13 Kinomomente des Jahres 2016

Wie in jedem Jahr möchte ich auch in diesem Jahr zum Ende hin über die Augenblicke im Kino nachdenken, die geblieben sind. In der Zwischenzeit bin ich jedoch nicht mehr so sicher, ob es wirklich Momente sind, die bleiben. Viel öfter scheint mir etwas in mir zu verharren, was konkret gar nicht im Film existierte. Nicht unbedingt die subjektive Erinnerung und das, was sie mit Filmen macht, sondern vielmehr ein Wunsch, ein Begehren oder eine Angst, die sich im Sehen ausgelöst hat und sich an mir festkrallte. Ein Freund nennt Filme, die das mit ihm machen, die in ihm weiter leben und töten „Narbenfilme“. Ich mag diesen Ausdruck von ihm, obwohl eine Narbe ja bereits eine Heilung anzeigt. Diese Momente, diese Filme, die sich als Narbenfilme qualifizieren, brennen jedoch noch. Es sind offene Wunden, manchmal in der Form einer Blume, manchmal als klaffendes Loch.

Ich versuche daher in diesem Jahr solche Momente zu beschreiben, Momente, die nicht nur den Filmen gehören, die sie enthalten.

Inimi cicatrizate von Radu Jude

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Ein Top-Shot: Der junge, kranke Mann möchte seine Liebe besuchen, sie überraschen. Mit seinem wortreichen Charme überzeugt er Arbeiter des Sanatoriums, ihn auf einer Trage zu ihrer Wohnung zu tragen. Auf seinem Bauch ein Strauß Blumen. Er trägt schwarz unter seinem weißen Gesicht. Die meisten Top-Shots empfinde ich als schwierig. Sie erzählen lediglich von der Macht der Perspektive. Dieser hier ist anders. Er erzählt etwas über die Präsenz des Todes. Der Liebende wird für unter der Kamera zum Sterbenden. Darum geht es auch in diesem famosen Film. Das liebende Sterben, das sterbende Lieben.

(Meine Besprechung des Films)

Atlantic35 von Manfred Schwaba

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Ein Film wie ein einziger Moment. Ein Blick auf das Meer, der nur wenige Herzschläge anhält. Er kommt aus und verschwindet in der Dunkelheit. Es ist ein Film für einen Moment gemacht, der aus zwei Träumen besteht. Der erste Traum, das ist das Filmen auf und mit 35mm, ein sterbender Formattraum. Sterbend, weil eben nicht alle Menschen sich einfach so leisten können, auf Film zu drehen. Nicht jeder kann jeden Traum auf Film realisieren. Der zweite Traum, das ist das Meer, der Atlantik. Beide Träume also im Titel. Die Realität dieses Traumes, kommt gleich einer unaufgeregten Welle. Kaum spürbar, schon vorbei, wenn sie begonnen hat, aber doch mit all der Grazie des Kinos und des Ozeans ausgestattet, die es gibt.   

(Rainers Avantgarde Rundschau von der Diagonale)

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wann genau dieser Augenblick eintritt, aber es ist ein einzelner Satz. Ein Satz, der alles vernichtet, was vorher geschrieben wurde. In ihm sammelt sich das Kippen einer Beziehung, die sich nur in Worten nährt. Es gibt mehrerer solcher Momente im Film. In ihnen kippt etwas in der geträumten Beziehung oder auch zwischen den Sprechern/Darstellern und den Worten. Das grausame und schöne an den Momenten in diesem Film ist, dass sie zeitlich verzögert sind. Oder gar vielleicht nie abgeschickt wurden.

(Meine Besprechung des Films)

Sieranevada von Cristi Puiu

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Wie viele meiner favorisierten Filme des Jahres handelt auch Cristi Puius neuestes Werk mehr von einer Präsenz der Auslassung, denn Dingen, die tatsächlich passieren. Ein Jahr der Fiktionen, die ihre eigenen Realitäten konstruieren. Ein Moment, der das bei Puiu bricht, ist die Erkenntnis. Diese gibt Puiu seinem Protagonisten Lary. Einmal in Form von Tränen und mehrere Male in Form eines machtlosen Lachens. Dieses Lachen ist wie der ganze Film zugleich unglaublich komisch und bitter. Es ist ein Lachen, das einem verdeutlicht, dass man keinen Zugriff hat auf die Fiktionen.

