Erinnerungen an eine Oper – Ingmar Bergmans Trollflöjten

Ingmar Bergman zeigt seine Affinität zu Mozarts vorletzter Oper Die Zauberflöte bereits in seinem Film Vargtimmen (Die Stunde des Wolfs), in dem eine Szene der Oper als magisch zum Leben erwecktes Puppentheater nachgespielt wird. Daher – auch in Anbetracht seiner vielen Erfahrungen als Bühnenregisseur – scheint es nicht verwunderlich, dass er 1975 im Auftrag des Schwedischen Rundfunks sich an eine filmische Adaption der Oper wagt.

Die Zauberflöte gilt heute (neben Verdis La Traviata) als die meistaufgeführte Oper der Welt. Schon nach der Uraufführung 1791 avancierte das Stück von Schikaneder (der den berühmten Vogelfänger Papageno damals selbst auf der Bühne verkörperte) und Mozart zu einem riesigen Erfolg. Dies ist vor allem Verwendung von Motiven und Inhalten der Zauberposse zu verdanken, die sich zu jener Zeit in der Wiener Gesellschaft höchster Beliebtheit erfreute und die Schikaneder und Mozart im Laufe des Stückes immer mehr mit einer ernsten, mystischen Atmosphäre, die stark von Freimaurersymbolik geprägt ist, verbinden. Mozarts Oper (insbesondere einzelne Arien daraus, wie Dies Bildnis ist bezaubernd schön, Der Vogelsänger bin ich ja und Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen) erfreut sich heutzutage einer darartigen Medienpräsenz, dass sich natürlich die Frage stellt, ob es möglich ist, dem Stück noch neue Facetten abzugewinnen. Begman findet einen Weg der Neuinterpretation in einer eigentümlich Verbindung von theatralen und filmischen Elementen in seinem Film Trollflöjten.

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In vielen von Bergmans Filmen ist ein starker Einfluss vom Theater her auszumachen, doch in keinem spielt er so offensichtlich mit der Theatralität des Films wie in Trollflöjten. Besonders von seinen Erfahrungen als Opernregisseur (Die Dreigroschenoper, 1950, The Rake’s Progress, 1961) profitiert der Film. Seine Hingabe zur Oper, die sich durch sein ganzes Leben zieht (er adaptiert und inszeniert 1991 Euripides‘ Bakchen für die Opernbühne), zeigt sich auch in dem feinfühligen Umgang mit der Vorlage. Die Adaption eines Bühnenstücks erweist sich meistens als sehr schwierige Aufgabe, schließlich soll sie den Geist der Vorlage einfangen ohne eine bloße Aufzeichnung des Werks zu sein. Gerade in der heutigen Zeit, in der sich die Aufnahmetechnik in den Theatern und Opernhäusern ständig verbessert, bedarf es mehr als einen Einfangens des Bühnengeschehens, um sich von den verschiedenen Hausaufzeichnungen abzusetzen (die ein Medium ihrer eigenen Art sind, das sich vom Film unterscheidet).

Bergmans ausgewogene Erfahrung als Film- und Bühnenregisseur kommt im Falle von Trollflöjten zur vollen Geltung. Er beherrscht die spezifischen Ausdrucksformen der beiden Medien mit solcher Meisterschaft, dass er sie in verspielter Weise gegeneinander ausspielen kann. Dies beginnt schon bei den feinen Änderungen, die sich in der schwedischen Übersetzung des Librettos wiederfinden: Große Teile der Freimaurersymbolik, wie z.B. die Anbetung der altägyptischen Götter, werden durch das Verändern kurzer Textpassagen aus dem Stück entfernt; des Weiteren wird die Beziehung zwischen Sarastro und Pamina als Vater und Tochter neu definiert. Durch diese feinen Verschiebungen eröffnet sich eine neue Deutungsebene des Stücks, in dem es nun nicht mehr so sehr um den archaischen Kampf Gut gegen Böse, Nacht gegen Tag, Weiblich gegen Männlich, sondern um Konflikte innerhalb einer Familie geht. Als Familiendrama, das sich in weiterer Folge in eben jenen archaischen Kontrasten ausrückt, die den ursprünglichen Konflikt des Stücks ausmachen, fügt sich Trollflöjten nahtlos in das Gesamtwerk Bergmans ein.

