicht der erste Film, der Material kompiliert, das durch digitale Eingriffe beschädigt worden ist (Sebastian Brameshubers und Thomas Draschans Preserving Cultural Traditions in a Period of Instability, der im Rahmen der Personale zu Gabriele Kranzelbinder gezeigt wurde, übte sich schon vor mehr als zehn Jahren an Ähnlichem), zählt jedoch zu den gelungeneren Exemplaren dieser Sorte Film. Es ist ein großer Coup filmemacherischer Subversion, jene Elemente ästhetisch zu verarbeiten, die dafür konzipiert sind das Filmerlebnis zu beeinträchtigen, denn Nsiah hat als Ausgangsmaterial Filmausschnitte gewählt, die durch digitale Kopierschutzmaßnahmen beeinträchtigt worden sind. Doch distortion ist weit mehr als nur Konzeptkunst, denn der Film funktioniert auch auf einer ästhetischen Erfahrungsebene: das Flackern der digitalen Partikel, die verzerrten Farben und verpixelten Flächen machen die ästhetischen Qualitäten eines Seherlebnisses deutlich, das sonst meist mit dem Frust über technisches Versagen verbunden ist.

Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba

Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba

Es wäre gar nicht so abwegig Lukas Marxt alljährlich den Hauptpreis der Sektion „Innovatives Kino“ kampflos zu überlassen. Kaum ein anderer österreichischer Filmemacher findet in solcher Regelmäßigkeit und mit solcher Konstanz neue Wege seine künstlerische Position zu artikulieren und zu verfestigen. Für Wunderschön und ruhig gelegen hat er mit dem tschechischen Filmemacher Jakub Vrba zusammengearbeitet. Wie so oft in Marxts Filmen steht eine Landschaft im Zentrum. Die Landschaft, in diesem Fall ein kleines Waldstück an einem Berghang, wird schon bald verschwinden, nicht jedoch durch eine Bewegung der Kamera oder eine Manipulation des Bilds, sondern durch pyrotechnischen Nebel. Eine künstliche Wand aus milchigem Weiß verschluckt schon bald den gesamten Bildraum, lässt das Waldstück fast vollständig verschwinden und gibt sie schließlich wieder langsam frei. Wie die Skyline von Hongkong in Black Rain White Scars oder die Gletscherlandschaft in High Tide verwandelt sich die realistische Naturaufnahme in eine abstrakte Transfiguration. Marxt und Vrba thematisieren damit einerseits die Macht der Dauer als Grundkonstante des Kinos und andererseits hinterfragen sie das Verhältnis von Manipulation und Vertrauen in das filmische Bild.

even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

not even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

So sehr sich das österreichische Filmemachen immer wieder hervortut, man kann nicht von jedem Film auf der Diagonale erwarten, dass er eine komplexe filmische Position artikuliert. Das ist schlicht nicht möglich, sonst wäre die Welt voll von Meisterwerken und man müsste sich gar nicht erst die Mühe machen, einen Versuch der kritischen Differenzierung zu unternehmen. Pro Jahr schaffen es nur wenige Filme meine Wahrnehmung der Welt oder meine Haltung zum Kino nachhaltig zu erschüttern. Wenn ich nach einem Screening das Kino verlasse, kann ich also nicht jedes Mal verlangen, dass meine Weltsicht über den Haufen geworfen ist (das wäre auch ungesund), aber es ist gut, wenn wenigstens meine Augen bluten – und in Sachen Augenbluten ist Rainer Kohlbergers not even nothing can be free of ghosts Klassenprimus. Das Flackern von Schwarz-Weiß-Kontrasten und ein Drone-Sound, der Angriff des Algorithmus auf die Netzhaut, eine brutale Attacke gegen die menschliche Wahrnehmung, bei der das Betrachten einer zweidimensionalen Leinwand an Körperlichkeit gewinnt.

Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf

Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf

Ähnlich brutal wie Kohlbergers Film ist Siegfried A. Fruhaus Vintage Print. Etwas unglücklich für die geschundenen Augen liefen die beiden Filme zwar unmittelbar hintereinander, doch offenbarte diese direkte Gegenüberstellung die unterschiedlichen Strategien des Flickerwahnsinns. Während Kohlbergers Film ein durch und durch digitales und berechnetes Konstrukt ist, verwendete Fruhauf als Grundlage für seinen Film eine uralte Fotografie aus dem späten 19. Jahrhundert. Diese Fotografie manipulierte er auf mannigfaltige Art und Weise, kopierte sie unzählige Male und veränderte sie dabei jedes Mal mit einer anderen Technik. Das programmierte Chaos Kohlbergers steht Fruhaufs Chaos nach Programm gegenüber, das digitale Code-Monstrum dem riesigen Materialkonvolut. Umso erstaunlicher, dass die Resultate Ähnlichkeiten aufweisen, in ihrer Strategie mit dem Zuseher in Kontakt zu treten. Beide attackieren sie den Sehnerv, vertrauen auf die Wirkung von geistigen Nachbildern, die ihre eigenen Bilder unterstützen und auf den Taumel aus Bild und Ton, der schließlich körperliche Effekte erzielt.

The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky

The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky

Seit Peter Tscherkasskys The Exquisite Corpus letztes Jahr in Cannes Premiere feierte wartete ich ungeduldig auf eine Gelegenheit den Film zu sehen. Das lange Warten hat sich bezahlt gemacht, denn The Exquisite Corpus ist (wenig überraschend) ein bemerkenswerter Film. Zum einen ist da die technische Virtuosität, die handwerkliche Genialität, die Tscherkasskys Werk befeuert. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Handwerk, den jedes dieser sorgsam manipulierten Frames ging durch Tscherkasskys Hände. Wie üblich dringt er tief ein in die Struktur des Films, macht sichtbar, was nie sichtbar sein sollte. Es ist ein schmaler Grat zwischen einem brutal-invasiven Eingriff in das Material und einer poetisch-sublimen Auseinandersetzung, die zugleich auch Genre-Reflexion ist: Die Männerfantasie des pornographischen Films dekonstruiert, destruiert und doch bestätigt.

A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish von Johannes Gierlinger

A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish von Johannes Gierlinger

Etwas unglücklich lief Johannes Gierlingers A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish gleich im Anschluss an Tscherkasskys kolossalen The Exquisite Corpus. Dass der Film trotzdem im Gedächtnis bleibt ist ein erstes Indiz für seine Qualität. Gierlinger macht sich darin auf die Spur der kubanisch-amerikanischen Künstlerin Ana Mendieta und zwar nicht in Form einer schnöden Künstlerbiographie, sondern frei, poetisch, assoziativ. Die satten Farben und die Grobkörnigkeit des 16mm-Films bestimmen die Bilder des Films, auf der Tonspur Gedanken, die lose mit der Künstlerin und ihrem mysteriösen Tod in Verbindung gebracht werden können. Ana Mendieta war mir zuvor kein Begriff, aber nun habe ich eine Vorstellung davon, für welche Form von Kunst sie stehen könnte. Unabhängig davon funktioniert der Film auch als sinnliches Filmgedicht über Kunst, Leben, Spiel und Revolution.

Atlantic35 von Manfred Schwaba

Atlantic35 von Manfred Schwaba

Schon während eines Festivals zeigt sich meist welche Filme Bestand haben und im Gedächtnis bleiben, und welche in der Bilderflut untergehen. Atlantic35 ist nur wenige Sekunden lang, doch das kurze Aufflackern der portugiesischen Atlantikküste umrahmt von einigen Sekunden Schwarzbild ist ein großer Moment, der im Gedächtnis bleibt. Ironisch könnte man konstatieren, dass der Film die letzte ökonomisch durchführbare Form eines unabhängig finanzierten 35mm-Films darstellt; mit gebotener Ernsthaftigkeit könnte man allerdings auch feststellen, dass Atlantic35 sich in die lange Reihe erstaunlicher Filme einreiht, die nur durch Barrieren (seien sie ökonomischer, politischer oder technischer Natur) entstehen konnte, die überwinden werden wollten.

SELF von Claudia Larcher

SELF von Claudia Larcher

Eine lange Kamerafahrt über eine Mondlandschaft, eine organische Mondlandschaft, den menschlichen Körper. Ein unmöglicher Körper viel mehr, dessen Körperteile und dessen Geschlecht nicht so einfach feststellen lässt. Die extremen Nahaufnahmen bringen exotische Perspektiven zum Vorschein, man verliert sich in den Irrungen von Gliedmaßen, Poren und Körperbehaarung. SELF nötigt zum Aufgeben der Orientierung, gar zum Versuch jeder Orientierung und schlägt stattdessen eine Lesart des menschlichen Körpers als Baustoff, als Ruine, als Landschaftsformation vor – ein Architekturfilm ohne Gebäude, ein landscape film ohne Landschaft.

