WdK Tag 7: „Überschwang/Exuberance“ – Beauty without Pain? Planetarium von Rebecca Zlotowski + Fuddy Duddy von Siegfried A. Fruhauf

„Beauty without pain“. Der deutsche Filmemacher Philip Gröning gibt während der letzten Diskussion der diesjährigen Woche der Kritik eine Minimaldefinition von Kitsch um sein Erlebnis der ersten 15 Minuten von Planetarium zu beschreiben. Er habe sich im falschen Film gewähnt, so leer sei diese Schönheit. Der Film bediene da anfangs eine Retro-Ästhetik in vollen, warmen Farben, die sich irgendwann im Laufe der letzten Jahre durch die unreflektierte Übernahme von einem period Film zum immer nächsten als vermeintlich präzise Darstellung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etabliert habe.

Es gibt diese Ästhetik, man muss sich nur die letzten Filme von Woody Allen anschauen. Das ist wirklich sediertes, schmerzbefreites Kino, so unaufdringlich loungig wie die ewig plätschernde Jazz Musik, die aus dem Off kleistert oder auf den Partys der Cafe Society für die rechte Stimmung der Indifferenz sorgt (vielleicht hätte der in Cannes passender die Eröffnungsparty eröffnet als das Filmprogramm?). Stilistisch scheint Planetarium sich da anfangs einzureihen: warme Farbpalette, schwere Kontraste, wohlkadrierte Einstellungen, eine fließende Kamera, historisch korrekte Kostüme in säuberlich akkuraten Sets und, bitte, angenehm geschnitten das Ganze, keine Experimente. Auch inhaltlich passts, oder? Ein Schelm, wer da an Magic in the Moonlight denkt: in Zlotowskis Film sind es zwei junge amerikanische Frauen, Schwestern (Natalie Portman und Lily-Rose Depp), die im Paris der späten 30er Jahre mithilfe ihrer Fähigkeit Kontakt zu Geistern aufzunehmen an ein wenig Geld und Ruhm kommen wollen. Wie Emma Stone in Magic in the Moonlight treffen sie dabei auf einen Mann, der irgendwie im selben Geschäft tätig ist, in dem der Illusion. Der ältere Mann ist nun aber kein zynischer Zauberkünstler wie Colin Firth, sondern ein französischer Filmproduzent namens Korben (Emannuel Salinger), der sich der Schwestern annimmt um mithilfe ihrer Fähigkeiten das Kino zu seiner wahren Bestimmung zu führen: einen echten Geist filmen!

Versteht man Filme als die Summe ihrer Zutaten, die, wenn streng nach Rezept addiert, das Erwartbare ergeben, dann kann man nach 15 Minuten von Planetarium sagen (und es wurde in der Kritik gesagt): Alles da! Freuen wir uns auf ein psychologisches, schönes und ergreifendes Period Piece! Dann wird man aber auch nach spätestens 50 Minuten enttäuscht sein (und auch das war die Kritik), denn Zlotowskis Film bricht und durchlöchert nach und nach die vorgefertigten gültigen Formen eines 30er Jahre Dekadenz-und-Zusammenbruch-Epos. Es gibt da ein Zuviel, einen ‚Überschwang‘, der die gesetzten Erwartungen überdehnt und den Schmerz einholt um den Kitsch zu überholen. Zu viel Präsenz, die Kamera rückt den Gesichtern und Texturen zu nah und führt sie über einen psychologischen Darstellungsmodus hinaus. Salingers große runde Augen sind so unergründbar traurig, Lily-Rose Depp ist so großartig blutleer und ausdruckslos. Das Kino, die Kamera ernähre sich parasitär von ihrem Leben, bemerkt Philip Gröning in der Diskussion. Die Kostüme sind zu extravagant und die Sets zu abgründig, die riesenhaften Knöpfe an Natalie Portmans Hosenanzug weisen darauf hin, genauso wie die ausgestellten toten Mäuse in Salingers Haus: Das ist eine Filmwelt, historische Wahrheiten gibt es hier nicht einfach so zu sehen. Aber was gibt es in Planetarium dann?

Neben dem Zuviel gibt es ein Zuwenig, Lücken, die der Film in seine eigene Form reißt. Am Anfang noch sehr eng erzählt, lösen sich die direkt kausalen Beziehungen der Montage langsam auf und es bleiben lose Enden. Plötzlich sind die Schwestern getrennt und der Jude ist enttarnt. Dann geht alles ganz schnell: der Schriftzug auf dem Spiegel, die Aufsichtsratssitzung, der Schauprozess, das Gefängnis und Korben ist aus dem Film verschwunden. Zwischendurch scheint der Versuch Geister zu filmen nach langen Tests in einem futuristischen Labor gelungen zu sein, um sich dann vor versammeltem Publikum und den Augen der Kamera doch als gescheitert zu erweisen. Der Film schafft hier Unsicherheiten und unlösbare Fragen, die mit der klassischen Form des auf Linearität angelegten ‚Historiendramas‘ nicht vereinbar sind.

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Während in Woody Allens Magic in the Moonlight die romantisierte Liebesgeschichte und die nebulöse, dabei stets verwaschen ungenaue Zauberei-Allegorie in Beliebigkeit aneinander vorbeireden, sind für Planetarium seine Reflexionen des Kinos notwendig Teil der Geschichte die er erzählt und deshalb ebenso historisch eingebunden. Ineinander reflektieren sich die historischen Umstürze der späten 30er Jahre und die Erkenntnismöglichkeiten der spezifischen filmischen Form. In seinem Spiel mit den Zuschauererwartungen versucht Planetarium einerseits sich aus seiner eigenen Form zu befreien, erkennt aber zugleich, dass eine sinnvolle Kritik nur aus dem Inneren der Form möglich ist, indem ihre Unzulänglichkeiten aufgedeckt werden. Der Film muss vor sich selbst kapitulieren.

Der Vorwurf der Kritik, der Film sei ein „meandering mess“, hervorgebracht von Owen Gleiberman für Variety (und stellvertretend für die amerikanische Kritik überhaupt), lässt sich so als zunächst neutrale Beobachtung aufnehmen und ins Positive wenden. Die losen Enden der Erzählung und einiger Montagesequenzen, sowie die Auslassungen aller Schreckensbilder, die als ewige Erwartungsbilder des Historiendramas sonst da stecken, wo Zlotowskis Film sich selbst durchlöchert hat – keine Gestapo im Regen, keine unberechenbar charmanten SS-Offiziere, keine Menschentransporte, keine Begräbnisse, ja, überhaupt keine Gewalt, kein Tod im Bild – weisen Planetarium als Film aus, der reflektiert hat, dass es Dinge gibt die sich in einer bestimmten Form nicht darstellen lassen. Dabei tappt er klugerweise nicht in die Falle des Bilderverbots, in die Son of Saul sich so überzeugt hineingeworfen hat, als er die Ästhetisierung des Schreckens im Bild einfach ersetzt hat mit der Ästhetisierung des Schreckens im Ton und einem aufdringlich nahen Off. Planetarium hält die Bilder des Schreckens so fern wie möglich, im vollen Bewusstsein, dass er sie eh nicht wird davon abhalten können, die Auslassungen zwischen Festnahme, Gericht, Gefängnis und Verschwinden zu bevölkern.