(Mein Interview mit Cristi Puiu)

(Andreys Besprechung des Films)

(Mein Bericht vom Festival in Cluj)

Austerlitz von Sergei Loznitsa

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Die Obszönität des Kinos ist hier zweisilbig. Die erste Silbe betont die Obszönität des filmischen Unternehmens selbst, der filmischen Fragestellung, der Art und Weise wie die Kamera in den Konzentrationslagern auf die Touristen blickt. Die zweite Silbe schafft Momente. Sie offenbart beispielsweise ein absurdes, schreckliches Kostümbild, womöglich das obszönste der Filmgeschichte. Ein junger Mann trägt ein Jurassic Park T-Shirt in einem Konzentrationslager. Die Kamera zuckt nicht, sie schaut sich das an, zeigt es uns und fragt sich tausend Fragen. 

(Andreys Besprechung des Films)

Ta‘ang von Wang Bing

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In den ersten Sekunden seines Films injiziert Wang Bing schockartig ein ganzes Drama unserer Zeit in unsere Körper. Eine junge Frau sitzt mit einem Kind unter einem Zeltdach in einem Flüchtlingslager. Ein Soldat kommt, tritt sie, das Dach wird weggezogen, sie wird beschuldigt. Es ist eine unfassbar brutale und kaum nachvollziehbare Szene. Was ihr folgt ist Flucht. 

(Mein Tagebucheintrag vom Underdox mit einigen Gedanken zum Film)

Der traumhafte Weg von Angela Schanelec

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Nehmen wir einen Ton. Den des Zuges, der schneidet. Ein wenig zu laut, als dass man es ignorieren könnte. Ein Ton der bleibt, weil er kaum da war. Er erzählt etwas, was man nicht sieht, etwas Grausames. Es ist die Beständigkeit ausgelassener, angedeuteter und wiederum zeitlich verzögerter Momente, durch die sich eine Erkenntnis winden muss. Das Echo dieses Zuges hallt wieder durch den Bahnhof. Schanelec verstärkt diesen Ton noch mit dem Bild eines verlassenen Schuhs neben den Gleisen. Mit dem Regen. Es sind disparate Momente, die sich der Fragmentierung fügen und dadurch in sich selbst ein neues Leben entdecken.

(Meine Besprechung des Films)

Le parc von Damien Manivel

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Damien Manivel bringt das von David Fincher am Ende seines The Social Network begonnene Drama unserer Generation zu einem grausamen Höhepunkt in den letzten Lichtern eines endenden, unwirklich schönen Tages und der ebenso unwirklichen Realität der folgenden Nacht. Eine junge Frau wird plötzlich von dem Jungen sitzengelassen mit dem sie einen Tag im Park verbracht hat. Sie sitzt auf einem kleinen Hügel in der Wiese im  Park und schreibt ihm eine SMS. Sie blickt in die Ferne, sie fragt sich, ob er zurückkommt. Sie wartet auf eine Antwort. Sie sitzt und wartet. Die Kamera bleibt auf ihrem Gesicht. Langsam wird es dunkel. Der Park leert sich. Sie wartet auf eine Antwort. Sie wartet und es wird Nacht.

Certain Women von Kelly Reichardt

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Wie kann man vom unausgesprochenen Begehren erzählen? Kelly Reichardt wählt das unvermeidbare Gewitter eines kleinen Lichts in den Augen. Beinahe wie Von Sternberg, nur ohne den Glamour, erscheint ein funkelndes Augenhighlight in der blickenden Lily Gladstone, es brennt dort und erzählt von etwas, das darunter brennt. Es ist sehr selten, dass jemand mit Licht erzählt und nicht mit Worten.

(Meine Besprechung des Films)

Nocturama von Bertrand Bonello

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Ich bin kein Fan der Musik von Blondie. Aber ich habe das Gefühl, dass Bertrand Bonello mich beinahe zum Fan einer jeden Musik machen könnte. Er benutzt sie immer gleichzeitig als Kommentar und Stimmungsbild. Er treibt mit ihr und bricht sie. Seine Kamera vollzieht begleitend zu den Tönen das Kunststück, sich im Rhythmus zu bewegen und dennoch immer etwas distanziert zu sein. Als würde man jemanden betrachten, der hinter Glas tanzt zu einer Musik, die man sehr laut hört.

(Mein Interview mit Bertrand Bonello)

Două Lozuri von Paul Negoescu

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In dieser sehr unterlegenen Hommage an Cristi Puius Marfa și banii gibt es eine der lustigsten Szenen des Jahres. Dabei geht es um die Farbe eines Autos. Der Polizist geht richtigerweise davon aus, dass das Auto nicht weiß ist. Aber alle Menschen, die er befragt, leugnen die Farbe des Autos. Was er nicht weiß ist, dass sie alle unter einer Decke stecken. Dieses nicht-weiße Auto wird zu einer absurden Fiktion. Wenn alle Menschen sagen, dass etwas weiß ist, bleibt es dann nicht weiß, wenn es nicht weiß ist?

