Kossakovsky-Retro: Kossakovsky sehen

Meta

Wir schreiben hier auf dem Blog sehr oft über Filme und bemühen uns dabei einen möglichst „puren“ Zugang zu wahren. Das heißt weniger theoretisieren als beobachten, weniger Produktionskontexte referieren, als den Film selbst sprechen zu lassen. Oft geht es auch darum, zu beschreiben was ein bestimmter Film, eine bestimmte Szene, mit uns als Betrachter macht. Das sind subjektive Beobachtungen, denn schließlich können wir nicht sicherstellen, dass ein Film jeden Zuseher gleich anspricht (im doppelten Wortsinn). Ich denke, es ist sehr deutlich, dass es uns in unseren Besprechungen und Essays eher um die Beschreibung eines möglichen subjektiven Zugangs geht, als um Publikumsforschung und doch bleibt bei einer solchen Herangehensweise etwas auf der Strecke: das Kino als Ort der Massen. Das Kino als Ort, nicht bloß der solitären Rezeption, sondern des gemeinschaftlichen Erlebnis.

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© Daniel Bogan/Flickr

Zu Beginn der Retrospektive zu Victor Kossakovsky auf Doc Alliance trafen wir uns zu viert zu einem Filmeabend, um uns dem Regisseur gemeinsam anzunähern. Für drei von uns war Kossakovsky überhaupt Neuland, einzig Patrick hatte schon zuvor zwei seiner Filme gesehen. Wir einigten uns mit Svyato zu beginnen (Patricks Besprechung dazu hier), ohne wirklich zu wissen was auf uns zukommt – um Kossakovskys Sohn sollte es gehen, eine persönliche Geschichte also.

Der Film beginnt abstrakt, mit einem Textzitat, einigen langen Einstellungen und etwas Musik. Schließlich das Bild eines spielenden Kindes in einem Korridor, nach einer Zeit beginnt die Kamera langsam wegzuzoomen. Plötzlich, ein Rahmen! Das Kind wurde über einen Spiegel gefilmt. Ein echter Schockmoment, mir fällt die Kinnlade herunter, den anderen, so stellte sich später im Gespräch heraus, ging es ähnlich. Eine halbe Stunde später ist der Film zu Ende, man schenkt sich ein Glas Wein ein, lässt den Film etwas auf sich wirken oder macht sich sogleich daran zu diskutieren. Während ich mir also noch ein Glas Wein einschenke, unterhalten sich Patrick und Andrey schon angeregt über den Einsatz von Musik und die Bedeutung bestimmter Szenen und Sequenzen (was haben diese verträumten, poetischen Passagen am Teich mit dem Kind im Spiegel zu tun?). Die beiden kommen langsam zu einem Ende, wir wollen mit Pavel i Lyala fortsetzen, ich habe bis dahin nicht mitdiskutiert, denn ein Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf: Kossakovskys lange Einstellung des spielenden Kinds, das er über den Spiegel aufnimmt, wird irgendwann von einer anderen Kameraperspektive abgelöst, die scheinbar frontal in den Korridor filmt – die Einrichtungsgegenstände sind allerdings in dieser Einstellung nicht spiegelverkehrt – der Gang sieht aus, wie zuvor in der Spiegeleinstellung.