Der wichtigere Unterschied scheint mir aber zu sein, das Nicht-Zeigen mit den Notwendigkeiten einer historischen Situation und einer inhärenten Formenkritik zu verbinden, statt sich wie Son of Saul damit zu brüsten eine ‚Antwort‘ auf ein etwaiges, externes Bilderverbot gefunden zu haben. Planetariums zunehmend gestörten Erkenntnismöglichkeiten reflektieren den historischen Zustand einer Welt, die, je näher sie dem erwartbaren Abgrund kommt, umso weniger verstehen und glauben mag von dem bevorstehenden Fall. Diese Verwirrung von Erwartungen kann der Film formal einholen, weil er sich einer klassischen, erwartungsbeladenen Form bedient, aus der er sich ebenso wenig zu befreien vermag, wie Salinger, der noch im Gefängnis an das gute Ende glaubt. Das Problem des Verstehens eines historischen Prozesses wird hier konsequent in ein Problem der Formen des Denkens überführt. Wenn die Formen des Denkens nicht Schritt halten können mit den historischen Ereignissen, dann wird ein Verständnis unmöglich. Das neoklassische Historiendrama dekonstruiert sich hier selbst, aber schafft es im Einklang mit der Geschichte nicht, sich ganz zu zerstören, um Platz zu machen für eine neue Form, ein neues Verstehen.

Der im Anschluss vorgeführte Fuddy Duddy, ein etwa 5 Minuten langer Experimentalfilm von Siegfried A. Fruhauf, macht dieses Formproblem offensichtlich. Vollkommen evident erscheint mir die gemeinsame Programmierung der beiden Filme: Fuddy Duddy macht die Bilder, die Planetarium nicht möglich sind. Eine Ordnung von Quadraten zerstört sich in aggressivem Dauerflackern selbst und bildet die Illusion einer Tiefe, eines Abgrundes in der Mitte der Leinwand. Das ist die Umpolung des Kinos – voll auf Angriff! –, die mit Kriegs- und Schreckensbildern quasi die Lücken von Planetarium ausfüllt und  einen direkten Schmerz erfahrbar macht. Der Schmerz in Planetarium selbst ist immer ein indirekter, der aus den Diskrepanzen zwischen dem formal zu Erwartenden, dem Gezeigten und den allseits bekannten historischen Fakten entsteht. Am Ende des Films, im Jahr 1943, steht Laura Barlow (Natalie Portman), inzwischen Schauspielerin, im Set an einem Fenster, schaut in den Sternenhimmel aus Lichterketten und spricht in ihrer Rolle als Waisenmutter: „Tomorrow will be a great day!“

Die Sehnsuchtsmaschine – Die Distanz des brachialen Fühlkinos

In meinen Nächten denke ich oft an deine Tage, dein Licht. Die Hysterie und den Druck, der bei dir fließt. Die Schreie, der Speichel, die Gedärme. Die Direktheit, die etwas fühlen will: Philippe Grandrieux, Andrzej Żuławski, die Haut bei Claire Denis, die Musik bei Leos Carax, der Gestus von Gaspar Noé. Das Problem: Oft fühle ich keine Sensualität, wenn jemand sie mit dem Holzhammer in mein Gesicht schleudern will. Aber Antonin Artaud verschluckt die grausame Sonne.

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Normal beschäftige ich mich sehr viel mit Fragen der Ethik und Distanz im Kino, ich interessiere mich für die Dinge, die man nicht sehen kann, die Dinge, die verloren scheinen und die Moral der Kamera, die ein Bewusstsein verlangt, die weiß, dass eine Totale keine Totale und eine Nahaufnahme gefährlich ist. Hier liegt für mich eine Sinnlichkeit. Das sind logische Fragen, wenn man das Kino in seiner Zeit begreift und begreifen will, wenn man so möchte, modernistische Fragen. Einfach zu sagen: Was mir gerade richtig erscheint, ist richtig oder was sich gut anfühlt, ist gut, ist letztlich nur die fatale Bequemlichkeit einer Überforderung im zeitgenössischen Kino, die nicht mehr weiß, was sie gut finden soll und die deshalb aus unfassbar durchschaubaren Statements besteht. Das Lieblingswort in diesem Kontext: Meisterwerk. Die Lieblingskamerabewegung: Kranfahrt. Das ist alles kaum glaubhaft. Nein, ein Film sollte eine Position zur Welt und eine Position zum Kino vermitteln, fühlbar machen, selbst wenn diese Position ist, dass man keine Position haben kann. Auch wenn sich diese Position durch eine Kranfahrt vermittelt. In der Regel fühle ich mich eher zu jenen Filmemachern hingezogen, die sich der Krise ihrer Bilder bewusst sind. Ich halte sie für ehrlicher, konsequenter. Man kann zum Beispiel nicht einfach ein Bild zweier trauernder Menschen fotografieren. Das geht nicht. Darin steckt schon so viel und darin steckt auch immer eine Lüge. Die Direktheit dieser Emotionen scheint nur mehr eine Wiederholung. Nun geht es nicht darum, wie ich es immer wieder lesen muss zu meiner Verwunderung, dass man etwas gänzlich Neues schafft. Es geht aber doch um eine Fortsetzung, etwas muss dem Bekannten hinzugefügt werden. Alain Badiou hat in diesem Zusammenhang ein Erbe der Nahaufnahme, das von Griffith über Dreyer zu Bresson reicht, vorgeschlagen. Godard hat dem noch etwas hinzugefügt, in dem er das Gesicht verdoppelt hat, der sich bewusste Zuseher ist ein Spiegel, Anna Karinas Tränen glitzern im Licht der Projektion. Es gibt in der Folge Filmemacher, die das weitergeführt haben. Abbas Kiarostami, dessen Spiegel schon wieder ein Spiegel ist und Bruno Dumont, der zurück zu Dreyer ging und statt der Entleerung des Spirituellen dessen Deformation vorgeschlagen hat. Es gibt ein paar Nahaufnahmen in den letzten Jahren. Es gibt jene von Vanda in No quarto da Vanda, die entrückt, erhöht und in der Zeit verzögert wird von Costa. Das ist ein Schock, wie wenn Gene Tierney in Lubitschs Heaven Can Wait reinläuft in einem lila Kleid (und ich mag kein lila). Ein Schnitt von Costa, der schockt, weil er Angst zu haben scheint, vor der Nahaufnahme. Wer überlegt sich sonst, wann man eine Nahaufnahme machen darf?

