Begegnung vor einer öffentlichen Toilette: Napló gyermekeimnek von Márta Mészáros


Napló gyermekeimnek (Tagebuch meiner Kindheit) von Márta Mészáros: So heißt der erste Teil einer autobiografisch geprägten Trilogie der ungarischen Regisseurin, 1984 mit dem großen Preis der Jury in Cannes ausgezeichnet. Wenig mehr Informationen lassen sich den meisten im Internet kursierenden Kurztexten entnehmen. Na gut, ein wenig zum Inhalt finden wir dort auch: Es geht um die Waise Juli, die Ende der 1940er Jahre aus dem Exil ihrer verstorbenen Eltern in der Sowjetunion in die Heimat Ungarn, nach Budapest, zurückkehrt. Als Kind lässt sich die jugendliche Protagonistin aber kaum mehr bezeichnen, schließlich strebt sie entschlossen nach Unabhängigkeit von der parteitreuen Adoptivmutter. 

Ins Englische übersetzt trägt der Film den Titel Diary for My Children – was die Betonung auf das Nachleben der geschriebenen Erinnerung für die nächste Generation setzt. Das Erinnern und Verdrängen, das Reden und Schweigen einer älteren Generation gegenüber einer jüngeren setzt Mészáros immer wieder in Szene. Die Nachkriegsjugend stellt Fragen, trifft aber auf eine Mauer des Schweigens. Nur der gelegentlich von traumatischen Erinnerungen ereilte Großvater berichtet von erlebten Kampfhandlungen und von seinem Todesurteil als Revolutionär im Jahr 1919. Indem Juli ihn unterbricht, um seine Geschichte fortzusetzen, verlieren seine Worte an Sprengkraft: die Familie weiß über diese Zeit Bescheid, kennt die Erlebnisse in und auswendig. Ist sein Wiederholen der Versuch, sich seiner Existenz zu versichern? Oder versucht er die eigene Vergangenheit in ein anderes Licht zu stellen und seine Glaubwürdigkeit durch Wiederholungen zu stärken? Was zwischen 1919 und dem Ende der 1940er in Budapest geschah, bleibt für Juli, die unter dem Verlust ihrer Eltern leidet, im Dunkeln, nebulös. Die politische Einstellung der Adoptivmutter Magda und deren strenges Regiment sorgen für Distanz – auch die geschenkten Schuhe aus den USA können das Verhältnis zwischen Juli und Magda nicht mehr stärken. Juli flüchtet sich aus der Schule ins Kino – ein Dorn im Auge der Adoptivmutter. Als sie erfährt, dass Juli mit einem Jungen ausgeht, interveniert sie allerdings nicht. 

An dieser Stelle drücke ich geistig auf Pause. Während des ersten Rendezvous ereignet sich eine Szene, die mich nach dem Streamen noch länger beschäftigt und von der ich zögere zu erzählen, weil sie so banal erscheint im Angesicht der von politischen Haltungen durchwobenen, geschichtsträchtigen Handlung. Andererseits entfalten die auf den ersten Blick trivialen, profanen Momente oft gerade als fast unauffällige Abweichungen von den großen, bedeutungsschwangeren Zusammenhängen ihre Wirkung. Juli und ihr Freund flanieren abends Hand in Hand durch die Straßen, als sie verlautbart, sie müsse dringend auf die Toilette und schaffe es nicht bis nachhause. Gleich vor ihnen befindet sich ein öffentliches Toilettenhäuschen, doch haben beide nicht das nötige Kleingeld für eine Benutzung. Er weiß zu improvisieren und holt ein Ziertaschentuch hervor, mit dem es Juli bei der Toilettenfrau versuchen solle. Gesagt getan: Schnitt, eine Totale: Juli läuft zu jener Frau hin, die, wir sehen es zunächst nur aus der Ferne, auf einem Hocker sitzend den Eingang bewacht. Die Teenagerin reicht ihr, während sie zögerlich in die Knie geht, das Tuch. Es folgt ein Close-Up der älteren, vom Leben gezeichneten Frau. Wir beobachten ihren kritischen Blick und es entsteht ein kurzer Moment der Spannung. Als sie den Kopf hebt, um Juli in die Augen zu sehen, kündigt sich noch immer kein Anflug eines Lächelns an, ihre Züge verharren in einem ernsten Ausdruck. Das nächste Close-Up zeigt die zittrigen Hände der älteren Frau, mit denen sie das Tuch im Schoß hält und befühlt. Kein Gegenschuss. Es folgt auf den nächsten Schnitt wieder eine Totale: Juli verlässt dankend das Toilettenhaus. 

