Heimsuchungen

Es folgt ein idealistischer Text, den einige wenige Personen womöglich verstehen können. Für alle anderen sei gesagt, dass es sich hierbei nicht um eine Fantasie handelt.

Wenn das Kino ein Haus wäre, wüssten wir nicht wie wir hinkämen. Wir wären schon da. Es ginge eine Treppe hinab wie in Céline et Julie vont en bateau von Jacques Rivette und dort irgendwo wäre es. Die Türen wären verschlossen. Man hätte das Gefühl: Hier war mal irgendwas, irgendwer. Man würde wissen wollen, was hinter der Tür ist. Man würde klopfen, durch Fenster spähen, um das Haus herumgehen. Man würde Dinge aus dem Haus hören. Irgendwann würde man merken, dass man gleichzeitig bereits im Haus sein würde. Man würde nach draußen blicken, den Wein riechen, die Wespen hören. Man würde alles sehen, ergriffen sein. Man würde es an der Tür klopfen hören und niemals würde man sich öffnen. Nichts davon würde im Konjunktiv geschehen. 

bildschirmfoto-2016-10-19-um-20-55-05

Es hat mich immer begeistert wie sich in Céline et Julie vont en bateau, El espíritu de la colmena von Victor Erice und Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira drei ganz ähnliche, von Wein umgarnte Häuser als Ideen des Kinos manifestieren. Bei Rivette ist es eine rauschhafte Fantasie, nie greifbar, irgendwie riesengroß und winzig zugleich. Es gibt dieses Haus im Film, in dem plötzlich ein anderer Film abläuft. Das Kinohaus hat etwas Geheimnisvolles, deshalb liebt Rivette das Kino und das Kino liebt Rivette. Man schluckt Pillen und ist dort und wenn man rauskommt und sich nicht mehr erinnern kann, hat man Pillen im Mund, kleine bunte Pillen. Trotzdem sind die Türen verschlossen, sie öffnen sich plötzlich und unheimlich. Dieses Haus wird aufgesucht, man fragt danach, es steht irgendwie da. Es ist eine unbegreifliche Sache dieses Haus, immerzu lachen Céline und Julie, wenn sie weinen und sie weinen, wenn sie lachen. Es erinnert an Por primera vez von Octavio Cortázar, diese erste Begegnung mit dem Kino, diese Neugier auf etwas, das vielleicht eine Party ist, vielleicht ein Tanz. Die weit aufgerissenen, furchterregten Augen von Kindern, die Schreie am Anfang von Sombre von Philippe Grandrieux, Kinderschreie schrecklicher Angst, die nie genug bekommen können. Weit aufgerissen wie jene von Ana Torrent im Kino und dann zuhause in ihrem Haus in El espíritu de la colmena. In diesen Sekunden, in denen man die Augen nicht schließen kann, obwohl man will, altert man. In diesen Sekunden existiert Zeit. Man denkt an Ten Minutes Older von Herz Frank, ein Film in diesem Haus. Man will zurückkehren, man will immer wieder heimkehren in dieses Haus. Man ist nie wirklich dort.

bildschirmfoto-2016-10-19-um-20-55-30

Bei Rivette erinnert die Szenerie im Inneren des Hauses mehr an Fernsehen als an Kino. Allerdings ist das eine sehr oberflächliche Betrachtung, die am Szenenbild, am Gestus des Gezeigten hängenbleibt. Vielmehr versteht man nie, was dort wirklich vor sich geht, es gibt ein in diese Oberflächlichkeit eingebautes Rätsel, das sich zum einen durch das Prinzip der Wiederholung entfaltet und zum anderen in kleinen Merkwürdigkeiten wie den tödlichen Blumen, die zu Bildern werden, die nichts und alles bedeuten wie so oft bei Rivette, Bilder, die zugleich in diesem Haus sind und sehr weit davon entfernt. Rivette ist ein Mann der Häuser, die das Kino sind. Labyrinthische Spiegeldecken wie in L’Amour par terre, große Türen und Rahmen ins Licht wie in La belle noiseuse, versteckte Schatten verbergen Gemälde und Schlüssel wie in La bande des quatre, es gibt immer etwas, was wir noch nicht gesehen haben, immer etwas tieferes, was durch den unerbittlichen Motor und Hauch der Zeit verdrängt und hervorgekehrt wird. Bei Rivette werden keine Geheimnisse freigelegt, sie befreien sich viel mehr und werden zu Bewohnern seiner Häuser, die man Filme nennt. Außerdem generiert sich für Céline und Julie in diesem Haus ein Zusammensein, ein Kinoerlebnis, denn es ist auch ein Ausgeliefertsein. Sie sitzen lachend zusammen und beginnen irgendwann gemeinsam in dieses Haus zu gehen, egal ob tatsächlich oder imaginär, gemeinsam die Pillen zu schlucken. Dann verschwinden sie und sind im Haus. Zwar gibt es eine Sequenz, in der klar wird, dass auch ein Ausstieg möglich ist, aber letztlich treibt es die beiden immer weiter in die Tiefe durch die Oberflächen hindurch. Das Kinohaus ist ein Haus der Wiederkehr, der Heimsuchung.