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Oftmals stoße ich in solchen Gedankengängen an eine Grenze. Was kann man eigentlich noch filmen? Was gibt es noch zu filmen? Auch: Was gibt es, was ich genuin mit der filmischen Sprache besser einfangen kann, als mit den scheinbar zeitgenössischeren Sprachen? Was gilt für dich? Die Aktualität des Kinos ist zu oft das Gestern, es sind die Nächte von gestern, von denen wir träumen. Dieses Gestern muss aber ein Teil des Heute sein, ein Teil des Morgen. Allerhand abstrake und nebulöse Formulierung, die auf das Problem der Ungreifbarkeit dieses Problems hinweisen, denn wo würde man beginnen? Es geht hier um eine andere Form der Distanz, die ich in dieser einleitend angesprochenen Nähe vermute. Wenn das Kino fragen daran stellen muss, was und wie man noch filmen kann, dann ist dieses Hinabsteigen in das Blut, die Fasern, die reine Präsenz des Körperlichen eine logische Antwort. Es drückt genau wie die Langsamkeit und die Sorgfalt des Bildes ein Begehren aus, dass sich aus dem Vakuum einer gesellschaftlichen (Bild)-Politik ernährt. Das Kino als Antwort, als Lösung auf ein Fehlen im Alltag. Wenn alles zu schnell passiert, kann das Kino es festhalten, entschleunigen. Wenn alle Bilder in einem einzigen schlampigen Rausch vorbeihuschen, kann das Kino die Konstruktion, den Blick, die Poesie des einzelnen Bilds würdigen. Und wenn man nichts mehr fühlt auf all den glatten Oberflächen, kann das Kino eine Erfahrung von  Körperlichkeit bieten. Kann es? Es gab immer auch schon die gegenteilige Ansicht, vertreten von den klügsten Menschen ihrer jeweiligen Länder: Das Kino als Ausdruck oder Spiegel der Erfahrung des Alltags. Ich fand diese Ansicht zwar nachvollziehbar im Kontext der Industrialisierung, aber dennoch ignorant, da sie das Begehren verschluckt. Das Kino ist die Nacht, die schöner ist als dein Tag.

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Überlegungen zur Distanz hängen an mehreren Faktoren. Da wäre zum einen die moralische Frage. Eine Nahaufnahme, das hätte man auch schon vor Jacques Rivette wissen können, trägt in sich das Potenzial zur Obszönität. Sie kann Entblößen, sie kann vergewaltigen, sie kann sich an etwas freuen, wo sie eigentlich leiden müsste. Das gilt für alle Einstellungen, die Nahaufnahme ist nur die expressivste. Als Filmemacher zu behaupten, dass man – wie zum Beispiel Grandrieux in Sombre – in die Erfahrungswelt eines Mörders eindringen kann mit der Kamera, ist gefährlich. Es ist aber zugleich utopisch im Sinn eines vergessenen Wollens von Jean Epstein. Die Kamera wird dann zu etwas anderem, man hat sie haptisch genannt. Die Distanz scheint zu verschwinden und in diesem Verschwinden sammeln sich die Tränen eines unerreichbaren Begehrens, das wiederum an die Distanz erinnert. Schrecklich ist es dagegen und aus ethischen Gründen nicht duldbar, wenn das Überwinden der Distanz zum Gimmick wird. So verhält es sich im gefeierten Saul fia von László Nemes. Dieser Film ist ein Affront gegen die Moral des Kinos und es ist ein derart durchdachter Angriff, dass einem ganz übel wird vor lauter Haltlosigkeit. Die Überwindung der Distanz erzählt oder vermittelt hier genau was? Es ist eine Behauptung, die sich hinstellt und sagt: So hat sich das angefühlt, angehört in einem Konzentrationslager. Eine solche Behauptung ohne Zweifel abzugeben, ist ziemlich lächerlich. In Verbindung mit einer zutiefst allegorischen Geschichte wird der Stil dann tatsächlich zum Gimmick, denn am Ende geht es hier nicht um die Erfahrung, sondern um die Moral. Man könnte sagen, dass die Idee des Films ist, dass gerade aus dieser Erfahrung die Wichtigkeit einer solchen Moral entsteht, dann würde man aber übersehen, dass sowohl die Erfahrung als auch die Moral im hohen Grade fiktional sind in diesem Film, es also einen Rückschluss von Lüge zu Lüge gibt, der sich als Wahrheit ausgibt. Das ist natürlich in Ordnung für ein unterhaltsames Kino, aber ist es in Ordnung für einen Film über ein Konzentrationslager?