Ghost Copy von Christana Perschon

Ghost Copy von Christiana Perschon

Ein wiederkehrendes Thema der diesjährigen Filme des „Innovativen Kinos“ war das kurze Aufflackern, das die Vergänglichkeit des kinematischen Augenblicks betont und sich in Reduktion übt. Auch Ghost Copy ist ein Film, der mit der Ausstellung des Moments arbeitet und findet für diese Form einen geeigneten Inhalt. Zwischen ausgedehnten Passagen von Schwarzfilm kurze Ausschnitte von österreichischen Amateurfilmen. Die ephemere Form der Präsentation trifft auf eine ephemere Form des Inhalts. Nur schwer lassen sich diese filmischen Erinnerungsschnipsel erkennen, einordnen und deuten, nur schwer lässt sich eine Verbindung zwischen den einzelnen Ausschnitten ziehen. Die Erinnerung bleibt lückenhaft, die Filme widersetzen sich den Bedürfnissen des menschlichen Chronisten. Was bleibt ist ein sinnliches Blitzgewitter gerahmt von Dunkelheit.

Diagonale-Dialog 2: I see the sun

not even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

Alle Jahre wieder können Patrick und Rainer ihre Erfahrungen nur begrenzt austauschen, da sie sich selten im Kino sehen. Immerhin hat Patrick nun Die Geträumten von Ruth Beckermann gesehen und ist vom Film ähnlich überwältigt wie Rainer.

Rainer: Mittlerweile glaube ich fast, ich sollte diesen Dialog mit Ioana führen, weil sie sehr oft mit mir Vorstellungen besucht, während wir beide uns (wie üblich) selten über den Weg laufen. Im Übrigen habe ich noch immer nicht den Festivaltrailer gesehen: finden wir heute trotzdem eine Gesprächsgrundlage?

Patrick: Ja. Die Geträumten von Ruth Beckermann, den du in Berlin gesehen hast. Obwohl wir uns nicht über den Weg laufen, gebe ich dir völlig Recht. Das ist ein herausragender Film, der mir Tränen in die Augen trieb und mich neu-konfrontiert hat mit Gedanken zu Schauspiel, deutscher Sprache und letztlich sogar Liebe. Er zeigt auch, dass man das Gefühl vielleicht in der Fiktion finden kann und das ist einer der traurigsten und zugleich hoffnungsvollsten Gedanken, die ich seit langer Zeit in einem Film gespürt habe. Du bist ja der Beckermann-Experte…hat sie schon mal etwas Vergleichbares gemacht?

Rainer: Als Beckermann-Experte würde ich mich nicht bezeichnen, eher als Bewunderer, der leider noch nicht alle ihrer Filme gesehen hat, aber Die Geträumten nimmt meiner Einschätzung nach in ihrem Oeuvre schon eine Ausnahmestellung ein. Sonst findet man bei ihr meist nicht so eine starke Reflexion über das Filmemachen und ein solches Vabanquespiel mit verschiedenen Fiktionsebenen. Der Film ordnet sich dann aber doch irgendwie ganz gut in ihr Schaffen ein, weil sie meiner Einschätzung nach schon immer ein Händchen dafür hatte dem gesprochenen Wort sehr viel an Gefühl zu entlocken. Diese Blicke, diese Unmittelbarkeit, die durch die Schauspieler vermittelt wird – das ist zweifellos etwas, das man auch in ihren früheren Filmen findet. Ich würde sagen Wien retour funktioniert (auf ganz andere Weise) sehr ähnlich.

Patrick: Das könnte gut sein. Ich hatte auch das Gefühl, dass gerade diese Art wie sie diese beiden Menschen ansieht, unheimlich wichtig ist. Sie kommt da tatsächlich zur Seele der Figuren, zu dem was sich unter dem Sprechen befindet und gerade daher wird das Sprechen beziehungsweise Lesen wieder interessant. Auch die Art und Weise wie diese Briefe zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu einer Narration verdichtet wurden, ist brillant. Hast du dich auch von etwas begeistern lassen?