Das zeigt auch Manoel de Oliveira in seinem Visita ou Memórias e Confissões, in dem zwei fast unsichtbare Besucher nach dem Filmemacher in seinem Haus suchen. Das Kinohaus muss ein Geisterort sein, denn die Bilder kommen aus der Vergangenheit, sind aber in der Gegenwart. Bei Rivette, de Oliveira und Erice gibt es das Motiv der Heimsuchung in diesen Kinohäusern. In einem Wechselspiel aus Vertrautheit und Fremdheit oder eher der Dringlichkeit, in der Vertrautheit in Fremdheit umschlägt und Fremdheit und Vertrautheit, öffnen sich die Fenster und ermöglichen eine Heimsuchung des Kinos. Es ist das, was einen in Erwartung versetzt. Zum Beispiel das vom Wind geöffnete Fenster. Sie sind ein Fremdgeist in der Vertrautheit und wir spüren sie nie so stark wie im Kino. Doch es ist eben nicht nur Angst, die sich darin entflammt, sondern auch Begehren, ja Sucht. So kehrt das junge Mädchen in El espíritu de la colmena an den Ort zurück, an dem sie ihre tote Schwester auf dem Boden liegend vermutet. Doch die Schwester, die ihr nur einen Streich spielt, ist nicht tot. Sie lauert mit einem riesigen Handschuh hinter ihr. Das erstaunliche: Das junge Mädchen scheint fast darauf zu warten, auf den Schrecken, der nur einmal im Film wirklich ausbricht, und zwar als die beiden Geschwister nach dem Kino heimkehren. Sie schreien, als würde Frankensteins Monster, das sie gerade im Kinohaus gesehen haben sie verfolgen. Man flieht nicht vor dem Kinohaus. Man flieht nur vor der Erinnerung daran. Im Kinohaus gibt es keine Flucht, es gibt nur Träume und Albträume, in die man immer wieder zurückfällt. Das hat Chantal Akerman in ihrem letzten Film, No Home Movie gezeigt. In einer Nacht erwacht die Filmemacherin und/oder die Kamera nach einem Traum und geht durch die Wohnung, es ist eine Art Nachbild des Traumes, denn dieser Gang wird zum Albtraum für den Betrachter, ein geteilter Albtraum in einem Haus, in dem das Vertraute plötzlich fremd wirkt.

bildschirmfoto-2016-10-19-um-20-55-49

Stellt man eine Kamera in ein Haus, ist es eine Fiktion. Es gibt Auf- und Abtritte wie bei Ernst Lubitsch oder in Cristi Puius Sieranevada. Es gibt eine Intimität, eine räumlich bedingte Nähe. In einem Haus spielt man immer Theater. Rivette hat das Theater in L’Amour par terre auch deshalb in ein Haus gelegt. Das heißt nicht, dass ein Haus etwas repräsentiert, dass in einem Haus etwas repräsentiert werden muss. Ein Haus kann auch einfach nur sein. Aber die Kamera in diesem Haus setzt die Personen und Objekte im Haus in eine Relation zum Haus. Der Reichtum von De Oliveira, die Bourgeoise-Geheimnisse bei Rivette, Reichtum und Spärlichkeit bei Erice. Alles ist immer ein Spiel wie jenes zunächst unschuldige Spiel der Mädchen bei Erice, der Freundinnen bei Rivette, der geisterhaften Besucher bei De Oliveira. Ein Spiel, das sich fragt: Gehe ich noch einen Schritt weiter in die Fiktion, vielleicht in den Keller, vielleicht in den Dachboden? Wie könnte man eine Kamera in ein Haus setzen ohne Fiktion? Jedes Zimmer ist eine neue Geschichte, ein neuer Blick, eine neue Möglichkeit. Jede Tür, jede Schublade, jeder Vorhang verbirgt ein Geheimnis. Jede Distanz wird zu einer Nähe im Haus.