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Ein weiterer Faktor der Distanz ist die Effektivität und Notwendigkeit. Chaplin ist und bleibt das Überbeispiel für einen Filmemacher, bei dem die Kamera immer richtig zu stehen scheint. Es geht dabei nicht unbedingt um eine erzählerische Effektivität, sondern auch um jene des Blicks, des Lichts der Nacht. David Bordwell hat diesbezüglich sehr viel über Hou Hsiao-hsien nachgedacht, bei dem die Distanz einen anderen Blick ermöglicht und kombiniert mit Licht, Ton, Bewegungen der Figuren und Kamera eine eigene Form filmischen Erzählens offenbart, die eben nur aus dieser Entfernung oder sagen wir: nur aus einer Entfernung möglich ist. Damit zeigt sich auch, dass Distanz nicht nur an der Notwendigkeit hängt, sondern auch am Potenzial. Viktor Kossakovsky ist ein Filmemacher, der sich in seinen Arbeiten immer langsam nähert, der immer aus einer Distanz beginnt. Es geht dabei nicht nur um einen Respekt vor den Menschen, die er da filmt, sondern auch darum, dass erstens in einer Totale mehr Spielraum für Bewegung herrscht und die Totale auch immer die Möglichkeit des Näherns in sich trägt. dasselbe gilt natürlich andersherum, doch scheint mir das Potenzial des Näherns zärtlicher, als jenes einsame Potenzial des Entfernens, das dennoch oder deshalb einen berührenden Effekt haben kann. Hou hat einmal gesagt, dass er sich selbst in dieser Distanz spürbar machen kann. Pasolini hat darüber geschrieben. Das spannende jedoch, so scheint mir, passiert immer dann, wenn diese Distanz entweder wie im Fall von Michelangelo Antonioni oder des jungen Jean-Luc Godards die Weltwahrnehmung der Figuren spiegelt oder eben, wie im Fall des späteren Godards, Costas oder Straub&Huillets die Problematik der Objektivität, der Ethik zu einem Teil der Effektivität macht. Was aber, wenn ein Filmemacher diese Übersicht, die auch ein Gewissen ist, über Bord wirft. Der diese Woche verstorbene Zulawski ist ein Beispiel für den Versuch dieser Überwindung zwischen Körperlichkeit, Handkamera-Nähe, Blicken in die Kamera und Schreien die das Mikrofon überrumpeln. Doch ganz ähnlich wie bei Hou scheint er dadurch auch eine erzählerische Distanz zu gewinnen. Es ist der Auftritt von Paranoia statt Nostalgie, der Glaube an Liebe/Lust statt Gleichgültigkeit/Entfremdung. Auch Zulawski ist auf der Suche nach einem Versprechen und einem Begehren: Das Leiden auf Film greifbar machen statt nur zu beobachten wie es nicht greifbar ist, sich auflöst, sich ausbreitet. Damit entstehen die Bewegung von Distanz und großer Nähe aus demselben Verlangen. In beiden liegt die Sinnlichkeit einer anderen Wahrnehmung und so beginnen sich die Entfremdung und die Lust zu vermischen. Ein Filmemacher, der nahezu in Perfektion im Zwischenspiel aus Immersion und Distanz arbeitet, ist Apichatpong Weerasethakul. In seinen jüngeren Werken fühlt man sich zunächst oft aus kühler Entfernung beobachtend bis man in einen Sog fällt, der jenen der Figuren spiegelt. Ganz ähnlich verhält es sich mit Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni.

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Einer der offensichtlichen Folgen dieses Gefühls des Verschwindens mit dem unbedingten Wunsch des Spürens, der sich nicht sicher ist, ob er die Sache selbst oder ihr Sterben spüren will (das gilt gewissermaßen schon immer und seit seinem Tod besonders für das Kino) oder kann, ist Dekadenz. Der genuine Filmemacher unserer Zeit und legitimer Nachfolger von Luchino Visconti diesbezüglich ist Bertrand Bonello. Das liegt nicht nur daran, dass seine Stoffe wie in L’Apollonide – Souvenirs de la maison close oder Saint Laurent ganz offensichtlich mit Dekadenz gefüllt (oder sollte man sagen: entleert) sind. Bei ihm ist es schwer, zwischen Distanz und Eintauchen zu unterscheiden. In einer beeindruckenden Montagesequenz in seinem Saint Laurent, in der in einem Splitscreen die jeweiligen Kollektionen von Saint Laurent mit gleichzeitigen politischen Ereignissen und Katastrophen explosiv kombiniert werden, verbindet er eine politisch motivierte Kritik mit der musikalisch provozierten völlige Hingabe in diese Schönheit und Ignoranz. Es gibt Autoren, die über das Kino schreiben, die ganz ähnlich arbeiten. Sie versuchen das Empfinden in Worten auszudrücken (völlig hilflos, natürlich) und zugleich eine kritische Distanz zu wahren. Ich gehöre wohl auch dazu. Man könnte eine Frage an das Kino stellen, die da lautet: Wie sieht ein Kino denn ohne Distanz aus? Die Antwort wäre wohl: Das ist kein Kino. Dennoch ist ein andauernder Aufschrei nach einem naiven Fühlkino zu vernehmen. Es ist ein bisschen paradox, schließlich fühlt man auch oder gerade aus der Distanz. Soll man die Leinwand einreißen? Manchmal habe ich den Eindruck, dass in dieser Forderung, diesem Verlangen eher das Absterben der eigenen Gefühle im Kino betrauert wird. Doch je weiter man in Filme eintaucht, desto mehr droht man sich emotional von ihnen zu entfernen. Das Gegenteil ist eine Behauptung.

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Ein dritter Faktor der Distanz ist jene Bild-Qualität des Kinos, die dazu führt, dass Godard basierend auf prägenden Überlegungen Jerry Lewis mit einem großen Maler vergleicht. Der Film als Bastard-Kunst behauptet in der Distanz oft seine Nähe zu Malerei (in der Nähe jene zur Musik?) und zu dem, was viele als Essenz bezeichnet haben, die Fähigkeit zur Aufnahme/Beobachtung von bewegter Realität. Distanz fühlt sich neutraler an. Letztlich ist sie aber nur neutraler, wenn sie sich als Distanz offenbart. Ein gutes Beispiel dafür sind Oberflächen. Seien es Türen, von denen Costa gerne spricht, Seidenvorhänge bei Hou, der Off-Screen bei Renoir oder Puiu, die Sprachlosigkeit beim frühen Bartas, die Unschärfe bei Ceylan oder hunderte andere Beispiele…hier werden Filter vor unseren Blick geschoben, die uns die Distanz, die Perspektive als solche bewusst machen. Hier findet sich vielleicht auch ein Problem des meist gefeierten Michael Haneke. Denn die Sprache des kühlen Riegels, der sich vor die Emotion spannt, ist prinzipiell eine, die in dieser Tradition der Distanz steht, nur gewinnen die oben genannten Filmemacher aus ihrer Distanz und aus diesem Riegel eine neue Zärtlichkeit, jene der Oberflächen, die dann wiederum eine Verwandschaft aufweist zur extremen Nähe, zum Fühlen der Oberflächen etwa bei Claire Denis, in deren Kino Haut knistert wie ein brennender Baum. Bei Haneke ist eine Tür eine Tür. Das ist natürlich keineswegs negativ, aber manchmal scheint es, als würde die Tür wirklich nur im Weg stehen während sie etwa bei Costa selbst eine Bedeutung hat. Und in diesem Sinn ist die Tür eben bei Costa eine individuelle Tür, während sie bei Haneke nur die Idee einer Tür repräsentiert. In Costas Fall ist die Kamera ein Sensor, der alles sieht, selbst wenn er nicht kann, bei Haneke ist sie ein Sensor, der limitiert ist, obwohl er alles sieht. Costa gewinnt aus der Limitierung, aus der Krise eine Poesie (man vergleiche damit auch den Dialog über die Schatten und Geschichten an den Wänden in Juventude em Marcha, in dem Ventura und eine Tochter sich über die neugestrichenen Wände in den neuen Wohnungen beschweren, weil diese keinen Platz mehr lassen für die Illusion) während Haneke – und das macht einen Teil seiner Attraktivität aus – darin eine Verneinung, eine Desillusion findet. In diesem Sinn ist die Distanz von Costa nichts anderes als die Nähe von Denis. Es sind individuelle Perspektiven, die etwas objektives sichtbar machen. Jean Epstein hat an den Blick der Kamera selbst geglaubt. Könnte man dahin zurück?

