The Thin Red Line als Oratorium

Ich mag keine Kriegsfilme. Ich weiß gar nicht genau, warum. Vielleicht ist es der historische oder geographische Abstand, der für mich als Zuschauer unüberbrückbar ist; vielleicht sind es die immer wieder gleichen Heldengeschichten oder Erzählung von Schrecken und Gewalt, die mich einfach nicht berühren wollen.

Nichtsdestotrotz wage ich mich immer wieder gerne an das Genre, denn es gibt so manche bekannte oder weniger bekannte Schätze zu entdecken. The Thin Red Line von Terrence Malick gehört für die meisten – und ich möchte mich da nicht ausschließen – zu diesen Schätzen. Der Film wurde bereits unzählige Male besprochen, analysiert und interpretiert, deshalb möchte ich mich an dieser Stelle nicht mit allgemeinen Aspekten des befassen, vielmehr möchte ich die Dramaturgie des Filmes in der Vordergrund meiner Besprechung stellen.

Zu meinem persönlichen Hintergrund möchte ich anmerken, dass ich mich neben Film vor allem mit („Kunst“)musik beschäftige und mir im Falle von The Thin Red Line auch ein „musikalischer“ Zugang als sinnvoll erscheint, um den Film in einem neuen Licht zu betrachten. Malicks Film weist in seiner Struktur und Dramaturgie einige Parallelen zu einer besonderen musikalischen Gattung auf: dem Oratorium, speziell in seiner barocken Form.

The Thin Red Line von Malick

Das Oratorium ist eine musikdramatische Form, die im 17. Jahrhundert entstanden ist. Seinen ursprünglichen Platz hat es im christlichen Gottesdienst. Vom groben Aufbau her orientiert es sich an der Form der Oper, gestaltet sich inhaltlich und musikalisch aber weniger pathetisch. Bis ins 19. Jahrhundert besteht ein Oratorium aus mehreren Sätzen, die klar voneinander getrennt sind: Die Handlung wird in den sogenannten Rezitativen erzählt, die von Arien, Chören und Chorälen unterbrochen werden.

In dieser groben Struktur von sich abwechselnden dramatisch-narrativen und lyrisch-kontemplativen Sätzen liegt die erste große Parallele zwischen The Thin Red Line und dem Oratorium. Malick unterbricht seine Erzählung immer wieder für Momente des Innehaltens, manchmal sogar des Gebets. Immer wieder schweift die Kamera vom eigentlichen Geschehen ab, widmet sich den überrankten Bäumen des Dschungels und den Sonnenstrahlen die grünlich durch das Blätterdach des Urwalds scheinen, während die Protagonisten des Films in langen Monologen über den Krieg und den Ursprung von Gewalt sinnieren. Diese Monologe werden als Voice Over abgesetzt von der Handlung präsentiert und spinnen, ausgehend vom Geschehen, zentrale Themen des Films weiter. Bestimmte Momente der Handlung werden auf diese Weise hervorgehoben und für den Zuschauer in ihrer Wirkung greifbarer. Zudem gelingt es Malick so eine zweite Erzählebene zu schaffen, die in ständiger Wechselwirkung mit der eigentlichen Handlung des Films treten und deren Ereignisse kommentieren und kontrastieren.

The Thin Red Line von Terrence Malick

Eine weitere Parallele zwischen Oratorium und Film lässt sich finden, wenn man die Funktion und Wirkung der nicht-narrativen Sätze im Oratorium untersucht. Im Oratorium werden die Arien normalerweise nicht von den handelnden Personen gesungen und geben deren Emotionen auch nicht direkt wieder. Vielmehr kommentiert die Arie die Handlung aus einer bestimmten (historischen) Entfernung heraus. So wird eine Brücke zwischen Handlung (die im Normalfall aus der Bibel entnommen ist) und den Zuhörern geschlagen.

Dieser kommentierende Abstand ist auch in den kontemplativen Momenten von The Thin Red Line deutlich zu spüren. Auch wenn die einzelnen Monologe eindeutig bestimmten Personen der Handlung zugeordnet werden können, so ist dies nicht von Belang. Die Kommentare stehen in solch großem Abstand zum Kriegsgeschehen, dass sie auch direkt aus dem Munde eines Zuschauers stammen könnten. Und so nehmen diese Kommentare in Malicks Film dieselbe Stellung ein, welche eine Arie in einem Oratorium innehat: das Verbindungsstück zwischen Handlung und dem Zuschauer, zwischen diegetischer und realer Welt.