Bergman scheint sich zudem der Gefahr bewusst zu sein, dass in der Oper durch die emotionale Dominanz der Musik, die anderen Informationskanäle (literarische und visuelle), leicht aus dem Aufmerksamkeitsfeld der Zuschauer verschwinden. Es scheint, als wäre die musikalische Interpretation, die in Trollflöjten zu hören ist, mit dem Hintergedanken konzipiert, kleine Gesten durch zu hohe Emotionalität nicht zu unterdrücken. So sind die Stimmen der Sänger und Sängerinnen sehr oft aus großer Nähe, ohne Raumwirkung, zu hören; in den großen Arien kommt es an typischen Stellen, wo Opernsänger ihre Stimmgewalt in starkem fortissimo beweisen, bei Bergman höchstens zu einem mezzoforte. Überhaupt scheinen all die großen melodramatischen Gesten der Oper für den Film verkleinert worden zu sein: der Film ist geprägt von fast stoischen Gesichtern, deren Emotionalität sich eher aus der Spannung zwischen dem inneren Befinden der Darsteller und deren äußerem Ausdruck ergibt, als sich durch direkte Körperlichkeit mitzuteilen. Die Gesten in Trollflöjten sind eben nicht opernhaft, sondern filmisch.

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In jenen Momenten, in denen selbst durch solche Methoden die Opernhaftigkeit der Zauberflöte nicht abgeschwächt werden kann, entschärft Bergman die Situation, indem er eben jene Opernhaftigkeit durch die Inszenierung noch stärker hervorhebt: Die theaterhafte Kulisse wird ins Bild gerückt, die Darsteller wenden sich an das Theaterpublikum und Schrifttafeln begleiten den Gesang. Hiermit wird die Stimmung des Stückes aufgelockert (eben im Geiste der Vorlage) und die Handlung gleichzeitig stilisiert. Dieser Stil zeigt sich in Trollflöjten durch das Hervorheben verschiedener theatraler Momente und der Machart des Films. Dies beginnt bereits in der Eröffnungsszene, in der dem Zuschauer in vielen Close-Ups das Theaterpublikum präsentiert wird, welches Bergmans Inszenierung der Zauberflöte betrachtet. Das Publikum blickt gespannt auf die Bühne und reflektiert in feinen Gesichtsbewegungen kleine Veränderungen in der Musik. Obwohl die Augen der Zuschauer auf die Bühne fixiert sind, kann man annehmen, dass sie nur auf einen geschlossenen Bühnenvorhang blicken; es ist einerseits Operntradition während der Ouvertüre eines Stückes den Vorhang geschlossen zu halten (es sei denn der Bühnenregisseur hat sich dazu entschlossen, auch die Eröffnungsmusik zu inszenieren), andererseits zeigt uns Bergman das Öffnen des Vorhangs nach der Ouvertüre. Der Vorhang öffnet den Blick zu einem Bühnenbild, das so aus Uraufführung der Zauberflöte aus dem Jahr 1791 stammen könnte. Immer wieder führt uns Bergman während des Films in diese altbackenen Bühnenbilder mit durchschaubarer Mechanik zurück, doch dazwischen beugt und biegt er Raum und Zeit, wie es ihm taugt. Dieses Schaffen von unmöglichen Räumen, zeitlichen und räumlichen Diskontinuitäten, ist etwas zutiefst Filmische und im Theater völlig unmöglich. Bergman überrascht uns ständig mit plötzlich auftauchenden Personen und Aneinanderreihungen von Bühnenräumen, die mal mehr und mal weniger illusionistisch aufgebaut sind; eine Winterszene, die in ihrem Aufbau sich kaum von einer realen Außenaufnahme zu unterscheiden ist, wird von einer Winterszene abgelöst, deren Künstlichkeit ab der ersten Sekunde evident ist.