Ich teile meine Beobachtung, und wir alle sind zunächst ratlos. In einer ad-hoc Filmanalyse sehen wir uns die betreffenden Stellen noch einmal an. Sind da Schnitte? Wechselt er die Linse? Macht das überhaupt einen Unterschied? Aus der ad-hoc Analyse wird eine ad-hoc Recherche: das Internet wird befragt, wie dieser Film gemacht worden ist, ob das irgendjemand anderem auch aufgefallen ist. Wir kommen nicht voran, immer weiter versuchen wir den Raum dieses Films nachzuvollziehen und immer weiter verknoten sich unsere Gedankengänge. An Pavel i Lyala denkt nun keiner mehr, zu wissensdurstig sind wir. Wie lang dauerten die Diskussionen? Zehn Minuten vielleicht, wir kommen noch immer nicht weiter, ich resigniere, Andrey resigniert, Patrick kann nicht loslassen. Ein letzter Versuch: Youtube! Dort findet sich eine Masterclass von Kossakovsky aus dem Jahr 2012. Das Video dauert fast zwei Stunden aber Patrick lässt sich von unseren Protesten nicht abhalten. Aus wenigen Ausschnitten schließt er, dass das Gespräch chronologisch vorgeht und findet tatsächlich die Stelle, wo Svyato besprochen wird. Der Moderator stellt die „richtigen“ Fragen. Es wird spannend für uns. Und tatsächlich, die Auflösung: drei HD-Kameras, vier Spiegel. Wir sind baff. Wir geben uns geschlagen. Das hätten wir aus den Bildern selbst nie herausfinden können. Aber wir sind auch zufrieden, in nur wenigen Minuten haben wir eine Antwort gefunden, wenngleich das Rätsel dadurch nicht gelöst ist, denn wie Kossakovsky nun genau gearbeitet, seine Kameras und Spiegel positioniert hat, lässt sich nicht erschließen – das muss man aber auch gar nicht, das kann man vielleicht gar nicht, darum geht es nicht. Es geht vielmehr um das Verblüffen, die Multiplikation von Aha-Effekten. Die Vielschichtigkeit, die Rezeptionsebene, den Austausch, die Auflösung. Cinephilie ist nicht nur Filme zu schauen, sondern auch Filme zu befragen. Nicht nur das fertige Produkt zu betrachten, sondern auch die Arbeit die dahinter steckt. Nicht nur Svyato, sondern auch Kossakovsky zu sehen.

Kossakovsky-Retro: Caught My Own Reflection: Svyato

Svyato Kossakovsky

Man kann von zwei Dingen ausgehen in der Betrachtung des verstörenden Films Svyato von Victor Kossakovsky, den es bei der noch bis zum 1. Februar laufenden Retrospektive auf Doc Alliance zu sehen gibt. Zum einen davon, dass die Anwesenheit oder der Glaube an unsichtbare Kräfte und Welten eine besondere Aufmerksamkeit generiert, die uns in Zustände der Angst, der Liebe und des fantastischen Staunens versetzt. Der andere Gedanke ist jener der filmischen Antizipation und ihrer Wirklichkeit, die so gar nichts mit der Aufmerksamkeit zu tun haben, aber doch völlig abhängig von ihr sind. In Svyato filmt der Regisseur seinen Sohn, als dieser sich zum ersten Mal in einem Spiegelbild sieht. Seit dessen Geburt hatte der Filmemacher sämtliche Reflektionen vor dem 2jährigen versteckt. In einer speziellen Vorrichtung mit vier Spiegeln (von denen man als Zuseher nur einen wahrnimmt, was uns nach der gemeinsamen Sichtung in nervöse Rage versetzt hat) und drei Kameras folgt der Regisseur jenen ersten Begegnungen zweier Welten, nämlich jener Welt des Ichs und der Spiegelwelten. Nun sind die psychoanalytischen Konnotationen kaum zu übersehen, aber Kossakovsky überlegt sie mit einem fantastisch-magischen Schleier, den man als subjektive Wahrnehmung seines Sohnes oder auch als Spleen für Antipoden im Werk des Regisseurs auffassen kann. Der Junge spielt in einem Haus, hinter ihm ein weißer, im Wind tuschelnder Vorhang, hinter dessen Durchsichtigkeit sich der Schatten einer Pflanze abzeichnet. Neben ihm ein beständiger Zwerg mit blauen Augen und einer Laterne, unter ihm ein hellbrauner Parkettboden voller Spielzeug, seine Mutter ist aus dem Off zu hören, das Spielzeug singt, es ist friedlich und in, um und vor ihm sind Spiegel und diese Kameras, die mit seiner und unserer Wahrnehmung spielen. Die besondere Faszination für die Spiegelwelten offenbart sich nicht nur in der Wichtigkeit, die Kossakovsky diesem Augenblick im Leben seines Sohnes beimisst, sondern auch in der letzten Szene des Films, als eine Spiegelung in einem See ein Eigenleben beginnt.