O Ornitólogo von João Pedro Rodrigues

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Eine Eule schwebt im Gleitflug über die Kamera und ihre Augen treffen die Linse mit einer bedrohlichen Bestimmtheit. Sie landet perfekt, ihr Blick bleibt. In einem Film, der weniger vom titelgebenden Beobachten der Vögel, als von deren Blick zurück besessen ist, bleibt dieser Augenblick, weil er zeigt, dass man oft nur bemerkt, dass man angesehen wird, wenn man hinsieht.

(Meine Besprechung des Films)

La mort du Louis XIV von Albert Serra

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Jean-Pierre Léaud (machen wir uns nichts vor, es ist nicht Louis XIV) verlangt nach einem Hut. Für einige Sekunden könnte man meinen, dass er jetzt das Innenleben seiner Gemächer verlassen will, dass er aufbricht in eine neue Sonne. Aber weit gefehlt, denn Jean-Pierre Léaud verlangt nur nach dem Hut, um einigen Damen damit zu grüßen. Es ist dies der Inbegriff des schelmisch Charmanten, in dem sich Serra, der Sonnenkönig und dieser bildgewordene Schauspieler treffen. Selbst, wenn es ums Sterben geht.

(Meine Besprechung des Films)

Underdox Tag 2: Feuerhelden

Im vom Wind bedrohten Feuerlicht von Wang Bings Ta‘ang sammeln sich die großen Helden des Kinos. Es sind Jimmy Stewarts und Gene Tierneys 2016, es sind Flüchtlinge aus Myanmar, die über die chinesische Grenze gekommen sind oder kommen. Bing folgt den Figuren in seinem bekannten Direct Cinema Modus und offenbart die vielschichtige Fähigkeit des Kinos zu Zeigen, zu Beobachten. Gleichzeitig erzählt er aber von wirklichen Helden, Helden, die es so im Kino nicht mehr gibt, denn ein Kinoheld muss heute gebrochen werden. Diese Helden sind schon gebrochen und wenn Bing sie durch das Feuer kadriert, im orangefarbenen Licht und dieses Licht im Stil von Pedro Costa schützend vor sie hält, bekommen sie für einige Momente das Kino geschenkt, das Kino als gelungene Flucht in die Realität. Und das Kino bekommt echte Helden geschenkt, solche die ganz sie selbst sind und sich jederzeit übersteigen.

Was ist ein Held auf dem Underdox? Es ist eine ernst gemeinte Frage auf einem Festival, dass sich experimentellen und dokumentarischen Formen des Kinos widmet. Sind die Helden, diejenigen, die solche Filme zeigen? Sind es die, die sie besuchen? Die, die diese Filme machen? Ist es der geteilte Moment, in dem diese Filme möglich sind, in dem das Licht (das Feuer) im Kino entzündet wird, kurz vor dem Erlöschen wie in einer bemerkenswerten Szene in Ta‘ang, in der eine stumme Person sich nur im Licht artikulieren kann, Licht, das von einer Kerze kommt, die immer beinahe erlischt im Wind, die irgendwie am Leben gehalten wird wie alles in diesem Stimmungsbild einer Welt, die wir verdrängen und in sich gegenseitig ausschlachtenden Klischees ordnen? Das Festival ist besser besucht, als ich erwartet habe. Auch wenn man nie von gefüllten Kinos sprechen kann. Egal was man denkt, diese Zeit, um diese Dinge wirklich zu betrachten, gibt es immer noch nur im Kino. Diese Zeit ist also wirklich ein Held. Vor allem, weil sie auch, wie diese Flüchtenden, wie die Helden des modernen Kinos, gebrochen wird. Die gebrochene Zeit, zum Beispiel in Daïchi Saïtos Trees of Syntax, Leaves of Axis Variations- und Wiederholungssystem, dem mathematisch den Raum penetrierenden Modus einer Martin-Arnold-Fantasie in Farben. Der Held hier ist die Wahrnehmung, die dieses System transzendiert. Ein Film, der den Spruch „Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht“ zu einem Montageprinzip erhebt. Der Single-Frame ist einer der wichtigsten Techniken dieses Films, er hat schon lange wieder Hochkonjunktur, er ist ein Held des Kinos. Vielleicht auch, weil er etwas mit der Zeit macht, der Zeit des Kinos, der Zeit im Kino.