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Ein brachiales Fühlkino, was soll das eigentlich sein? Man denkt schnell an aufgesprungene Grenzen, Farbexplosionen, eine Bedingungslosigkeit, die sich weder technischen, noch kommerziellen, noch filmtheoretischen Überlegungen beugt. Man denkt an eine Entfesselung des Blicks, der sich nicht mehr an das Prinzip der Natur klebt, sondern durch die kinematographischen Räume flirrt, schwirrt und geistert, unbeeindruckt voller Eindrücke, der Unsichtbares komplett sichtbar macht und Sichtbares frisst. Schnell ist man in der Avantgarde bei Filmemachern wie Paul Sharits. Dieses Kino ist ein Traum, der sich am ehesten in der Distanz zwischen seiner Illusion und diesen Gefühlen offenbart, er wird also realistisch, wenn man sich auf die Distanz selbst fokussiert. Denn wenn man eines bei den großen Filmemachern des (zeitgenössischen) Kinos beobachten kann, ist es ihre Fähigkeit das „Dazwischen“ zu filmen. Zwischenzustände zwischen Leben und Sterben, zwischen Dokument und Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit, Stillstand und Bewegung, Flüstern und Schreien, Zeit und Zeitlosigkeit, Nostalgie und Hoffnung, Wut und Ohnmacht, Liebe und Müdigkeit, Verbitterung und Enthusiasmus, das Außen und Innen. Wie filmt man den Tonfall von Flaubert? Wie filmt man einen Trinkspruch von Orson Welles („Here is to character!“)? Wie filmt man, das man nichts mehr filmen kann? Ein Gefühl, dass das Kino nicht mehr notwendig ist. Man fühlt entweder die Geschichte und/oder das, was sich vor der Kamera abspielt oder die Kamera selbst, am besten beides zugleich, weil es nicht unabhängig voneinander existieren kann. Man fühlt den Gedanken, sei er politisch, moralisch oder dramaturgisch einer Einstellung und denkt das Gefühl einer Träne, die die Hauptdarstellerin weint und die von der Kamera tropfen muss.

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Doch die Kamera kann auch gleichgültig sein. Wenn bei Moses und Aaron von Straub/Huillet die eiternde Leprahand im Bild ist, spürt man gerade in der Gleichgültigkeit eine Sinnlichkeit. Bruno Dumont hat diese Gleichgültigkeit immer weiter gesteigert bis er selbst/selbst er den Humor darin gefunden hat. Das Fühlen einer Gefühlsabwesenheit. Das Ausdrücken dessen, was man nicht ausdrücken kann. Das Kino bleibt eine Sehnsuchtsmaschine. Relativ, weil sie zwischen den Bildern agiert, absolut, weil sie in den Bilder dazwischen existiert, maschinell, weil sie technisch hergestellt wird, eine Sucht, weil sie immer wieder sehen muss, immer wieder verlangt, Verlangen sichtbar macht. Das brachiale Fühlkino gibt es nicht. Es ist das notwendige Potenzial des Kinos. Ohne die Idee eines „Mehr“, ohne die Idee eines „Anders“ gibt es keine Kinokultur. Das große Problem des Kinos ist dann, dass heute dieses „Mehr“ und „Anders“ oft in eine Vergangenheit rückt beziehungsweise in ein für den normalen Kinogänger unsichtbares Kino. So transformiert sich diese Distanz in eine Frustration, die mit dem Slogan „Das Kino ist tot.“ schon seit Jahrzehnten ihren philosophischen Schlusspunkt erlebt hat. In dieser Ohnmacht herrschen subjektive Wahrheiten, weil alles andere fatal wäre, es herrscht ein Krieg der Anerkennung, eine Profilierungssucht von Menschen, die allesamt ums Überleben rennen und dabei so tun als würden sie lieben. Manchmal weiß man nicht, ob Filmemacher wirklich an ihr Kino glauben und Kritiker wirklich an ihre Meinung. Sie schreien: „Das Kino lebt!“, und präsentieren ihre filmische oder intellektuelle Sicht auf Dinge mit einem Minimum an Zweifeln, die sie ja durch Recherche, Arroganz, Notwendigkeiten ignorieren können. Sie spielen eine Rolle und offenbaren dadurch, dass das Kino nicht fühlt oder blickt, sondern nur spielt. Es ist normal und schrecklich. Das brachiale Fühlkino gibt es nicht. Es ist Pornografie. Nicht des Blicks, sondern der Macher und Schauenden.

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Am Ende spricht das Kino trotz aller gegenteiligen und tröstenden Versuche nur zu einem selbst. Das Irreale wird in solchen Momenten für einen Augenblick real.Dann gehen wir ans Set und bereiten eine Nahaufnahme vor. Was wird man sehen? Darf man noch etwas sehen? Der Versuch ist ein Verbrechen. Man muss sich bewusst machen, dass eine Nahaufnahme entweder ein Verbrechen ist oder ein Liebesakt. Bernardo Bertolucci hat einmal über seine erste Begegnung mit Pier Paolo Pasolini erzählt. Er war im Haus seiner Familie und jemand hat geklingelt. Vor der Tür stand ein junger Mann, der wie ein Arbeiter an einem Sonntag gekleidet war. Der Mann sagte, dass er gerne den Vater sehen würde. Etwas an seinem Blick, hat Bertolucci glauben lassen, dass dieser Mann ein Dieb sei, der geklingelt hatte in der Hoffnung, dass niemand dort sei und der dann eingebrochen wäre. Bertolucci ging zu seinem Vater und sagt ihm, dass ein komischer junger Mann vor der Tür stand. Der Vater sagte ihm, dass das ein großer Poet sei.