Es ist erstaunlich, dass der Film trotz aller verspielter Doppelbödigkeit der Handlung der Zauberflöte und der von ihr kommunizierten Emotionen und Konflikte so treu bleibt. Gerade die zwischenmenschlichen Beziehungen scheinen Bergman besonders wichtig zu sein, in Anlehnung an verschiedene seiner eigenen Filme zitiert er immer wieder Einstellungen, die ohne Worte das volle Geflecht aus Konflikten zwischen zwei Personen auf einen Blick sichtbar machen. Und hier greifen das Medium Film und Musik perfekt ineinander: der ohnehin vielschichtigen Komposition von Mozart werden durch die starke Bildsprache noch weitere Ebenen hinzugefügt, ohne jemals ein Übermaß an Bedeutung zu erzeugen.

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Ein Übermaß an Bedeutung ist es auch nicht, was Bergman erzeugen möchte. Vielmehr als eine Interpretation des Werkes, scheint Trollflöjten eine Erinnerung an eine Oper zu sein, geprägt von emotionalem Gedenken und dem Einfühlen in die Schickale der Protagonisten, aber auch den Momenten der Abschweifung, in der die Illusion der Bühne in sich zusammenfällt. Es ist ein Nachvollziehen des Betrachtens einer Oper, das Bergman uns präsentiert. Der Blick des Zuschauers wird nachvollzogen; der Blick, der am Gesicht – am Hort der Emotion – der Protagonisten haftet, ein Blick, in dessen Einbildung ein Bühnenbild zu einem realen Ort wird, ein Blick, der auch die Faszination für die Mechanik der Bühne kennt, aber auch ein Blick, dessen Aufmerksamkeit sich zerstreut, der sich Vorstellt, was hinter der Bühne passieren könnte, der in sich kehrt und über das eigene Zuschauersein reflektiert. Vielleicht der Blick eines Mädchens mit roten Haaren, das inmitten des Zuschauerraumes sitzt.

From Chaos comes Order: Über In the Mood for Love und Musik

Das lateinische Wort componere bedeutet zusammenfügen, aus ihm entsteht das deutsche Wort Komposition, das allgemein für den formalen Aufbau eines (Kunst)werks steht; in der Musik steht das Wort Komposition einerseits für die schöpferischer Tätigkeit des Urhebers eines Musikstücks, andererseits aber auch für das Werk selbst. Der Begriff der Komposition hat in der Musik – zumindest im Sprachgebrauch – einen höheren Stellenwert als in allen anderen Künsten. Eine einzelne Note von einem Instrument gespielt oder einer menschlichen Stimme gesungen hat keine Bedeutung, sie ist als solche für einen Menschen ohne die Fähigkeit des absoluten Gehörs nicht einmal benennbar. Erst im Zusammenschluss mit einer anderen Note entsteht ein Intervall, welches bereits einen emotionalen oder symbolischen Wert besitzt. Durch Zusammenschlüsse von vielen solcher Noten entstehen musikalische Motive, Themen, komplexe harmonische Strukturen, die wir als Komposition begreifen. Sie können etwas bedeuten, doch den Kern dieser Strukturen bilden immer noch die einzelnen Noten, die im Grunde für sich ein unbedeutendes bzw. nicht-bedeutendes Naturphänomen sind.

Wenn man Christopher Doyle über die Auswahl seiner Locations für In the Mood for Love reden hört, spricht er von ihnen, als wären es musikalische Noten. Die Location ist konstitutiv für den Film, sie bestimmt die Kameraeinstellungen, alle Bewegungen im Bild und schlussendlich auch die Handlung, die in ihr stattfinden kann. Die Location ist allerdings – anders als die Note – schon von vornherein von ihrer Geschichte gezeichnet, von den Menschen, die dort lebten und leben, von allen Ereignissen, die dort stattgefunden haben. Nichtsdestotrotz funktioniert sie in der Gesamtkomposition des Filmes wie eine Note, oder ein einfaches musikalisches Thema.