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Trees of Syntax, Leaves of Axis

In Karl Lemieux‘ (ein spannender Filmemacher aus den zwei wunderbaren Programmen zum Experimentalkino in Québec, die leider nicht komplett analog projiziert wurden, was dem Publikum zumindest sehr transparent kommuniziert wurde, aber trotzdem wehtut) Quiet Zone sagt eine Stimme, dass sie die Menschen in den Bergen fühlen könne. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Berge selbst, die Bäume. Dieser Held, der der von diesem Kino evoziert wird, ist die Wahrnehmung. Der größte Held des Kinos. Die Kanadier  auf dem Underdox arbeiten oft ziemlich direkt damit, sie benutzen Verformungen des Materials als Metaphern für Wahrnehmungen und ihre Verunklarungen. Das betrifft zum Beispiel Müdigkeit, Rauscherfahrungen oder das Verschwimmen der Erinnerung. Häufig arbeiten die Künstler dabei für meinen Geschmack etwas zu nah an der Logik von Musikvideos, sie machen auch Musikvideos. Dadurch werden zwar bestimmte Wahrnehmungswelten ausgedrückt, aber letztlich fehlt es an der kinematographischen Strenge und Arbeit mit dem Kino, die es eben zum Beispiel bei Daïchi Saïto gibt. In den besten Momenten ist es ein Kino des materiellen und sinnlichen Verfalls im Stil eines Bill Morrison, im schlechteren Fall sind es visuelle Untermalungen für gute Musik. Das gilt beispielsweise für Charles-André Coderre und dessen Arbeit mit Jerusalem in My Heart.

Die Wahrnehmung spielt auch eine besondere Rolle in den beiden kurzen, konzeptuell angehauchten und gewohnt hipsterfreundlichen Arbeiten von Denis Côté, die im zweiten Programm gezeigt wurden. In Tennesse ist es die nahe, fast dreckige Bildsprache und das extrem aufgesetzte Tondesign, das eine Geschichte der vergangenen Nacht erzählt, die es vielleicht gar nicht gab, als eine Hotelangestellte ein Zimmer reinigt. Auch wenn dieser Film nicht ganz in sich aufgeht, so erzählt er dich von einer Sehnsucht in der Diskrepanz zwischen der Erwartung an das, was Geschichten (und damit auch Helden) sind und das, was das Kino damit machen kann.  Dass diese Wahrnehmung des Kinos ist, zeigt zum Beispiel Alexandre Larose in seinem Le corps humain (introduction: la génération), in dem er Familienbilder in wackelnden Frames übereinander, ineinander oder doch nacheinander legt, sodass sie verschwimmen. Im Zentrum steht dabei immer seine Nichte, wobei ein Kommentar aus dem Off das Vorgehen erläutert. Es gäbe sicherlich noch mehr zu schreiben über die reiche Avantgarde-Szene in Québec. Gerade im Vergleich zur österreichischen Avantgarde fällt auf, dass den Filmemachern dieser Szene oft eine gewisse Strenge und tatsächlich avantgardistische Arbeit mit der Form fehlt. Allerdings ist das etwas, was man in der jüngeren Generation in Österreich auch bemerken kann. Statt dieser formalen Kraft gibt es oft eher ein Spiel mit Material und Stimmung, Musik und Wahrnehmung. Daher wirken manche der Arbeiten nicht notwendigerweise für das Kinodispositiv gemacht. Es ist ein Kino, das weniger die Wahrnehmung im Sinn eines Apparats thematisiert und hinterfragt, sondern sich direkt mit dieser identifiziert, in sie eindringt, weil sie der Held dieses Kinos ist: Verbrannte Filmkörper, deformierte Filmkörper, fliehende Filmkörper, rauschhafte Filmkörper nicht durch das Feuer, sondern im Projektor.

