Top Girl von Tatjana Turanskyj

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Berlin, Januar 1919. In den Straßen wüten Aufstände. Seit Ende des Großen Kriegs durch den Waffenstillstand von Compiègne am 11. November kämpfen kommunistische Organisationen um die Etablierung einer Räterepublik. Was Anfang Januar mit Arbeiterstreiks begonnen hat, entwickelt sich zu einem bewaffneten Konflikt, der Aufstand der Arbeiter wird von KPD und Spartakusbund unterstützt. Karl Liebknecht hat sich für diese militante Vorgehensweise entschieden – Rosa Luxemburg setzte sich für eine gewaltfreie Lösung ein. Gegen 12. Januar marschieren regierungstreue Truppen in Berlin ein und schlagen den Aufstand brutal nieder. Der Aufenthaltsort von Liebknecht und Luxemburg wird ausgeforscht, die beiden werden festgenommen und erschossen. Genau 96 Jahre nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, am 15. Januar 2015 feiert Tatjana Turanskyjs neuer Film Top Girl in der Volksbühne Berlin Kinopremiere. Die Berliner Volksbühne steht am Rosa-Luxemburg-Platz schräg vis-à-vis vom Karl-Liebknecht-Haus, dem Parteisitz der Parlamentspartei Die Linke. Am Nordwestrand des Platzes steht seit 2010 das L40, ein markanter schwarzer Klotz, ein Musterstück moderner Städtearchitektur, mit eindrucksvollem Blick auf die imposante Fassade der Volksbühne. In diesem Wohn- und Bürogebäude ist die Escort-Agentur untergebracht, der Helena, die Protagonistin von Top Girl, angehört. Ein Zufall? Wohl kaum, denn Top Girl versucht nicht bloß die Geschichte einer Endzwanzigerin zu erzählen, sondern auch ein Statement zur Lage der Nation abzugeben – das gelingt mäßig.

Julia Hummer in Top Girl

Julia Hummer ist Helena, in Teenagerjahren als Schauspielerin halbwegs erfolgreich, mittlerweile nur mehr gelegentlich bei Castings zu finden. Ihre Brötchen verdient die Alleinerzieherin als Escort-Dame. Das erlaubt Turanskyj einen Blick auf die Sexarbeit-Branche, und wie man es aus Filmen dieser Art kennt, darf auch hier die Montagesequenz der seltsamen Gestalten mit noch seltsameren sexuellen Vorlieben nicht fehlen – ein Schaulaufen der Freaks, die sich bei Fräulein Helena ihre perversen Wünsche erfüllen lassen. Das klingt rassig und sexy, ist es aber nicht. Selten hat man in einem Film über Sexarbeit so wenig Sex zu sehen bekommen, und tatsächlich gehören die Szenen, wo am meisten Haut zu sehen ist Helenas Mutter Lotte, die in einem total irrelevanten Subplot eine Affäre mit einem jüngeren Gesangsschüler beginnt. Lotte soll uns wohl etwas über die Rolle der Frau sagen, und dass es auch voll okay ist, wenn sich ältere Frauen jüngere Liebhaber nehmen und ihre Sexualität ausleben. Zur Sicherheit schiebt Turanskyj noch eine Szene ein, in der Mutter und Tochter einen Workshop zu genau diesem Thema besuchen – doppelt hält besser, Subtilität wird ohnehin überbewertet. Deshalb reicht es auch nicht, dass der Herr Gesangsschüler leicht zerrauft von Helena und ihrer Tochter in der Wohnung der Mutter vorgefunden wird, in einer voyeuristischen Einstellung durch einen Türspalt wird der „geheime“ Abschiedskuss gezeigt – doppelt hält besser.

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Stichwort voyeuristisch: Mit der Vermeidung von expliziten Sexszenen umgeht der Film immerhin eine Art von Blickinszenierung, die die feministische Filmkritik gern „male gaze“ nennt. Dieser männliche Blick hat in einem Film, der so entschieden für die Ideale der feministischen Theorie eintritt (und auch das wiederum wenig subtil, durch seltsam eingeschobene Rezitationspartien à la Straub-Huillet) natürlich nichts verloren, womöglich fehlte aber schlicht die Befähigung eine Sexszene zu drehen, die ohne Pornokonventionen auskommt. Ein Blick auf die Arbeiten von Turanskyjs Kollegen und Kolleginnen der boomenden Feminist-Porn-Schiene hätte nicht geschadet. So wirkt das Ganze einfach zahnlos, ein weiterer Fall von „ich will, aber ich kann nicht“, wie man ihn in der deutschsprachigen Filmlandschaft nur zu oft findet. Eine Feminismus-Lehrstunde am Fallbeispiel der Helena, in der so offensichtlich keiner der Charaktere mit seiner Sexualität umgehen kann, dass es am Ende gar nicht mehr irritiert, wenn der Film so aufhört, wie er beginnt – mit nackten Frauen im Wald. Von  dieser exotisch-erotischen Rahmung darf man sich aber nicht täuschen lassen, denn so sehr der Film auch versucht eine Variation des Jeanne-Dielman-Effekts zu erzeugen, so wenig können diese entfremdet-distanzierten Gestalten und die platte, aufgesetzte Inszenierung irgendeine Art von emotionaler Reaktion hervorrufen.