Svyato Kossakovsky

Es ist wie eine Erinnerung an eine kindliche Faszination, an den Glauben, dass das was wir im Spiegel sehen, eine andere Welt ist. Darin liegt nicht nur eine Analogie zum Kino sondern zur Wahrnehmung an sich. Kossakovsky erinnert einen daran, wie abgestumpft man sieht. Der Junge schreit sein Spiegelbild an, er hämmert mit Spielzeug gegen die Fläche, er küsst es, er blickt unter dem Spiegel hindurch, er betrachtet sich/es stumm. Wann erkennt er sich selbst? Gleichzeitig werden wir als Zuseher, ob der Spiegel und Reflektionen verunsichert (und schließlich ist es ja auch ein Film). Wir müssen uns fragen, ob das was wir sehen eine Spiegelung ist oder nicht. In jenem Moment, in dem wir an das Neue, Eigene und Besondere in der Welt glauben, blicken wir genauer hin und in diesem Blick liegt die ganze Faszination des Lebens. Gehen wir von dieser Faszination an Gegenwelten aus, die ja nicht zuletzt auch in Kossakovskys ¡Vivan las Antipodas! eine entscheidende Rolle spielen, dann verstehen wir, dass der Blick auf die Welt einer ganz bestimmten Wahrnehmung unterliegt, ganz bestimmten Emotionen, Formen und Ideen, die sich in filmischer Sprache manifestieren können. So sehen wir, was wir alle kennen, aber nicht in unserem Bewusstsein tragen. Wir können staunen, lieben oder uns fürchten. Der Regisseur spricht selbst gerne von seiner Magnettheorie und meint damit eigentlich den Abstand zwischen Kamera und Protagonist. Dieser magnetische Grenzbereich, indem die Anziehung zwischen zwei Polen gerade so ist, dass sie spürbar wird, ist auch der aufmerksame Blick. Kossakovsky ermöglicht uns dieses Miterleben durch seine Freiheit der Antizipationen. Damit meine ich, dass er sich in einem bestimmten Versuchsfeld bewegt, das er selbst nicht vorhersehen kann. In allen seinen Filmen gibt es eine bestimmte Idee, eine Antizipation dessen, was passieren kann, und in jedem Fall wird diese von der tatsächlichen Handlung übertroffen. In seiner aufwendigen Konstruktion, dem Vorbereiten seines Sohnes auf diesen Tag und seiner Positionierung hat Kossakovsky einen Raum und eine Zeit für eine filmische Wahrnehmung geschaffen. Mit seiner Antizipation hat er nicht vorgefertigte Welten erschaffen oder sich auf Ideen versteift, sondern ein Umfeld geschaffen, indem man sich fokussieren kann, in dem die Aufmerksamkeit für den Blick, die Menschen und die Welt gewährleistet ist. Wenn es im Zeitalter der völligen visuellen Überflutung mehr als jemals zuvor darum geht, im Kino eine Konzentration zu schaffen, eine Neugier des Blicks zu provozieren, dann ist dieser Ansatz ein goldener Kelch des Filmemachens. In diesem Sinn baut er in Svyato einen Kinosaal im Kinosaal und ermöglicht uns so seine Welt und unseren Blick zu fühlen. Es beginnt ein Wechselspiel zwischen dem verspielten, magischen Glauben an eine Illusion und jenem Bruch mit ihr, der uns klar macht, dass wir blicken, der uns klar macht, was wir sind und der uns einsam zurücklässt bis wir wieder glauben.