Berlinale 2016: Warten auf Lav

Safe Disassembly von Andreas Bunte
  • Der Tag beginn mit Schlangestehen, denn es galt Tickets für die Vorstellung vom neuen Lav Diaz Film Hele Sa Hiwagang Hapis zu ergattern – dafür wagt man sich gerne übermüdet in die kalte Berliner Morgenluft.
  • Endlich habe ich es auch in die Retrospektive geschafft, nicht einmal der sperrige Titel „Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West“ konnte mich davon abhalten. Die Hauptvorführstätte der Retrospektive ist das Zeughauskino und obwohl das Programm, das ich besuchte in einem der angemieteten Multiplexkinos stattfand, war eine Anpassung des Altersdurchschnitts auf übliches Zeughausniveau (Generation Geriatrie) zu beobachten. Zu sehen gab es ein Kuriosum des Deutschen Films der Sechzigerjahre und eine frühe Stilübung von Roland Klick. Unter dem Programmtitel „Drifters and Searchers“ wurde zunächst Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard gezeigt (das oben erwähnte Kuriosum), ein rund zwanzigminütiger Film mit einem blutjungen Klaus Wyborny in der Hauptrolle. Eine wahnwitzige Roadmovie-Variation, die vor Referenzen auf die Popkultur und die Filmgeschichte („Dieses Auto ist Jean Vigo gewidmet“) nur so strotzt. Wybornys Ole will eigentlich von Hamburg aus die Welt erobern und nicht zuletzt vor der politischen Stimmung im Land fliehen. Sein Weg führt in aber nur bis Lüneburg und schon nach kurzer Zeit kehrt er zurück: Eine absurde Miniatur, die auch aus der Feder eines Surrealisten stammen könnte.
    Roland Klicks halblanger Film Jimmy Orpheus setzt ebenfalls einen Streuner ins Zentrum der Handlung. Jimmy ist ein Tagelöhner und Nichtsnutz (im Englischen würde man ihn wohl als „Hustler“ bezeichnen), der sich im Hafenviertel Hamburgs auf der Suche nach einem Schlafplatz versucht an eine Frau heranzumachen (Auffallend die inhaltliche Nähe zu Fritz Kirchhoffs Nur eine Nacht von 1950, der ebenfalls in Hamburg spielt und einen halbwegs heruntergekommenen Mann einer Dame nachjagen lässt). Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mann und Frau versetzt Klick mit Elementen des Genrekinos und avantgardistischen Techniken, wie sie die Nouvelle Vague popularisiert hat.
Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard

Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard

  • Ta’ang von Wang Bing zählt mit knapp zweieinhalb Stunden gleichzeitig zu den längeren Filmen im Programm der Berlinale und zu den kürzeren Arbeiten des Regisseurs. In Zeiten, in denen europäische Medien Völkerwanderungen herbeibeschwören, begleitet Wang verschiedene Flüchtlingsgruppen aus dem Volk der Ta’ang die in Myanmar an der Grenze zu China beheimatet sind. Wegen bewaffneter Konflikte in dieser Region sind in den letzten Jahren rund 100.000 Menschen über die Grenze geflohen und leben in improvisierten Flüchtlingslagern oder schlagen sich als unterbezahlte Hilfsarbeiter durch. Kurz, es gibt auch außerhalb Europas Krisenregionen in denen Menschen flüchten. Es gibt sogar sehr viele von ihnen (weit mehr als in Europa) und sie leben unter teils katastrophalen Umständen. Beeindruckend, dass diese Menschen selbst in diesem Lebensumfeld versuchen eine Art von Alltag zu etablieren. Das Dröhnen der Artillerie wird zum ständigen Begleiter, die improvisierten Gemeinschaftsessen am Lagerfeuer werden zum gesellschaftlichen Ereignis. Wang wird mit seiner Kamera Teil dieser Zweckgemeinschaft, was ihm erlaubt sich von der Makroebene zu lösen und den Konflikt aus der Perspektive individueller Schicksale zu zeigen. Es wird deutlich, dass diese Menschen zum Spielball größerer Interessen geworden sind, die sie nicht verstehen – so wird im Film gar nicht klar, wer überhaupt gegen wen kämpft und warum.
  • Ein Nachtrag zur Forum Expanded Ausstellung in der Akademie der Künste: Nach längerer Überlegung habe ich beschlossen auch Andreas Buntes Safe Disassembly ein paar Zeilen zu widmen. Ganz ohne Kommentar, weder in Wort, noch in Schrift, besucht Bunte eine ehemalige Munitionsfabrik in Ostdeutschland, die vor einigen Jahren zu einem Abrüstwerk umfunktioniert wurde. Eine norwegische Firma sorgt dort nun für die fachgerechte Entsorgung von verbotener Streumunition. Ohne Vorwissen lässt sich das jedoch nur erahnen. Die Arbeit der Maschinen (im gesamten Film kommt nur ein menschlicher Arbeiter vor) widersetzt sich der einfachen Deutung – werden hier Waffen gefertigt oder zerstört? – stetig und mechanisch folgt ein Arbeitsschritt auf den anderen und ebenso stetig und mechanisch richtet Bunte seine Kamera auf die vollautomatisierten Prozesse. Es ist eine seltene Qualität nicht nur keine Antworten zu geben, sondern sich darüber hinaus so vehement jeder Fragestellung zu entziehen.