Es findet in den drei Filmen von Rivette, Erice und De Oliveira immer auch ein Dialog zwischen Häusern statt. Die Reise vom einen Haus ins andere, die Heimkehr und Wiederkehr vermischen. Denn man lernt die Räume auch kennen, sieht sie mehrfach, die Fenster, die Türen, die Wege. Die Häuser erlauben den Filmemachern zeitliche Aspekte des Kinos räumlich zu fassen. Sei es durch das Licht, das durch die Fenster kommt oder etwa das, was vor dem Fenster passiert, während man hinter ihm ist und hinter dem Fenster, während man vor ihm ist wie in Jean Renoirs La chienne. Ein Film wie das Fenster im Kinohaus. Sei es durch Blicke durch die Fenster- und Türrahmen. Fenster, die Blicke bedeuten und das Stillstehen von Zeit, das Nichts einer Gleichzeitigkeit wie etwa bei Sharunas Bartas in Coridorius oder hinaus ins ferne, einsame Ungewisse wie bei John Ford. Diese Häuser bewegen sich. Man denke an das hysterische Licht von der Straße, das im Haus von Jeanne Dielman wie der sichtbare Ausdruck einer in sich verborgenen Gefühlswelt durch die Zeit arbeitet, die immer gleiche Zeit in diesen immer gleichen Zimmern. Das haben diese Kinohäuser alle gemeinsam. Diese Wiederholungen, die sie immer wieder in die gleiche Form bringen wollen und sollen. Ein architektonisches Verständnis für das Drama eines Hauses. Joanna Hogg hat diesen inneren Dialog der filmischen Sprache in ihrem Exhibition auf die Spitze getrieben. Dort zeigt sich nicht nur wie eindrücklich Häuser das Doppelverhältnis von Sehen und Gesehen-Werden in sich tragen können, sondern auch welche Heftigkeit von einer Veränderung des Kinohauses ausgeht. Die Spuren in Häusern, wenn man so will. Man denkt an Hitchcocks Rebecca, ein großer Film der Heimsuchung in der ein Verbrechen in der Vorstellung eines Hauses weiterlebt. In einer Szene projiziert der Mann einen Film in diesem Haus und das flackernde Licht lässt das Haus im Kino verschwinden, macht Haus und Kino zu einer Sache. Auch in Dillinger è morto von Marco Ferreri gibt es dieses Auflösen von Kinobildern im Heim, das immer auch ein heimliches Begehren, Bedauern in der Auflösung bedeutet. In El espíritu de la colmena gibt es am verlassenen Haus auf dem Feld einmal tatsächlich eine Spur. Ein Fußabdruck, der das junge Mädchen an Frankensteins Monster erinnert. Warum bringt einen das so aus der Fassung? Es ist im Kino angelegt, dieses Spannungsverhältnis zwischen Gewohnheit und Überraschung. Zwischen der Erwarteten, dem Erwartbaren, dem was man erwartet nicht zu erwarten und dem was mich nicht erwartet zu erwarten. Am Anfang ist da ein Vorhang, eine Tür. Wir klopfen oder klingeln. Jemand wird öffnen oder nicht. Wir treten ein oder schleichen herum. Wir nehmen Teil oder beobachten. Wir werden angesehen oder nicht. Wir verstecken uns oder ziehen uns aus. Wir halten alles für möglich und nichts für wahrscheinlich.