Vergleicht man The Thin Red Line mit einer speziellen Ausprägung des Oratoriums, der oratorischen Passion, lässt sich eine Parallele auf inhaltlicher Ebene finden: die oratorische Passion ist eine sehr verbreitete Form des Oratoriums, in ihr wird die Leidensgeschichte Jesu Christi nacherzählt. In der oratorischen Passion stehen die Arien neben der formalen Abtrennung und dem kommentierenden Abstand auch in inhaltlichem Kontrast zur Passionserzählung. Schlüsselszenen der Passion sind zu großen Teilen Momente der physischen und psychischen Gewalt, denen in den Arien des Oratoriums Bilder von Menschlichkeit und Mitleid gegenübergestellt werden.

The Thin Red Line von Terrence Malick

Auch in Malicks Film wird die Handlung inhaltlich von den Monologen kontrastiert. Den Bildern des Krieges folgt das Bild der friedlichen Natur und es wird zurecht die Frage nach dem Ursprung der Gewalt gestellt. Den Generälen, die scheinbar emotionslos Entscheidungen fällen, wird ein Gefühl der Verantwortung und Schuld gegenübergestellt. Jede Szene wird so gewissermaßen von zwei Seiten gezeigt: als unmittelbar momentaner Eindruck und als kritischer Kommentar. So erschließt sich die Handlung dem Zuschauer in ihrer Gänze.

Malick schafft es den historischen Abstand zum Geschehen zu überbrücken und zugleich dem Krieg ein Bild von Menschlichkeit gegenüberzustellen. The Thin Red Line ist keine Geschichte von den Schrecken und den Helden des Krieges, sondern ein Kommentar darüber, was wir, heute, als Zuschauer, aus den Ereignissen mitnehmen können.

Das rote Zimmer von Rudolf Thome

Meistens habe ich nachdem ich einen Film gesehen habe eine sehr klare Vorstellung davon, was ich aus dem Film mitnehme. Ein klares Gefühl, das man in sich einschließt und lange mit sich herumträgt. In so einem Fall ist es erstaunlich einfach, über einen Film zu schreiben. Als ich Das rote Zimmer von Rudolf Thome zum ersten Mal vor einigen Jahren gesehen hatte, beschlich mich ein eben solch klares Gefühl. Hätte ich damals einen Text zum Film verfasst, würde er sicherlich völlig anders ausfallen.

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Nun ist aber alles natürlich ganz anders gekommen: Den Film ein zweites Mal zu sehen, frischte das Gefühl nicht wieder auf, es ersetze es durch ein anderes Gefühl, ein sehr vages, unbestimmtes Gefühl der Verwirrung. Hilfesuchend wandte ich mich an das Internet um Hintergrundinformationen und andere Meinungen über den Film einzuholen, gewissermaßen als Ansporn oder Inspiration für meinen Text. Dabei stieß ich auf ein Interview mit Regisseur und Drehbuchautor Thome, das mir aus meiner Misere half. Auch wenn Thome in dem Interview (glücklicherweise) keine eindeutige Interpretation des Filmes vorlegt, so lässt er doch einzelne Grundgedanken erkennen, die das Fundament des Films bilden. Dabei erweist sich Thomes Sicht auf seinen Film meinem Gefühl, meiner eigenen Sicht, als diametral entgegengesetzt. Dadurch wurde mir klar, dass ebendiese Bandbreite an Sichtweisen, die in mir solche Verwirrung verursacht hatte, die Qualität eines Filmes ausmacht. Also entschloss ich mich dazu, diese Verwirrung zuzulassen und das vage Gefühl zu ergründen, welches Das rote Zimmer in mir auslöst. Wie entsteht diese eigenartige Wirkung des Films? Um dieser Frage nachzugehen möchte ich im Folgenden möglichst klar und verständlich meine subjektive Seherfahrung wiedergeben:

Das rote Zimmer beginnt mit einem scheinbar plumpen Einstieg. In Parallelmontage werden die drei Protagonisten des Films exponiert: Wir sehen, wie der Philematologe (zu Deutsch: Kussforscher) Fred Hintermeier zusammen mit einer Prostituierten bei sich zu Hause seinen Geburtstag feiert. Dem gegenübergestellt wird eine Szene in der die Schriftstellerin Luzie und ihre junge Freundin Sibil in trauter Zweisamkeit kiffend in einem Bett liegen. Anschließend erhalten wir einen Einblick in Freds Arbeitsalltag, der sich aufgrund seines außergewöhnlichen Berufs als völlig grotesk erweist. Der Alltag von Sibil und Luzie erweist sich als eine utopische Mischung aus üppigem Frühstücken, Waldwandern und Angeln. Fred ist mit seiner Scheidung beschäftigt, die sich für ihn als besonders schwierig erweist, weil er seine Frau noch liebt, während Luzie und Sibil glücklich zusammen sind.