Approved by Lanzmann: Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Außer dem unlängst erwähnten Saul fia, war in Hamburg noch ein weiterer Film über den Holocaust zu sehen. In A Nazi Legacy: What Our Fathers Did werden Horst von Wächter und Niklas Frank, Söhne ranghoher NS-Beamter, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Während Frank seinen Vater für seine Taten als Generalgouverneur von Polen verurteilt, weigert sich Wächter seinen Vater, den er als liebendes Familienoberhaupt in Erinnerung hat, als Monster abzustempeln. Wenig raffiniert spielt der Film die beiden gegeneinander aus und über die zunächst ambivalenten Beziehungen zwischen Vater und Sohn wird schon bald geurteilt. Mit Fortdauer des Films wird Wächter immer mehr antagonisiert; schließlich wird das komplizierte Geflecht aus Emotionen, Gedächtnis und moralischer Verantwortung schlicht in Gut (Niklas Frank) und Böse (Horst von Wächter) eingeteilt. Den Wendepunkt in der Inszenierung stellt der Besuch eines Veteranentreffens einer SS-Hilfseinheit in der Ukraine nahe Lemberg, dem ehemaligen Arbeitsplatz von Vater Wächter, dar. Dort wird der Sohn des ehemaligen Gouverneurs von Galizien von den Veteranen und den Sympathisanten herzlich willkommen geheißen. Unter ihnen sind jene, mit NS-Insignien geschmückten, ukrainischen Ultranationalisten die während der Maidan-Proteste in den Fokus der Weltöffentlichkeit getreten sind. Der Film verzichtet jedoch zugunsten einer eindeutigeren Dramaturgie, weitestgehend darauf diesen Bezug herzustellen, beziehungsweise die Rolle der ukrainischen Nationalisten im Zweiten Weltkrieg und in der Sowjetunion überhaupt, näher anzusprechen. Eine nicht zu verachtende Anzahl anti-russisch eingestellter Ukrainer hatte sich in den Kriegsjahren in den Dienst Hitlers gestellt, mit der Aussicht mit einer freien und unabhängigen Ukraine belohnt zu werden. Diese Männer verrichteten Hilfsarbeiten für die SS, ukrainische Wachmänner versahen zum Beispiel im polnischen Vernichtungslager Sobibor Dienst. Auch an jenem 14. Oktober 1943, als dort ein Aufstand der Gefangenen glückte, dem Claude Lanzmann ein filmisches Denkmal setzte.

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures beruht, wie der Großteil von Lanzmann Filmschaffen, auf seinen Recherchen zu Shoah. Im Zuge der Arbeiten für sein monumentales Epos interviewte er 1979 in Haifa Yehuda Lerner, einen der wenigen Überlebenden des Aufstands von Sobibor. Obgleich das Lager selbst im Film vorkommt, lässt Lanzmann keines der Opfer zu Wort kommen; die rund zehn Stunden Material mit Lerner behält er jahrelang in Evidenz, bis 2001 Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures erscheint. Der gebürtige Warschauer Lerner war nach acht Ausbruchsversuchen aus verschiedenen Arbeitslagern, im Minsker Ghetto in eine Gruppe jüdisch-sowjetischer Kriegsgefangener geraten. Mit dieser Gruppe wurde er ins Vernichtungslager Sobibor transportiert, wo er sich als einer von 60 der über tausend Männer zum Arbeitsdienst meldete und so dem Tod entging. In für Lanzmann typischen, langen Interviewpassagen, die nur durch die Übersetzungen der Dolmetscherin unterbrochen werden, erzählt Lerner von den Vorbereitungen und der Durchführung des Aufstands. Im Vergleich zu Shoah hat sich das strenge formale Gerüst in Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures mittlerweile ein wenig verändert. Allein deshalb, weil Lanzmann auf ein Interview zurückgreift, dass zum Zeitpunkt der Produktion schon über zwanzig Jahre alt ist. Diese Aufnahmen von 1979 konfrontiert er mit aktuellen Bildern aus Warschau und Sobibor. Der Film endet mit einer Liste der Transporte aus den verschiedenen Teilen des Reiches, die Lanzmann selbst vorliest. Trotz allem bleibt der Franzose in formaler Hinsicht ein radikaler Purist. Er arbeitet ohne Archivaufnahmen, ohne gesprochene Kommentare, lehnt Rekonstruktionen ab, denn was damals geschah, könne man ohnehin nicht durch solche Mittel fassbar machen. Stattdessen lässt er Zeitzeugen zu Wort kommen; oral history nennt das der Fachmann. Die Wirkung von Lanzmanns Filmen liegt einerseits an seiner meisterhaften Interviewtechnik, einem stetigen Nachbohren und Nachhaken, das jedoch nie aufdringlich oder aggressiv wird, und kluger Montageentscheidungen, die zahllose Stunden Rohmaterials in eine geglättete, kohärente und stringente Form bringt. Lanzmanns Filme sind massive Zeugnisse unvorstellbarer Ereignisse und zweifellos meisterhafte Werke der Kunstgattung Film, doch der Mythos, der sich mittlerweile um die Person Lanzmann rankt ist problematisch. Wenn junge Regisseure wie László Nemes bei Lanzmann vorstellig werden, um sich Absolution erteilen zu lassen und das Urteil des alten Meisters dann als Adelsprädikat – approved by Lanzmann – mit sich herumtragen, dann hat das einen faden Beigeschmack. Lanzmann hat sich seine Position als (filmischer) Doyen in Holocaustfragen, durch seine jahrelange mühevolle Recherche und die akribische Arbeit am Material erworben, doch seine zweifelhafte Rolle als Moralapostel rechtfertigt sie nicht. Kürzlich war Marcel Ophüls mit seinem Film The Memory of Justice in Wien zu Besuch. Ophüls hat wie Lanzmann lange Jahre seines Lebens mit der filmischen Aufarbeitung des Holocausts verbracht, doch im Gegensatz zu Lanzmann, hat ihn diese Arbeit nicht gleichermaßen verhärten lassen. Ophüls, so mein Eindruck, hat nie verlernt neue Wege zu gehen und neue Perspektiven zuzulassen, bei Lanzmann fehlt mir dieses Gefühl.

Filmfest Hamburg Diary: Tag 7: The Song of Saul

The Song of the Sea von Tomm Moore

„Hamburg ist nicht nur eine Stadt, Hamburg ist eine Einstellung.“ – Some random guy

Der Deutsche ist als pünktlicher Mensch bekannt (man möchte sagen „verschrien“). Das ist prinzipiell eine durchaus löbliche Eigenschaft, doch treibt sie hier recht seltsame Blüten. Zwar schätze ich es, wenn nicht Verspätungen meine sorgfältig getakteten Pläne über den Haufen werfe, doch einen Film gar mehr als fünf Minuten vor angekündigtem Beginn anlaufen zu lassen, schießt dann doch etwas über das Ziel hinaus. So waren gerade die ersten Sekunden aus Saul fia zu sehen, als ich pünktlich um 16:55 zur 17-Uhr-Vorstellung in den abgedunkelten Kinosaal trat. Nicht nur, dass das für mich persönlich sehr ärgerlich war, die Anzahl der Zuspätkommenden (die es immer gibt) erhöhte sich dadurch beträchtlich (genau genommen, kamen sie, wie ich auch, gar nicht zu spät) und die ersten fünfzehn Minuten im Saal waren dementsprechend unruhig.