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Als Zuschauer beginnt man sich schnell mit den verschiedenen Locations in Wong Kar-Wais In the Mood for Love anzufreunden und sie mit bestimmten emotionalen Gehalt zu füllen: Die Suppenküche, in der sich Mrs. Chan und Mr. Chow immer wieder zufällig begegnen, aber sich niemals ansprechen; der Türrahmen zu Mr. Chow Wohnung, in dem Mrs. Chan ein falsch zugestelltes Paket übergibt; der Flur zum Hotelzimmer mit der Nummer 2046 mit seinen roten Vorhängen, welche die Sicht nach draußen versperren. So wie in einem Musikstück musikalische Themen immer wieder auftauchen und uns als Zuhörer in wohlige, vertraute Gefilde zurückführen, finden sich auch die Protagonisten von In the Mood for Love immer wieder an denselben Orten wieder. Wie erschütternd ist es dann für uns, wenn unser wohlbekanntes Motiv plötzlich in einer Mollvariante auftaucht, wenn die Vorhänger im Flur zum Zimmer 2046 plötzlich vom Wind geschüttelt werden, wenn auf der Straße vor der Suppenküche ein heftiger Regen einsetzt. Mit diesen Mechanismen von Wiederholung und Variation spielen Doyle und Wong Kar-Wai nur zu gerne und dies führt dazu, dass selbst kleinste Veränderungen große Bedeutung erlangen. Und bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sich schlussendlich nie etwas in völliger Übereinstimmung wiederholt; und sei es auch nur die ständig wechselnde Musterung von Mrs. Changs Kleidern.

Ähnlich wie die verschiedenen Schauplätze wird auch die Musik zum Einsatz gebracht: eine Handvoll verschiedener Musikstücke wiederholen sich immer wieder, werden in neuen Kontexten oder Varianten von bereits bekannten Szenen präsentiert. So begleitet beispielsweise Yumeji’s Theme von Shigeru Umebayashi insgesamt acht Szenen des Films. Besonders in jenen Szenen, in denen dieses Thema auftritt, fällt ein speziell Verhältnis zwischen Musik und Bild auf: es scheint, als ob die Musik den Ablauf der gesamten Szene diktieren würde.

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Yumeji’s Theme ist ein tänzerisches Lied im ¾ -Takt, der sehr dominant vom Pizzicato der Streicher akzentuiert wird, über dem sich eine improvisatorisch-solistische Melodie ausbildet. Die Dominanz dieses Taktes wirkt sich auch auf den Inhalt der Bilder aus, die von ihm begleitet werden. Häufig kommt es dabei zum Einsatz eines Zeitlupeneffekts, um die Bewegungen der Menschen im Bild an die Musik anzupassen: Schritte werden beispielsweise immer auf den ersten Schlag des Taktes gemacht. Es ist auffällig, dass in diesen Szenen fast immer zwei gegenläufige Kamerabewegungen aufeinanderfolgen, so wird zum Beispiel von einer Einstellungen, in der sich die Kamera von rechts oben nach links unten bewegt, in eine Einstellung mit genau umgekehrter Bewegungsrichtung geschnitten; in längeren Einstellungen wechselt die Kamera in der Einstellung selbst die Bewegungsrichtung. Die Verbindung zwischen Musik und Bild wird zudem noch verstärkt, indem innerhalb fast jedes Kaders mindestens ein Objekt zu sehen ist, das sich im Takt der Musik bewegt; diese befinden sich oft im Fokus der Bildes (z. B. Mrs. Chans Kanne, welche sie in der Hand hält als sie zur Suppenküche geht), aber manchmal auch im Hintergrund (z. B. eine wippende Deckenlampe). Diese „Musikalität“ der Bilder ist jedoch nicht nur in solchen Szenen spürbar, sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Gesamtheit des Films (ich habe bereits die im Wind wippenden Vorhänge erwähnt), sie ist spürbar in jeder Bewegung im Bild, in jeder Bewegung der Kamera. Dem Film scheint eine fast naturgegebene rhythmische Struktur zugrunde zu liegen, die schwer beschreib- oder erklärbar ist, die sich jedoch für uns Zuschauer in einem gewissermaßen „schlüssigen“ Filmerlebnis erschließt.