bildschirmfoto-2016-10-19-um-20-57-53

Schließlich gibt Rivette am Ende von Céline et Julie vont en bateau dem Kinohaus genau jene Umkehr, die die wahre Heimsuchung bedeutet: Das Haus ist auch außerhalb des Hauses. Die Bewohner des merkwürdigen Schauspiels dort existieren in der Welt, die wir für außerhalb des Hauses hielten. Wie die Angstschreie vor Frankenstein. Man könnte es etwas platt als Imagination beschreiben, um die es in diesen Häusern und entfernt von ihnen geht. In Wahrheit ist es aber eine Wahrnehmung, eine Lebensweise. Das Kinohaus ist keine Sache, die man wirklich betreten oder verlassen kann. Man trägt es in Augen und Ohren. Die ganze Welt ist entweder ein Kinohaus oder nicht. Das Kino sucht ständig alle Orte heim, macht sie zu einem Heim des Kinos. In El espíritu de la colmena zeigt sich das ganz besonders deutlich. Dort kann jedes Haus zum Kino werden, der Film beginnt auch mit einem Wanderkino. Das Kino kommt in die Häuser, sucht die Häuser heim.

Heise-Liebe: Erinnerung an eine Szene in Kinder. Wie die Zeit vergeht

In Kinder. Wie die Zeit vergeht, dem dritten Teil der Halle-Neustadt Trilogie von Thomas Heise gibt es eine dieser Szenen, die es nur in Filmen geben kann. Man sieht etwas, aber es geht nicht von den Augen ins Gehirn sondern direkt in den Körper. Diese Szenen lösen eine Resonanz im Zuseher aus, die zur gleichen Zeit persönlich wie auch philosophisch wirkt. Mit „philosophisch“ ist hier gemeint, dass sie trotz der emotional-persönlichen Wirkung zu einer allgemeineren Auseinandersetzung einladen. In der Szene, über die ich im Folgenden nur aus meiner Erinnerung an ein Screening vergangene Woche schreiben kann, folgt die Kamera dem jungen Paule bei einem Jugendfußballspiel. Paule ist der jüngere Sohn von Jeanette Gleffe, deren Leben im Zentrum des dritten Teils der Trilogie steht.

Poster Kinder.Wie die Zeit vergeht

Es ist eine erstaunliche Szene, da sich der Kameramann bei einem offensichtlich tatsächlichen Kinderfußballspiel zwischen den Spielern auf den Platz bewegt. Daraus entsteht eine Dynamik, die man normalerweise nur aus stilistisch extrem erhöhten Nike-Werbespots kennt. Auf der Tonspur hört man unablässig das Atmen des jungen Paule, an dem die Kamera klebt, obwohl sie immer wieder droht, ihn zu verlieren, Rufe gehen durcheinander, alles findet in diesen massiv poetischen schwarz-weißen Bildern statt, die das Sonnenlicht zu einer schwachen Unwirklichkeit verdammen. Paule rennt in alle Richtungen, dann bleibt er stehen, er schaut, er ist konzentriert und im Spiel versunken. Da die Kamera nur ihm folgt, wirkt er trotz oder gerade wegen der anderen Spieler isoliert. Es sind einsame Momente da auf dem Fußballplatz. Jeder Junge spielt für sich und seine Anerkennung/Eltern. Einige Einstellungen zeigen den Gegenschuss. Beobachtende Eltern, eine Parallelfahrt entlang der Zaungäste, zunächst wirkt es fast wie in einem Film von Ulrich Seidl, eine kleine Freakshow mit diskutierenden Vätern in Trainingsanzügen, wild gestikulierend und den hyperventilierenden Müttern, die ihre Freude über den „Starstatus“ ihres Sohnes kaum verbergen können. Ein paar abwesende Gesichter dazu und man befindet sich in der Welt, die man eben überall auf Nachwuchsplätzen und darüber hinaus wahrnimmt. Doch in dieser Einstellung liegt auch eine ungeheure Sinnlichkeit, ein Verständnis für Zusammenhänge, die über Generation laufen. Wer selbst Fußball gespielt hat, findet sich wieder in dieser Situation zwischen dem Spiel, dem Ich in diesem Spiel, den Eltern, dem Wettbewerb. Es ist ein zutiefst komplexes Gefühlsgewebe, da sich für einen Jungen dort und eigentlich für jeden Spieler im Moment des Spiels, die Welt abspielt. Hier lag für mich jenes persönliche Moment, das in einer theoretischen oder praktischen Auseinandersetzung mit Film oft hinter eine Sachlichkeit oder eine Professionalität zurücktritt. Da ich selbst dieses Kind war und bin, konnte ich mich nicht nur, wie man das oft vom Hollywoodkino behauptet, in die Figur hineinversetzen, nein, ich konnte etwas über den größeren Zusammenhang spüren, ein kleiner Hauch eines Verstehens meiner Selbst, meiner Eltern und der Motivationen, die uns alle antreiben oder nicht antreiben. Ein Fußballspiel, vor allem auf niedrigerem Niveau oder im Nachwuchsbereich hat eine komische Eigenschaft, die mit der Perspektive verbunden ist. Steht man selbst auf dem Platz wirkt alles äußert schnell, intensiv und spektakulär. Schaut man aber zu, verliert sich dieses Gefühl. Man sieht die Schwächen, die Mängel und Unzulänglichkeiten. Heise schafft es in dieser Szene beides zugleich in Szene zu setzen. Damit trifft er die Seele eines Jugendfußballspiels.