Rainer: Ich bin noch immer von Die Geträumten begeistert, auch wenn es schon ein paar Wochen her ist, dass ich ihn gesehen habe. In ähnlichem Ausmaß hat mich bisher nichts berührt, aber das Programm Innovatives Kino war sehr gut. Man kann ja nicht von jedem (Avantgarde-)Film verlangen, dass er einem mit einer hochkomplexen und perfekt durchartikulierten filmischen Haltung entgegentritt, aber es ist gut, wenn danach wenigstens die Augen bluten. Das hat mir in denen ersten beiden Programmen etwas gefehlt – die waren zu brav und zu leise – aber Rainer Kohlbergers not even nothing can be free of ghosts erfüllt diese Erwartungen vollkommen. Der spielt gleichzeitig mit der Wahrnehmung und versucht dir sehr offensiv die Sinne zu rauben. Ein rhythmisches Flackern algorithmischer Hell-Dunkel-Stakkatos und eine sehr aggressive Tonspur. Das macht schon Spaß sich so blenden so lassen. Einzig die Programmierung war etwas fragwürdig, denn gleich danach kam mit Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf ein zweiter Film ähnlicher Gangart, und ich war eigentlich schon nicht mehr aufnahmefähig. Der faszinierendste Film des Programms war aber Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba – über Marxt unterhalten wir uns auch jedes Jahr kommt mir vor?

Patrick: Ich denke nicht in Jahren. Ich denke in Filmen.

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Rainer: Nun gut, ich sehe aber seine Filme alljährlich bei der Diagonale und es scheint mir, dass sie immer zum Thema werden. Ich kann dir dieses Programm in jedem Fall nur von ganzem Herzen empfehlen. In welchen Filmen denkst du denn im Moment?

Patrick: Vielleicht denke ich wie ein Geträumter, weil wenn man in Filmen denkt und lebt, dann ist man ja irgendwie Teil dieser Fiktionen. So ein Fühlen, das es vielleicht gar nicht gibt und das sich trotzdem so viel echter anfühlt. Gestern hat sich der junge Darsteller aus Henry spät am Abend an unseren Tisch gesetzt. Er hat dann versucht – kurz nachdem Beckermann meinen Glauben an das Schauspiel erneuert hat – diesen gleich wieder zu vernichten. Aber wahrscheinlich war es nur Einbildung. Hat dich auch schon so richtig was enttäuscht oder aufgeregt?

Rainer: Dieser Junge war schon eine ziemliche Enttäuschung… Nein, Spaß beiseite, also die ersten zwei Programme Innovatives Kino waren schon in gewisser Weise eine Enttäuschung für mich. Von der Diagonale ist man da ein höheres Niveau gewohnt, aber es hat sich alles sehr brav, lasch und nichtig angefühlt. Mir fehlte da die Dringlichkeit, die gerade bei diesen Formen des Filmemachens gegeben sein muss, da sie sonst zur Stilübung verkommen. Ich überlasse dir einen Aufreger als wirkmächtiges Schlusswort.

Patrick: Nichts Schönres unter der Sonne/ als unter der Sonne zu sein.

I see the sun

She dawns

She burns

She grows

She feeds

She spews

She dies

Above us

Berlinale 2016: Love Diaz

El Buzo von Esteban Arrangoiz
  • Bevor ich einige Worte über den neuen Film von Lav Diaz verliere, noch ein paar kurze Bemerkungen zum Kurzfilmprogramm „Berlinale Shorts I“, das mit einer erstaunlich hohen Trefferquote an guten Filmen aufwartete. Drei der fünf Filme des Programms scheinen mir besonders erwähnenswert: Zum einen Siegfried A. Fruhaus Vintage Print, der in bester Flickerfilm-Tradition die Netzhäute des Publikums an ihre Leistungsgrenzen bringt (es ist meist ein gutes Zeichen, wenn ein Film im Programm mit Epilepsiewarnung angekündigt wird); zum anderen Ben Russells He Who Eats Children, der sich spielerisch mit einer lokalen Legende eines afrikanischen Dorfs auseinandersetzt. Dort wird ein weißer Mann bezichtigt Kinder zu essen und Russell begibt sich halb investigativ, halb augenzwinkernd mit ethnografischem Blick auf die Suche nach dem Ursprung dieses Mythos; zuletzt konnte mich Esteban Arrangoiz‘ El Buzo überzeugen. Der Film folgt dem Arbeitstag eines Tauchers, der in Mexiko City für die Wartung von Abwasserkanälen zuständig ist und vereint dabei erfrischende Neugier, eine gesunde Portion Komik und formale Experimentierfreude.
Hele Sa Hiwagang Hapis von Lav Diaz