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So wie in der Musik manchmal die Struktur eines Werkes den Inhalt bestimmt und manchmal „normierte“ Strukturen aufgrund der Anforderungen der Inhalts gebrochen werden, kann man bei In the Mood for Love keine pauschale Antwort darauf geben, ob die Musik den Inhalt der Szene konstituiert oder umgekehrt. Und wie in der Musik bleibt auch bei In the Mood for Love die Frage „Warum das Werk so ist, wie es ist“ unbeantwortet; ihr kann nur mit einer weiteren Frage entgegnet werden: Wie sollte es denn sonst sein?

Die Location bildet die Grundlage für Wong Kar-Wais Film und konstituiert den gesamten Inhalt; sie selbst bleibt allerdings in ihrer Art für unsere Ratio nicht erschließbar, genauso wie eine Note. So wie die Note von der Natur gegeben ist, ist die Location vom Leben gezeichnet und gegeben. Sie hat in sich keine Ausrichtung oder Ordnung, ist in sich chaotisch und konstituiert dennoch die Struktur des Films. Und so fasst es Christopher Doyle auch treffend zusammen: „From chaos comes order“.

This will all make sense: Über Magnolia und die Beatles

„This will all make sense, in the end.“

Das verspricht der Trailer von Paul Thomas Andersons Magnolia. Ein Ziel, das für einen Film, der in einer Laufzeit von drei Stunden die Geschichten von neun Personen erzählen will, gar nicht so leicht zu erreichen ist. Zudem beschränkt sich Andersons Film nicht damit, sich einem Thema zu verschreiben und alle Handlungsstränge durch ihre thematische Zusammengehörigkeit zu verknüpfen, sondern entwirft eine sich in viele Richtungen entfaltende Erzählung, deren Schwerpunkte sich immer wieder verschieben. Einsamkeit, Vergangenheitsbewältigung, Liebe, Tod und Unterdrückung sind Probleme mit denen sich jeder einzelne der Charakter auseinandersetzen muss. Die einzelnen Handlungsstränge spiegeln und kontrastieren sich dabei immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen. Und am Ende soll alles Sinn machen?

Wie es Anderson gelingt aus Magnolia einen befriedigenden und in sich völlig schlüssigen Film zu machen, kann man nicht vollends erklären; es verhält sich wohl wie mit fast allen guten Filmen: Der Film funktioniert – niemand kann erklären warum – aber er funktioniert. Und es ist schließlich dieses Unerklärlich-Magische, das uns immer wieder zu bestimmten Filmen zurückkehren lässt, die jede neue Sichtung zu einer völlig neuen Erfahrung machen.

Nichtsdestotrotz hat Anderson einen kleinen Hinweis hinterlassen, der seine Inspiration für den Aufbau von Magnolia erläutert und uns zu einer neuen Sicht auf den Film verhilft. In einem Interview mit The Montreal Gazette behauptet er, den sich an der Dramaturgie des Beatles-Songs A Day in the Life orientiert zu haben.

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A Day in the Life ist ein Lied, das sich gewissermaßen als etwas schizophren erweist: Die ersten beiden Strophen, geschrieben von John Lennon, sind von der dritten Strophe, die von Paul McCartney geschrieben wurde und sich inhaltlich und musikalisch stark vom Rest des Liedes unterscheidet, durch eine 24-taktige orchestrale Überleitung getrennt. Eine kurze Überleitung führt in die vierte Strophe, die sich stilistisch wieder zu den ersten Strophen passt. Das Ende des Liedes wird von einer Wiederholung der orchestralen Überleitung und einen unnatürlich lang ausgehaltenen Pianoakkord beschlossen. Die Struktur des Liedes führt zu einer musikalischen Verdichtung in der Überleitung zur dritten Strophe, die durch den Einsatz des großen Orchesters, das ein atonales Crescendo spielt. Nach dieser Verdichtung wirkt die einsetzende dritte Strophe als große Entspannung, dieser Eindruck wird auch durch den Text, der von Jugenderinnerungen McCartneys erzählt und in krassem Gegensatz zu den fast zynisch wirkenden aktualitätsbezogenen Passagen von Lennon steht, noch weiterhin verstärkt. Am Ende der Strophe leitet das Orchester, das zunächst der Harmonie des Liedes folgt, in den finalen Teil über, an dessen Ende es wieder zu einer Verdichtung der Musik kommt, die sich in einen langen E-Dur-Akkord löst.

