Nacht und Nebel: L’homme de Londres von Henri Decoin

L'homme de Londres von Henri Decoin

Im Dunkel der Nacht gehen allerhand zwielichtige Gestalten ihren unlauteren Geschäften nach. Für sie ist die Nacht Zufluchtsort und Lebensraum. Doch auch dem einen oder anderen ehrlichen Gesellen ist die Nacht vertraut. Seit über zwanzig Jahren verrichtet Louis Maloin seinen Dienst als Weichensteller im Hafenbahnhof der nordfranzösischen Stadt Dieppe. Sein Leben, und auch das seiner Familie, ist um seine Nachtschichten strukturiert. Frau, Tochter und Sohn sieht er sonntags und zum gemeinsamen Abendmahl, den Großteil seiner wachen Stunden verbringt er nachts in einem exponierten Turm zwischen Kaimauer und Rangiergleisen. Dieser Aussichtsturm soll ihm Überblick bieten, um Schiffe und Waggons im Auge zu behalten, doch er ist Maloin gleichsam Zuflucht, zweite Heimat, Kerker. Seinen Zweck erfüllt der Turm nur bedingt; wenn sich der berüchtigte Nebel ausbreitet, verringert sich die Sichtweite beträchtlich. Dann dröhnen die Nebelhörner der ankommenden Schiffe durchs Hafenbecken, lange bevor ihre Silhouetten unter den dichten Nebelschwaden zu sehen sind.

So auch in jener schicksalsschweren Nacht, die das Leben von Louis Maloin nachhaltig verändern sollte. Ein Passagierschiff aus England läuft in den Hafen ein und Maloin, der lieber die Neuankömmlinge beobachtet, als die unnachgiebige Nebelwand, erkennt wie zwei der Reisenden, offensichtlich „Freunde der Nacht“, einen Koffer aus dem Schiff schmuggeln. Später sieht er die beiden an der Kaimauer, am Fuße des Turms streiten – einer der beiden landet mitsamt dem Koffer im Wasser und versinkt tot im Hafenbecken. Brown, Clown und Mörder, der „Mann aus London“ taucht unter. Maloin fischt den Koffer aus dem Wasser und findet sich im Besitz von rund drei Millionen gestohlenen Francs.

L'homme de Londres von Henri Decoin

Henri Decoin, ehemaliger Schwimmchampion, ist ebenfalls ein Freund der Dunkelheit. L’homme de Londres ist immer dann am wirkkräftigsten, wenn Decoin Nacht und Nebel zu einem Stimmungsbild verdichtet. Das gelingt ihm zeitweilig hervorragend: Die Eröffnungssequenz, eine Kamerafahrt entlang der Kaimauer, die Nacht ist noch jung und das Vergnügungsviertel noch relativ unbelebt. Nur wenige Matrosen sind unterwegs während nach und nach die Lichter der Hafenkneipen angehen. Die stadtbekannte „Animierdame“ Camélia besingt in einem Chanson die düstere Szenerie, im Liedtext kann man die kommende Katastrophe erahnen. Auch der Zweikampf zwischen Brown und Maloin in der fast vollständigen Finsternis von Maloins Fischerhütte ist eine Erwähnung wert. Erst nach Ende des Gerangels erkennt man, welcher der beiden Schemen die Oberhand behalten hat. Dann verlässt der Sieger den heruntergekommenen, vollgeräumten Schuppen und ergibt sich seinen Gewissensbissen und seinem Schicksal. Über sechzig Jahre nach Decoin hat Béla Tarr in seiner Adaption des Simenon-Romans diesen Kampf gar hinter verschlossenen Türen austragen lassen. Tarrs Vision des düster-nebligen Hafens von Dieppe schließt an die besseren Szenen in Decoins Film an, ist aber in jeder Hinsicht radikaler. A Londoni férfi ist dominiert von langsamen Schwenks durch den doppelten Schleier aus Nebel und Dunkelheit, unterbrochen von Handlungsfetzen von Schattengestalten in unwahrscheinlichen Lichtkegeln. Tarr gibt sich voll und ganz der literarischen Vorlage hin und evoziert damit eine Stimmung, die Decoin vermissen lässt. Ähnlich verfährt Jean Renoir in seiner Maigret-Verfilmung La Nuit du Carrefour. In Patricks Besprechung des Films sind ebenfalls Dunkelheit und Nebel prominent vertreten. Sie scheinen in der DNA dieser Simenon-Romane verankert zu sein. Renoir und Tarr taten gut daran sich ihrer Vorlage behutsam zu nähern und die Stimmungsbilder, die Setting und Plot anbieten, herauszuarbeiten. Decoin hingegen, unterwirft sie narrativer Eindeutigkeit. In L’homme de Londres wird alles ausgesprochen (selbst Maloins Gewissensbisse), alles wird bebildert, nichts wird der Imagination überlassen, so trägt Decoin das große Mysterium um den Mann aus London zu Grabe.