Kinder. Wie die Zeit vergeht

Gleichzeitig ist es eine Szene, in der ganz wie in Herz Franks Ten Minutes Older tatsächlich das Älterwerden eines Kindes in Echtzeit vor uns abläuft. Bei Frank läuft dieser Prozess in einer Beobachterposition ab, während bei Heise der Junge selbst in Aktion tritt. Dadurch etabliert sich eine Orientierungslosigkeit, die zwar ein Ziel hat, aber nach dem Erreichen dieses Ziels wieder suchen muss. Es ist auch eine unheimlich poetische Szene, die in ihrer Schönheit an eine Fußballszene in Wong Kar-wais Happy Together erinnert und die Bewegungen und Blicke, die Stimmen und Gesichter ständig in einen größeren Zusammenhang setzt.

Doch Heise hat noch ein besonderes Geschenk für Paule und den Zuseher, denn Paule wird ein Tor schießen. Seine Jubelschreie und die seiner Kollegen erschallen zugleich wie der am Ende des Films in Worten verbildlichte Schrei, der vor dem Mund kommt und die unschuldige Erinnerung einer Kindheit. In dieser Freude liegt bereits das eingefrorene Zeitbild, der verbildlichte Zeitsprung, der wie ein unablässiges Herz im Keim dieser Welt pocht. Es gibt einen langen Moment des Glücksgefühls, Paule breitet die Arme aus, er schreit, seine Mitspieler schreien. Dann steht er wieder am Mittelkreis. Wie in einer anderen Welt. Er atmet schwer und schaut sich um. Vielleicht gab es einen spähenden Blick zum Spielfeldrand. Und weiter geht’s.

CHILDREN. AS TIME FLIES. (2007) from ma.ja.de. on Vimeo.

Mädchen und Häuser: Eine Krankheitsgeschichte

Ana in El espíritu de la colmena

Die vier Filme, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen werde stellen keine definitive Auswahl dar. Sujets wie alte Häuser und hilflose Mädchen sind dem Horrorgenre alles andere als fremd (wie man an den Beiträgen zur Horror-Retrospektive hier am Blog leicht erkennen kann). Dieser Text ist ein Vorschlag, welche Beziehungen zwischen den einzelnen Filmen man ziehen kann und ganz bewusst handelt es sich bei zumindest drei der vier Filme um keine Vertreter des Horrorgenres (wenngleich sie alle Aspekte des Genres beinhalten). Wenn man so will ist der Text eine Anamnese eines jungen Mädchens, das in verschiedenen Altersstufen (und die vier Rollen lassen sich rein altersmäßig in etwa chronologisch ordnen) verschiedene Ausprägungen mentaler Probleme erlebt.