Hele Sa Hiwagang Hapis von Lav Diaz

  • Hele Sa Hiwagang Hapis ist ein Koloss, soviel ist sicher, und das nicht nur wegen seiner acht Stunden Laufzeit. Es dauert sicher noch einige Zeit, bis ich den Film vollständig verarbeitet habe, aber zweifellos zählt er zu den besten Filmen des Festivals und schon jetzt zu einem der Highlights des aktuellen Kinojahres. Unfassbar was Diaz aus den Möglichkeiten der digitalen Bilderproduktion herausholt. Diese hat bekanntlich Schwierigkeiten in der Darstellung von Grauabstufungen und von tiefschwarzen Tönen, doch Hele Sa Hiwagang Hapis widersetzt sich dieser Feststellung. Die sorgsam komponierten Bilder übertragen die Farben des Dschungels in zahllose Nuancen zwischen Weiß und Schwarz, üppiges Blätterwerk lässt die Tableaus zu Bilderrätseln werden, mal neigen sie zur zweidimensionalen Flächigkeit, mal konstruiert Diaz durch elaborierte Belichtung des Bildhintergrunds vielschichtige, dreidimensionale Räume. All das ist kein plumper Ästhetizismus, sondern entspringt dem Umgang mit den lokalen Begebenheiten und der speziellen Inszenierungsweise von Diaz. In gewohnt langen, gemächlichen Einstellungen erzählt Hele Sa Hiwagang Hapis von der Philippinischen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei konzentriert er sich nicht auf die Helden des Aufstands selbst, sondern beschäftigt sich mit der Frage, wie es weitergeht, wenn die Revolution und ihre Kinder niedergeschlagen sind. Die Witwe des Revolutionsführers Andres Bonifacio begibt sich auf die Suche nach dessen Leichnam, das letzte Gedicht des Vordenkers José Rizal wird zur Inspiration für den jungen Intellektuellen Isagani. Man verbringt sehr lange Zeit mit diesen Figuren und ihren Geschichten, wenn die Dauer eines ermöglicht, dann ist es ein Gefühl der Zugehörigkeit. Nach acht Stunden will man das es einfach weitergeht, wie auch das Leben einfach weitergeht, danach über den Film zu schreiben macht ein Überwinden des Trennungsschmerzes unmöglich: Hele Sa Hiwagang Hapis ist ein Film der tiefe Wunden schlägt.
    Einziger Wermutstropfen: Die Untertitel hätte man nochmal Korrekturlesen sollen.
  • Nach Diaz war noch nicht Feierabend für mich: Volker Koepp zählt zur langen Liste von DEFA-Alumni, die sich vor allem in jener filmischen Form hervorgetan haben, die man gemeinhin als dokumentarisch bezeichnet. In minutiösen Studien hat er sich vor allem kinematografisch vernachlässigten Gebieten Deutschlands gewidmet. Für Landstück hat er sich zum bereits dritten Mal in seiner Karriere in die Uckermark begeben, einer landwirtschaftlich geprägten Region nordöstlich von Berlin. Das Hauptanliegen des Films scheint es zu sein, sich für ökologische Landwirtschaft starkzumachen und auf die Gefahren des Artensterbens hinzuweisen. Gerade noch so kratzt Koepp die Kurve, um nicht vollends zur Öko-Predigt und Glorifizierung von Aussteigertum abzukippen, insgesamt sind die anderen Aspekte des Films ohnehin interessanter: einerseits die Interviews mit einer Runde älterer Damen, die die landwirtschaftliche Entwicklungsgeschichte der Gegend beschreiben und andererseits die ausgiebigen Landschaftsaufnahmen, die als Einschübe rein ihrem ästhetischen Selbstzweck dienen.