Son of Saul von László Nemes

Saul fia von László Nemes

Saul fia wurde seit seinem Erscheinen, wahrscheinlich zu Recht, von einigen Seiten für seine marktschreierische Ästhetik und seine Behandlung der heiklen Holocaust-Thematik kritisiert. Saul fia ist auf keinen Fall ein Meisterwerk, Filmemacher wie Alain Resnais oder Claude Lanzmann haben sich des Themas auf eine Art und Weise angenommen, die László Nemes nicht erreicht. Sollte man angesichts dieser gewichtigen Vorarbeit damit aufhören, den Holocaust filmisch zu verarbeiten? An manchen Stellen wirkt der Film ohne Zweifel wie „ein Konzeptfilm, der nicht an seinem Konzept interessiert ist, sondern am Effekt dieses Konzepts“, wie Patrick es formuliert hat. Was Nemes unternimmt ist gewagt und seine Motive sind alles andere als klar, doch ungeachtet dessen ist Saul fia eine spannende Gratwanderung zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, die nicht immer gelingt, aber es trotz aller Zweifel vermag, drängende Fragen aufzuwerfen. Der Film ist ein Schmelztiegel aus moralischen Fragen über Religion, Familie, Gewalt und Krieg; alle diese Fragen werden an der Figur des Saul Ausländer durchexerziert, der als Platzhalter und Identifikationsobjekt fungiert. In der restlichen Inszenierung mag sich Nemes um Realismus bemühen, Saul Ausländer ist der aufgesetzte Katalysator, den man entweder akzeptiert, oder auch nicht. Er erlaubt es Nemes, sich relativ frei durch das KZ-Setting zu bewegen und dennoch einen Fokuspunkt zu behalten. Die Leichenberge zeigt er nur verschwommen, und vertraut dabei auf ein kulturelles Gedächtnis, das mit diesen Bildern gesättigt ist, POVs setzt er dann ein, wenn Saul aus seiner Rolle als Platzhalter fällt und als Mensch auftritt: wenn er seinen toten Sohn entdeckt, wenn er den jungen im Wald anlächelt. Klar hat das auch mit einer gesteigerten emotionalen Bezugnahme zu tun, aber Saul fia geht weit darüber hinaus, den Holocaust nur emotional greifbar zu machen (ergriffen wird man davon relativ schnell – das schaffte sogar Roberto Benigni), sondern unternimmt den Versuch ihn intellektuell fassbar zu machen. Das schafft er zugegebenermaßen nur stellenweise, aber er versucht es auf eine mutige und andere Art und Weise, weshalb ich dem Film im Gegensatz zu Patrick einiges abgewinnen konnte.

The Song of the Sea von Tomm Moore

The Song of the Sea von Tomm Moore

Die Verteidigung von Saul fia liegt mir weniger am Herzen, als über den wunderbaren Song of the Sea zu schreiben. Der Film stammt aus der Feder des Iren Tomm Moore, der, wie schon in seinem letzten Film The Secret of Kells, seine Qualitäten als Geschichtenerzähler beweist. Wie die meisten großen Animationsfilmer, vermag es Moore sich gleichzeitig an ein kindliches und erwachsenes Publikum zu richten. Souverän bereitet er die komplexe keltische Sagenwelt auf. Das kommt nicht nur den Kindern zugute, sondern auch jenen Zusehern, die nicht mit dieser Kultur vertraut sind. Moore kommt dabei zugute, dass sich phantastische und tragische Elemente in diesen Mythen von vornherein die Waage halten. Diese Elemente strukturiert Moore um die Figur des Ben. Er ist der Sohn des Leuchtturmwärters Conor und seit dem Verschwinden seiner Mutter vor sechs Jahren etwas verloren. Seinen Vater hat dieser Verlust denkbar schwer getroffen und er verhält sich seither abwesend und zeigt mehr Zuneigung für seine Tochter Saiorse, die der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Als die beiden Geschwister just zu Halloween zu ihrer Großmutter ziehen und Ben seinen geliebten Hund Cú zurücklassen muss, zerfällt seine heile, wenn auch brüchige Welt endgültig zu einem Scherbenhaufen. Er will nach Hause zurückkehren, sieht sich aber schon bald mit weit größeren Problemen konfrontiert, denn es stellt sich heraus, dass seine Schwester (wie auch seine Mutter), eine Selkie ist, der es obliegt eine böse Eulenhexe zu stoppen, die magischen Kreaturen ihre Gefühle entzieht und sie zu Stein verwandelt. Ben ist durch die Geschichten seiner Mutter gut mit den Protagonisten der Sagenwelt vertraut, spätestens zu diesem Zeitpunkt, wird Saiorse zum eigentlichen Zentrum der Handlung. Der Film nimmt hier eine düstere Wendung, die anfängliche kindliche Unzufriedenheit mit der Großmutter und die Angst vor dem Verlassen des Zuhauses wird durch weit größere Gefahren relativiert. Die schroffe Szenerie der irischen Küste freilich, sorgte schon von Beginn an für eine bedrohliche Atmosphäre. Viel obliegt in einem Film dieser Art dem Zeichenstil. Moore löst dabei die wilde und ungebändigte Landschaft in vorwiegend runden, weichen Formen auf. Der Kontrast zwischen Bedrohung und Geborgenheit, sowie dem Fremden und der Familie dient als Leitmotiv, dass sich inhaltlich wie formal durch den Film zieht. The Song of the Sea ist zugleich bedrückender Gruselfilm, wie herzerwärmendes Familiendrama. Ein Film, der nicht auf Schock- und Spektakelwert abzielt, um Kinder (und Erwachsene) zu unterhalten, sondern eine Gefühlswelt schafft, mit der sie sich identifizieren können und die sie auf positive Art und Weise mit unangenehmen Fragen konfrontiert.