At Sea: The Long Voyage Home von John Ford

The Long Voyage Home ist die Quintessenz aller Gefühle, die ich in jedem John Ford Film suche und immer nur dann finde, wenn er selbst sucht, sucht nach einer Heimat, nach einem Übergang von Schatten und Licht in der Tiefe der unglaublichen Bilder von Gregg Toland. Eigentlich sucht er immer, aber hier und vielleicht noch in seinem The Lost Patrol ist er verlorener, dann werden seine historischen Verweise und Figuren zu den geisterhaften Silhouetten einer Emotion, die sich ziemlich platt mit dem Wort Sehnsucht beschreiben lässt oder womöglich als die Melancholie des Blicks. Ford filmt genau diesen Blick und er tut das sicherlich in jedem seiner Filme, manchmal kaum bemerkbar und manchmal über die kitschigen Fassaden eines Heimatpatriotismus hinausgeschossen (looking at you Sean Thornton), aber in den Filmen, die mir das Herz brechen (und The Long Voyage Home ist wohl der eindrücklichste dieser Filme), filmt er diesen Blick in all seiner Isolation und Bewegung durchgehend. (zwischen den obligatorischen Schlucken aus der Flasche, versteht sich…) Fast surreal und voller poetischer Abstraktion ist dieser Film, der trotz John Wayne praktisch ohne individuellen Protagonisten auskommt. (Es ist dies im amerikanischen Kino eine der absoluten Ausnahmen, ich zitiere den wütenden Amos Vogel aus dem Jahr 1947: „Almost never is there a collective hero; there is always the individual one“ ) Die Besatzung der Glencairn, ein mal fahrendes, mal stehendes Handelsschiff zu Beginn des großen Krieges, mit dessen Beginn (auch für Ford) so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat, ist der Stoff und Ausgangspunkt der Sehnsüchte. Ford portraitiert von seinem ersten Bild an die Sehnsucht in der Form dreier Unbeweglichkeiten, die einzig von einem Funkeln in den Augen erreicht werden können. (Chris Fujiwara über den Film: Movement as a metaphor for immobility ) Die erste Unbeweglichkeit sind die singenden Frauen, Sirenen, die verlockend und am Ende selbst bedauernd gefährlich werden, die zwar am Ufer stehen, aber die Männer doch gefangen halten in ihren engen Kajüten einer vergessenen Welt, irgendwo draußen treibend im Gefängnis einer Existenz, die sie (wie immer wieder bei Ford) an ihre Ideale, ihre Arbeit und den Alkohol ketten. Zu Beginn wirken sie wie der Weg aus dem Gefängnis, wie das Paradies. Am Ende offenbart sich, dass dieses Paradies nur ein weiteres Gefängnis ist. Der Alkohol ist auch die zweite Unbeweglichkeit, er wird hier von Ford tatsächlich als eine Art Fehler installiert, zwar mit rauer Sympathie betrachtet, aber doch ist er jene Versuchung in der die Männer stecken bleiben, in der sie verschwinden und aufgrund der sie sterben. Die dritte Unbeweglichkeit ist das Ufer selbst, das Land, das die Männer in ihren Träumen heimsucht, in dessen nebeligen Hafenmauern sie sich verkriechen, um fast schamvoll wieder an Bord zu kommen. Die Bilder des Films erinnern an jene, die Béla Tarr in seinem The Man from London gefunden hat und manchmal glaubt man, dass ein gewisser Jean Renoir hinter der Kamera stand. An allen drei Unbeweglichkeiten hängt die größte aller beweglichen Metaphern für Unbeweglichkeit: Die Erinnerung, die Bilder nach dem großen Krieg so sehr prägen sollte und die hier schon zur vollen Entfaltung kommt, als würde Ford die psychischen Folgen eines Krieges schon erahnen bevor dieser überhaupt richtig begonnen hat. Aber es ist nicht der Krieg, der diese Erinnerung zeichnet sondern das Leben und die Einsamkeit selbst. Das Streben nach einer Freiheit bewirkt eine Heimatlosigkeit, die in Form von kriechenden Schatten auf den fahlen Gesichtern der harmlosen Seelen jeden Anker aus dem Leben der Männer entfernt und nur auf einen Untergang im Sturm (sei es jener von Torpedos, jener des Lebens oder jener der See) hinauslaufen kann. Hinter dieser Odyssee verbergen sich gleichermaßen eine Romantik der Einsamkeit und ein Plädoyer für die Familie, die es nur in schmerzenden Briefen und Erzählungen als eine weitere unerreichbare Sehnsucht im Off gibt. You are the fugitive. But you don’t know what you’re running from. Fords eigene Liebe zur See und die offensichtlichen Parallelen zwischen einer Filmcrew irgendwo in der Wüste (dort wo sie Herr Ford gerne hat) und einer Schiffscrew auf dem Ozean sind offensichtlich und genauso offensichtlich entsteht daraus eine persönliche Melancholie. The Long Voyage Home ist ein Film über ein Gefühl und das letzte Wort des Titels ist eine beruhigende Lüge. Ein Trost, der wie die im Obstkorb versteckten Whiskeyflaschen schnell leergetrunken ist.

The Long Voyage Home