Angelos umgebauter "Prunksaal" in Tras el Cristal

Tras el Cristal

Spanien, 1940. In honigfarbenem Licht erstrahlen die Hallen des Herrenhauses in dem die sechsjährige Ana lebt. Im kastilischen Hinterland lebt sie mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Isabel, noch zu jung um vollends zu verstehen was in ihrem Land gerade vor sich geht. In El espíritu de la colmena, noch zu Lebzeiten des Diktators Francisco Franco entstanden, widmet sich Regisseur Víctor Erice der Psyche dieses kleinen Mädchens und erzählt gleichsam parabelhaft vom Horror des Lebens unter einem faschistischen Regime. El espíritu de la colmena ist nicht nur einer der schönsten Filme der Kinogeschichte, sondern lässt sich auch nahtlos in eine ganze Reihe anderer Filme einordnen, die Beziehungen zwischen kleinen Mädchen und ominösen Vaterfiguren in mysteriösen alten Gemäuern verhandeln. Anhand von vier Beispielen will ich eine Genealogie von Filmen dieser Art ziehen, die sich wohl ohne weiteres noch durch dutzende andere Filme erweitern ließe. Erices modernes Gruselmärchen dient mir dabei als Ausgangspunkt. Der Spanier, dessen Gesamtwerk leider nur drei abendfüllende Spielfilme umfasst, hat eine besondere Beziehung zu Gebäuden als Orten. In allen seiner Filme spielt das Haus als mystischer Ort und die Beziehung zu seinen Bewohnern eine wichtige Rolle. Im Nachfolgefilm und Gegenstück zu El espíritu de la colmena, dem formidablen El Sur zieht eine spanische Familie in den Süden, in die Heimat des Vaters, wo im Verlauf des Films die Dynamiken zwischen Vater, Haus und Tochter ergründet werden. In El Sol del Membrillo zeigt Erice den Maler Antonio López Garcia dabei wie er versucht den Quittenbaum in seinem Garten zu zeichnen während Bauarbeiter sein Haus renovieren. In Erice Segment des Omnibusfilms Centro Histórico lässt er ehemalige Fabrikarbeiter in einer stillgelegten Textilfabrik über die Vergangenheit dieses Orts sinnieren, in La Morte Rouge sinniert er selbst über seine eigenen Anfänge als Kinogänger. Selbst in Alumbramiento, Erices Beitrag zu Ten Minutes Older: The Trumpet spielt eine Familie und ihr Haus eine wichtige Rolle. In keinem dieser Filme aber, wird das Haus so lebendig wie in El espíritu de la colmena.

Ana im honigfarbenen Licht von El espíritu de la colmena

El espíritu de la colmena

Anders als in den anderen Beispielen, die ich noch anführen werde ist das Haus hier noch ein Ort von Geborgenheit, von Wärme, eine sichere Zuflucht vor den eisigen Winden der kastilischen Hochebene. Wie der Name des Films schon andeutet, und was visuell durch Licht und Szenenbild noch verdeutlicht wird, bedient der Film die Metapher des Bienenstocks. Im Haus ist Ana sicher, dort kann ihr nichts passieren, nur wenn sie das Haus verlässt, um ins Kino, in die Schule – oder später – zu einem verlassenen Bauernhof zu gehen, gibt sie sich der Gefahr preis. Wobei von Gefahr im engeren Sinne eigentlich kaum die Rede sein kann; echtem Horror, echtem Schrecken und echter Gefahr wird die Tochter aus gutem Haus nie tatsächlich ausgesetzt. In ihrer Fantasie jedoch, inspiriert durch James Whales Frankenstein, sieht sich Ana einem Monster Frankenstein’scher Prägung ausgesetzt. Der Horror, wenn man überhaupt davon sprechen will, denn El espíritu de la colmena ist kein Horrorfilm im engeren Sinne, spielt sich auf einer rein subjektiven, psychologischen Ebene ab. Erice präsentiert die Welt zwar aus der Perspektive des Mädchens, abgesehen von einer ikonischen Szene, blicken wir allerdings nie tatsächlich durch ihre Augen. Wie sehr sie sich fürchtet – oder auch nicht – können wir also stets nur an ihren Reaktionen zu ihrer Umwelt erkennen, da uns der Blick in „ihre Welt“ verwehrt bleibt.