Filmfest Hamburg Diary: Wie man ein Pferd mit den Händen befriedigt

Was ich heute gesehen habe:Wie man ein Pferd mit den Händen befriedigt/Wie das Surface einer digitalen Wünschelrute aussieht/Wie man ein Konzentrationslager in ein arrogantes Sensorium verwandelt

Bei meiner Ankunft in Hamburg lichtete sich der Nebel und ich musste endgültig feststellen, womit ich schon gerechnet hatte: Ich bin in Deutschland. Was das bedeutet, zeigte sich bei der Ausgabe der Tickets. Dort sagte man mir mit betont freundlichem, freundlich antrainierten, freundlich durchgehenden Ton, dass man, wenn man einmal Tickets für einen Tag reserviert habe, keine Möglichkeiten mehr habe, diese Reservierungen zu ändern oder gar neue zu machen. Von weiter hinten ertönte eine Stimme aus dem gewohnt heimeligen, an ein Gewächshaus (Filme sollen wachsen? Wir wachsen an und mit Filmen?) erinnerndes Festivalzelt: „Man muss eben planen.“, ich sage nichts, da ich Deutscher bin und genau geplant habe, aber der Mann neben mir hackt nochmal nach. Er fragt: „Aber warum geht das nicht?“, die Antwort: „Weil Sie dann schon ein Loch für diesen Tag auf ihrer Karte haben.“.

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Wenn man von Löchern spricht, dann ist auch Corneliu Porumboiu nicht fern, dessen Comoara mein zweiter Film auf dem Festival war. Porumboiu wird wieder etwas narrativer. Es geht – wie so oft, aber meist unbemerkt bei ihm – um eine Vaterfigur. Es geht um die Kraft der Illusion (die Liebe als Illusion, das Lieben von Illusionen und die daraus folgende Desillusionierung, very clever, aber das ist Porumboiu, come on. In seiner letzten Einstellung dreht er alles und man könnte alleine darüber Stunden diskutieren) und natürlich die Absurdität an sich. Porumboiu geht hier weitaus weniger formale Wagnisse ein wie in seinen beiden vorherigen Filmen Când se lasă seara peste București sau metabolism und Al doilea joc, aber sein Wagnis ist narrativer Natur, weil er sich im Bereich der Märchen aufhält, der Fiktionen…

Puh, das bringt mich irgendwie zum ersten Film des Filmfests Hamburg für mich: Saul fia von László Nemes. Ein polarisierender Film, ausgezeichnet von einer blinden Jury in Cannes mit dem Grand Prix derselbigen. Darin folgt man in einer aufgesetzten, extremen Nähe Saul Ausländer, einem jüdischen Mitglied eines Sonderkommandos in einem Konzentrationslager. Man ist immer in Bewegung und bekommt kaum Luft.  Es geht Nemes scheinbar darum, ein solches Lager fühlbar zu machen. Oft erleben wir die Massentötungen in einem unbequemen Off, wir hören beständig den Terror des Lagers, der sich solange als Realismus ausgibt, bis wir erfahren, dass er Effekt war, als er verschwindet, um andere Emotionen zu ermöglichen. Nein! Ich erinnere mich an Carl Theodor Dreyer, der gesagt hat, dass man verstehen muss, dass ein guter Filmemacher hört, was es in der Welt gibt, nicht was er gerade braucht. Und auch im Bild unterlaufen dem selbstsicheren Nemes einige Unsicherheiten in diesem arroganten Poserfilm. Das Problem ist, dass Unsicherheiten bei einer solchen Thematik schnell zum ethischen Verbrechen werden. Wiederholt verharrt die Kamera in möglichst spektakulären Einstellungen, bei denen Leichen im Bildhintergrund durchs Bild gefahren werden und das Off jetzt gar nicht mehr so Off ist, sondern nur so tut…und noch offensichtlicher sind die plötzlichen Point-of-Views, die Nemes hier einbaut, Gegenschüsse auf das Elend. Der erste Blick ist dabei natürlich bewusst gesetzt, er geht auf den Sohn, Sauls Sohn, ein Titel mit mehr Bedeutungsbenen als es visuelle Einfälle in diesem Film gibt, der für seine visuelle Innovation gelobt wird. Es ist ein Konzeptfilm, der nicht an seinem Konzept interessiert ist, sondern am Effekt dieses Konzepts. Narrativ geht es dabei um eine Würde, die größer ist als das Überleben und die sich in einem untragbaren Lächeln am Ende des Films offenbart. Es ist ein untragbares Lächeln, weil es eine Verklärung ist. Genau wie vieles andere im Film sich nach fünf Minuten der visuellen Überrumpellung in ein erschreckendes Nichts auflöst. Es ist ein ganz ähnlicher Film wie der Kurzfilm With a little Patience von Nemes. Hier ist ein Filmemacher, der einer coolen Idee bis zur Schmerzgrenze folgt, statt sich um seinen Film zu kümmern. Was bleibt ist ein Film, in dem fast gar nichts passiert, kein Ton, kein Bild, kein Blick spielt eine Rolle. Alles schreit mich an, alles fordert mich auf, über die Idee nachzudenken, nichts fordert mich auf hinzusehen.

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Weiteres:

  • Im Programmheft geblättert…amüsiert: Fred Wisemans In Jackson Heights wird uns von fritz-kola präsentiert und natürlich – wie fast alle Filme – nur thematisch beschrieben. Danke fritz-kola dafür.
  • Beim Frühstück begegne ich Koreanern, die in kompletten HSV-Trainingsanzügen auftreten. Ich versuche ihnen zu kommunizieren, dass sie nach London fahren müssen. Sie verstehen mich nicht.
  • Man sagt mir, dass ich am besten in jede der drei Vorstellungen von Hou Hsiao-hsiens The Assassin gehe. Heute ist die erste.
  • Am Vorabend gab es auch noch Boi Neon von Gabriel Mascaro, der mir letztes Jahr mit August Winds sehr gut gefallen hat. Auch er ist in diesem Film etwas narrativer unterwegs und lange Zeit macht sein Film richtig Freude. Besonders sein Gefühl für Farben, Framing und Bewegungen ist auf einem hohen Niveau. Allerdings forciert er ein Genderissue anhand unterschiedlicher Personen derart deutlich, dass es selbst die Jury in Cannes gesehen hätte, wäre er dort gelaufen. Was wir bekommen ist ein Film, zu dem eigentlich nur der Titel The Lusty Men passen würde…Rodeo und Sex, Tiere und Menschen, Mann und Frau, alles verwischt hier zu einem surrealistischen Sog, der aus einer dokumentarischen Beobachtung entsteht. Mascaro ist nach dem Film auch da und erzählt so einiges über seinen – auch seiner Meinung nach gelungenen, einzigartigen – Film. Heute war mit Sicherheit nicht der Tag, der an sich zweifelnden Filmemacher…jedenfalls musste er auch Hand an einem Pferd anlagen, damit es der Schauspieler auch tut. Fragwürdig jedoch dann sein Schwenk in selbiger Szene, der den Orgasmus des Pferdes ins Off verlegt. Darüber muss man aber nicht wirklich diskutieren…