Wir sprechen hier von Verdichtungen, Auflösungen, Wiederaufnahmen oder Reminiszenzen – Begriffe, die sich mit dramaturgischer Wirkkraft befassen und so auch auf den Film angewandt werden können. Beim Betrachten von Magnolia kann man sich nicht dem Eindruck entziehen, dass der dramaturgische Aufbau des Films, der Verlauf der einzelnen Spannungsbögen weiter von der theoretischen Norm abweicht, als es viele andere Filme tun. Die Struktur der Handlung und die Dramaturgie eines Filmes bedingen sich gegenseitig. Die Handlung von Magnolia ist – wie bereits erwähnt – thematisch nicht linear, daher bietet sich auch ein dramaturgischer Verlauf an, der nicht linear auf einen Höhepunkt zusteuert.

Spannend ist dabei zunächst die Frage, wie Anderson einzelne Szenen zu Paaren oder längeren Sequenzen zusammenführt. In einer Szene in der ersten Stunde des Films sehen wir den Krankenpfleger Phil (Philip Seymour Hoffman) am Bett des sterbenden Earl Partridge (Jason Robards) stehen. Plötzlich erhebt sich im Hintergrund der dunkle musikalische Nebel von Richard Strauss‘ Also sprach Zarathustra. Sowohl Phil als auch die im Zimmer anwesenden Hunde scheinen auf die Musik zu reagieren, die vierte Wand wird für einen Moment durchbrochen, der Zuschauer tritt in kritische Distanz zum Film und plötzlich werden bildinhaltliche Verbindungen zu Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey offensichtlich. Diesen Moment nutzt Anderson um zu einer neuen Szene zu schneiden und in diesem Moment wird klar, dass die Musik von Strauss von Anfang an zur zweiten Szene gehört hat und dort einen Auftritt des Motivationstrainers Frank Mackey (Tom Cruise) einleitet. Anderson verbindet durch diese musikalische Klammer zwei Szenen fließend miteinander; dieser Verfahren ist nicht neu, aber die Expressivität der Musik und die ausgedehnte Länge dieses Übergangs führen zu eben jener kritischen Distanz, die den Blick auf die Konstruktion des Films offenlegt.

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Nach etwa einer Stunde kommt es zum ersten Mal zu einer starken dramaturgischen Verdichtung. Die Musik von Jon Brion tritt in den Vordergrund. Lang ausgehaltene, sich nach oben bewegende Akkorde erzeugen zusammen mit dem Mangel an melodischer Entwicklung an Spannung und steigern das Bedürfnis nach Auflösung beim Zuschauer. Der Rhythmus, in der von einem Handlungsstrang zum nächsten geschnitten wird, steigert sich in dieser Sequenz enorm, wobei dadurch verhindert wird, dass sich einzelne Handlungsstränge weiterentwickeln; der Film kommt zum Stillstand. An dieser Stelle zeigt sich, was Anderson mit seiner Aussage zu A Day in the Life gemeint haben könnte: diese Sequenz bildet ein Äquivalent zu der orchestralen Überleitung im Beatles-Song. Selbst die zeitliche Ausdehnung bewegt sich in Relation zur Gesamtlänge des Films in ähnlichen Verhältnissen wie die Orchesterpassage im Lied. Besonders auffällig ist jedoch die Positionierung dieser Sequenz im Film, erwartet doch der Zuschauer nach einer Sequenz das Ende des Films oder zumindest einen deutlichen Wendepunkt in der Handlung, der aber an dieser Stelle in Magnolia nicht eindeutig ausmachbar ist. Es ist ein Effekt der Täuschung, der auch in A Day in the Life umgekehrt auftritt: erwartet man im Film nach der Verdichtung einen Wendepunkt, wird im Lied nach der Überleitung eine weitere, ähnlich gestaltete Strophe erwartet. Anderson verkehrt also das dramaturgische Prinzip ins Gegenteil, um aber schlussendlich den selben dramatischen Effekt zu erzeugen.