Ivana Baquero als Ofelia in El laberinto del fauno

El laberinto del fauno

Anders verfährt der Mexikaner Guillermo del Toro in El laberinto del fauno. Del Toro, der El espíritu de la colmena als Inspiration für seinen Film angegeben hat, hat ein beträchtlich höheres Budget zur Verfügung als Erice und zaubert in bester del Toro-Manier eine grandiose Fantasiewelt auf die Leinwand. Unabhängig einer möglichen Wertung, ob es besser sei eine Fantasiewelt bloß anzudeuten und die Imagination des Publikums zu testen oder sie voll ausgearbeitet zu präsentieren, stellt El laberinto del fauno eine Weiterentwicklung zu El espíritu de la colmena dar. Die Protagonistin Ofelia, ein paar Jahre älter als Ana aus El espíritu de la colmena zieht zu ihrem neuen Stiefvater, dem franquistischen Hauptmann Vidal, in ein altes Herrenhaus, das ihm als Hauptquartier auf einer Expedition gegen anti-faschistische Partisanen dient. Der Film entstand dreißig Jahre nach dem Untergang des franquistischen Regimes und demgemäß muss del Toro sich keiner Parabeln bedienen um den Schrecken des faschistischen Apparats zu bebildern. Blutig und grausam wird gemordet und gefoltert – all das vor den Augen von Ofelia, die sich schon bald in eine Fantasiewelt flüchtet. In einem verfallenen Labyrinth neben dem Haus findet sie eine Welt voller fantastischer Kreaturen vor. Diese Fantasiewelt und ihre Bewohner sind dank Computeranimation, Make-Up und Animatronic in voller Pracht auf der Leinwand zu sehen. In El laberinto del fauno wird der Blick auf die Leinwand ein Blick durch Ofelias Augen. Mit dieser Entscheidung zeigt del Toro einerseits mehr, andererseits verschließt er sich dem viel realeren Horror außerhalb von Ofelias Fantasiewelt. Die Bebilderung der Grausamkeiten der franquistischen Truppen wird durch die Einblicke in Ofelias Welt verdrängt. Der Horror wird hier also gleichsam realer (weil visuell fassbar), wie irrealer (weil dem Blick der Horror der realen Welt vorenthalten wird).

Das Haus in Tideland

Tideland

Terry Gilliams Tideland, das einzige nicht-spanischsprachige Beispiel in meiner Aufzählung, mag da wie ein Rückschritt anmuten. Tideland ist der bis dato wohl makaberste Film des exzentrischen Filmemachers (und das will was heißen) und das obwohl er weitaus weniger Spezialeffekte einsetzt als in den meisten anderen seiner Filme und Tideland dementsprechend billiger produziert werden konnte. Tatsächlich entstand der Film während des Streits mit den Weinstein Brüdern über die Post-Production von Gilliams früherem Projekt The Brothers Grimm, der schlussendlich erst nach Tideland ins Kino kam und wurde insgesamt wenig beachtet. Wenn der Film mehr Beachtung gefunden hätte, wäre womöglich die Rezeption von El laberinto del fauno anders verlaufen, denn die vielgepriesene düstere und makabre Atmosphäre der Märchenvariation del Toros wird durch Tideland noch übertroffen. Um diesen Effekt zu erzielen geht Gilliam wiederum auf Distanz. In einem heruntergekommenen Haus stirbt die Mutter von Jeliza-Rose. Sie war genauso wie der Vater Noah drogenabhängig. Um nicht wegen Drogenbesitzes verhaftet zu werden flieht Noah mit Jeliza-Rose in sein verfallenes Elternhaus nach Texas. Dort angekommen setzt er sich ungewollt den „Goldenen Schuss“ und lässt seine Tochter auf sich allein gestellt zurück. Sitzend auf seinem Lehnstuhl wird Noah im weiteren Verlauf des Films zur Requisite, denn Jeliza-Rose, an längere mentale Abwesenheit der Eltern gewöhnt, lebt einfach an der Seite ihres langsam verwesenden Vaters vor sich hin. Es zeigt sich eine tiefe pathologische Störung in der Psyche des Mädchens, der man als Zuseher erst nach einiger Zeit gewahr wird. Dann nämlich wenn sie beginnt mit ihren Puppen, ihrem toten Vater und den Tieren im Garten zu interagieren. Gilliam verwehrt seinem Publikum jedoch den Blick in diese Fantasiewelt und nimmt die Position des Beobachters ein, verzichtet also wie Erice auf den Blick durch die Augen der Protagonistin. Das Resultat ist trotzdem, oder vielleicht genau deshalb, umso bedrückender und umso makabrer. Nicht immer kann man klar unterscheiden ob sie in ihren Spielen in der realen Welt oder in der Fantasiewelt weilt, ebenso verhält es sich mit den Gesprächen mit dem halb-verrückten Geschwisterpaar der Nachbarsranch. Hier entstammt der makabre Schauer dem Umstand, dass man die realen Vorgänge zu sehen bekommt, aber nicht die eskapistische Fantasiewelt, also genau umgekehrt wie in El laberinto del fauno.