Wie passt diese Szene in den Film? Verbildlicht sie eine persönliche Erinnerung von Mészáros? Selten, wage ich zu behaupten, denken wir an Harndrang-Momente zurück, es sei denn die Situation fühlte sich bereits sehr grenzwertig und schmerzvoll oder peinlich an. Juli wirkte aber nicht sehr gequält und ihr Ausflug schnell abgehandelt. Die Szene könnte auch als Kritik am Umgang mit dem öffentlichen Raum und dem Zugang zu sanitären Anlangen verstanden werden. Der Toilettengang ohne finanzielle Mittel und besonders für Frauen wird durch diese Szene als kapitalisiertes Ereignis in einem sozialistisch regierten Land erfahrbar. Andererseits hält auch eine Person Einzug in die Erzählung, die zwar eine Randfigur bleibt, dennoch nicht gänzlich außen vor gelassen wird: die für die Reinigung der Toilette zuständige Frau. Seit wann gibt es diese Beschäftigung und welche Geschichte trägt sie eigentlich in sich? 

Die Geschichte der öffentlichen Toiletten zählt schon über 5000 Jahre, verrät mir eine kurze Recherche.  Wer die Kultur des Klos zuerst erfand, darüber existiert natürlich eine Debatte – ob sie ähnlich hitzig geführt wird, wie jene über den Ursprung so mancher kulinarischer Köstlichkeiten? Einig sind Historiker*innen sich jedenfalls, dass das düstere Mittelalter auch ein dunkles Kapitel für Hygiene und WC-Anlagen bedeutete. Erst mit der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts sollte die Öffentliche-Toiletten-Bewegung bedeutsam werden: ein regelrechter Boom ereilte die Metropolen Berlin, London und Paris. In Wien sorgte ein Berliner Kaufmann 1883 für die Errichtung der ersten öffentlichen Bedürfnisanstalt in der Invalidenstraße. Dass es Personen brauchte, die diese reinigen, erscheint nur logisch, dass dafür meist Frauen eingesetzt wurden, überrascht als gesellschaftlich geprägtes Ungleichgewicht auch kaum. Nachdem Toiletten in Privatwohnungen ihren Siegeszug feierten, nahm ihre Frequenz im öffentlichen Raum zeitgleich ab. Und heute? In Budapest, lese ich auf der Homepage des International Office der Stadt Wien, hatten erst im Jahr 2016 Demonstrierende vor dem Parlament mehr öffentliche Toiletten eingefordert. Die Stadt wisse selbst nicht, wie viele Toiletten es gäbe, hieß es in einer ersten Reaktion, da die meisten von Privatunternehmen verwaltet würden. Man hat nicht nur in Budapest die Wahl: Zahlen um aufs Klo zu gehen oder die viel höhere Strafe zahlen, wenn man’s nicht bis zum stillen Ort schafft. Heute funktionieren die meisten WC-Anlangen schon über automatisierte Schranken: Münzeinwurf oder Kreditkarte werden als Zahlungsmittel akzeptiert – der Handel mit einem Ziertaschentuch erweist sich von vornherein als ausgeschlossen. Die Toiletten reinigenden Personen verlieren ebenso ihre Sichtbarkeit, die Transaktion wird mechanisch. Eine Szene wie in Napló gyermekeimnek könnte sich in der Form also gar nicht mehr abspielen. Mit dieser Überlegung hat der Moment zwischen Juli und der älteren Frau als Relikt einer vergangenen Zeit doch noch einen Sinn für mich gefunden. In meiner Erinnerung formt sich das Close-Up auf die Frau vor der Toilette nun in ein rührseliges Bild eines Augenblicks von zwischenmenschlichen Kontakt – eines Kontaktes, den die Invasion von Automatisierungen und Maschinen seit geraumer Zeit immer mehr verdrängt. Auf einmal wirkt die Szene gar nicht mehr so banal.

Der Film ist bis 31.08.2023 in der Mediathek von arte zu sichten:

https://www.arte.tv/de/videos/107476-000-A/tagebuch-meiner-kindheit/