Anderson schafft es also über die Musik die einzelnen Szenen des Films zu Paaren oder Sequenzen zu verbinden, um so die dramaturgische Struktur des Films zu erzeugen. Wir finden ausgedehnte dramatisch verdichtete Sequenzen an drei Stellen im Film, die seinen Aufbau dadurch in der Tat so bestimmen, dass er dem von A Day in the Life sehr ähnlich ist. Die zweite Sequenz tritt nach etwa zwei Stunden auf an dessen Ende Anderson ein Stilmittel aus dem Musiktheater übernimmt, indem alle Protagonisten des Films in einer Montagesequenz den Song Wise Up von Aimee Mann, der den Bildern unterlegt ist, mitsingen. Hier führt Anderson zwei zuvor bereits erwähnte Aspekte seiner filmischen Sprache zusammen: das dramatische Verdichten und das Durchbrechen der vierten Wand.

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Eine letzte Verdichtung gibt es kurz vor Ende des Films. Auf den verlassenen Straßen von Los Angeles bewegen sich die Protagonisten aufeinander zu und aneinander vorbei. Die einzelnen Handlungsstränge scheinen kurz vor ihrer Auflösung (zum Schlechten) zu sein, doch die Stimmung des Films kippt noch einmal und durch einen unerwarteten Wetterumschwung (ein plötzlich einsetzender Froschregen) setzen sich Ereignisse in Gang, die zu einem mehr oder weniger glücklichen Ausgang der Ereignisse für alle Protagonisten führen. In einer langsamen Montage werden noch einmal alle handelnde Personen vorgeführt und mit dem Song Save Me von Aimee Mann endet der Film. Insbesondere diese letzte dramatische Verdichtung weist viele Parallelen zur Gestaltung des Endes von A Day in the Life auf. Im Beatles-Song wird durch die Wiederholung des Orchesterübergangs noch einmal eine düster-dramatische Stimmung erzeugt. Das atonale Crescendo endet jedoch abrupt in einem völlig bewegungslosen, lang ausgedehnten Schlussakkord, der in sich keine neuen dramaturgischen Akzente setzt, aber gegenüber dem gesamten Lied eine wundervolle Schlusswirkung erzeugt.

Genau diese wundervolle Schlusswirkung wird auch von Magnolias Ende erzeugt: Die Wendung des Films zu seinem Ende hin schafft es den Zuschauer zu befriedigen und den Film als ein Ganzes abzuschließen, ohne all die Eindrücke, die zuvor vermittelt wurden, in ihrer Intensität zu schmälern oder den Handlungssträngen eine Eindeutigkeit zu geben. Magnolia „ergibt Sinn“. Nicht, weil der Film dem Zuschauer am Ende eine eindeutige Botschaft oder eine logisch-kausal schlüssige Auflösung der Handlungsstränge bietet, sondern weil er eine in sich geschlossene, stimmige Einheit bildet. Die Ambivalenz der einzelnen Handlungsstränge, die durch das Ende eher noch verstärkt wird, macht den Reiz von Magnolia aus. Die Unabhängigkeit der Handlungsstränge beizubehalten und gleichzeitig den Film als in sich geschlossene Einheit erfahrbar zu machen ist Andersons feinem Gespür für Dramaturgie zu verdanken. Mithilfe der dramaturgischen Vorlage A Day in the Life gelingt es ihm so ein absolut befriedigendes und dennoch nachdenklich stimmendes Werk zu schaffen, das am Ende jenes Versprechen einhält, welches im Trailer getätigt wurde: It makes sense, in the end.