Angelo und der Doktor in Tras el Cristal

Tras el Cristal

Abschließend, und dieser Film war eigentlich der Ausgangspunkt meiner Überlegungen, will ich mich Agustí Villarongas Tras el Cristal zuwenden. Von allen vier Filmen ist Tras el Cristal der einzige, der sich relativ problemlos im Horrorgenre einordnen lässt. Der Katalane Villaronga erzählt darin von einem sadistischen Nazi-Doktor, der im Krieg Experimente an Kindern durchführte und nun nach einem Unfall an eine Eiserne Lunge gefesselt ist und als Pfleger eines seiner ehemaligen Opfer anstellt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht aber weder der Doktor, noch seine Tochter, sondern der Pfleger Angelo, der langsam wahnsinnig wird. Zunächst scheint es so als hätte der junge Mann das Trauma seiner Kindheit überwunden und will bloß Rache an seinem früheren Peiniger üben. Mit der Zeit stellt sich aber heraus, dass der Doktor in Wahrheit eine anziehende Wirkung auf Angelo ausübt. Diese Anziehungskraft geht so weit, dass Angelo den Platz des Doktors einnehmen will. Er kleidet sich in dessen alte Uniformen, rezitiert aus seinem Tagebuch und stellt schließlich sogar die Gräueltaten des Doktors mit Kindern aus dem Dorf nach. Visuell schreckt Villaronga nicht davor zurück diese Kindermorde (und die dazugehörigen pädophilen Spiele) sehr grafisch zu bebildern. Gleichzeitig baut Angelo, nachdem er die Mutter getötet hat, das Haus der Familie zu einer pervertierten Festung um. Irgendwann erkennt der Doktor, dass dieses Spiel nur mit seinem Tod enden kann und endlich rät er seiner Tochter Rena zur Flucht. Doch die Flucht misslingt – Rena ist bereits Teil des Spiels – sie unterliegt der Anziehungskraft des charismatischen Angelos und wird schließlich sein Nachfolger. Bei Tras el Cristal handelt es nicht um eine trashige Nazi-Klamotte, sondern um eine Studie psychischen Verfalls. Dieser Verfall betrifft in diesem Fall in erster Linie nicht das Mädchen selbst, wie in den anderen Filmen, sondern den Pfleger Angelo. Renas Probleme treten erst nach einiger Zeit zu Tage – trotz eindeutiger Hinweise, dass Angelo die Mutter getötet hat, mehrere junge Buben verschleppt und den Vater dahinvegetieren lässt, bleibt sie im Haus, das zunehmend zu einem Ort des Schreckens wird (nicht bloß metaphorisch, sondern durch Angelos Umbauten auch visuell). Sie verzichtet, womöglich aus Bewunderung für Angelo oder weil sie sich von ihm sexuell angezogen fühlt, darauf zu fliehen oder Alarm zu schlagen und verbleibt an seiner Seite. In Tras el Cristal sind die beiden Ebenen der Fantasiewelt und realen Welt nun nicht mehr zu trennen. Angelo baut sich seine Fantasiewelt in realiter nach, stellt die Szenen seiner Erinnerung und seiner Vorstellung im echten Leben nach. Der Wahnsinn nimmt überhand und wird zum konstitutiven Prinzip des Films – visuell wie psychologisch.