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Die Unterschiede zwischen den beiden Lebenswelten sind krass, die Charaktere scheinen einfach und klar, fast zu klar, gezeichnet. Doch Thome versteht es mit jeder neuen Szene seine Protagonisten in ein völlig neues Licht zu setzen und den Zuschauer immer wieder hinters Licht zu führen.

Für mich sind die Sympathien zu Beginn des Filmes klar verteilt: der verklemmte Fred, der tagsüber den gefühlskalten Forscher spielt und abends seine (Ex)Frau mit Liebesanrufen belästigt und gerne Prostituierte zu sich nach Hause einlädt, kann meine Sympathie nicht für sich gewinnen; dagegen erscheint mir das Leben von Sibil und Luzie als sehr erstrebenswert. Doch die Grenzen beginnen zu verschwimmen, als die beiden Handlungsstränge aufeinandertreffen: Luzie und Sibil fahren in die Stadt, um in Buchhandlungen und Bibliotheken Männer aufzureißen; Luzie schreibt nämlich ein Buch über die Seele des Mannes und ist ständig auf der Suche nach Versuchssubjekten. Im Zuge dessen trifft Luzie auf Fred und sofort wird klar, dass die beiden mehr gemeinsam haben, als man zu Beginn des Filmes vermutet hätte. Beide befassen sich auf ihre Weise mit der Liebe; Fred über den medizinisch-physiologischen, Luzie über den literarisch-philosophischen Weg. Prompt lädt sie ihn zu sich und Sibil auf ihr Landhaus ein.

Als Fred sich dazu entschließt die beiden Frauen zu besuchen, beginnt ein perfides Spiel um Macht und Liebe über das alle Beteiligten bald die Kontrolle verlieren. Zunächst zeichnet sich eine kleine Liebelei zwischen Luzie und Fred ab, woraufhin sich die beiden ihre Liebe gestehen. Die eifersüchtige Sibil beobachtet diese Entwicklung mit Unmut. Schließlich möchte Luzie auch dafür sorgen, dass sich Fred und Sibil näherkommen, scheinbar nicht ahnend, dass ihr Versuch, die beiden zusammenzubringen dazu führt, dass die junge Sibil mit Fred schläft.

Ich schreibe bewusst „scheinbar“, da Thome uns stets im Unklaren darüber lässt, was zu Luzies Plan gehört und wohin dieser schlussendlich führen soll. So führt uns das Drehbuch von einer Finte zur nächsten und es entsteht eine große Verwirrung zwischen den drei Protagonisten des Films, die bald ihr eigenes Spiel nicht mehr unter Kontrolle haben. Diese Verwirrung überträgt sich auch auf den Zuschauer, der bald nicht mehr weiß, wer in welcher Situation die Überhand hat, wer nun Spieler und wer Opfer des Spiels ist. So entsteht in den einzelnen Szenen des Films eine situative Spannung, welche von den Darstellern durch Blicke und kleine Gesten perfekt transportiert wird.

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Diese Spannung gipfelt in der Szene, als die beiden Frauen Fred in das namensgebende rote Zimmer ihres Hauses führen und Fred sich plötzlich in einer ihm völlig ungewohnten Rolle wiederfindet. Er, dessen Beruf darin besteht, andere Menschen beim Küssen zu beobachten, wird selbst zum Beobachteten, als Luzie verlangt, ihn und Sibil beim Küssen beobachten zu dürfen. Der Zuschauer weiß an dieser Stelle bereits, dass sich zwischen Sibil und Fred mehr abgespielt hat, als diese vor Luzie zugeben dürfen; so entsteht ein Moment voller Suspense, der exemplarisch für den Rest des Filmes steht, in dem die Handlung durch Irrungen und Wirrungen immer wieder in solchen spannenden Momenten gipfelt.

Dieser Verwirrungen überdrüssig versucht Luzie am Ende des Films die Dreiecksbeziehung in einem Vertrag zu regeln. Sie schafft es dadurch nicht nur, Fred und Sibil an sich zu binden, sondern bringt Fred durch eine Klausel auch dazu, Sibil und ihr lebenslangen Unterhalt zuzusichern. Ob dieser Vertrag nun von Anfang an zu Luzies Plan gehörte oder nur eine Notlösung darstellt, bleibt unklar; doch durch ihn wird der Kreis der Erzählung geschlossen. Das unkontrollierbare Liebesspiel ist zu Ende und alle Spieler stehen als Verlierer da; alle völlig abhängig voneinander: Sibil und Luzie in finanzieller Hinsicht und Fred durch den Vertrag gebunden. Ob man den Vertrag nun als Prostitutionsvertrag oder Ehevertrag versteht, bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen. Tatsache ist, dass Thome mit Das rote Zimmer einen Film kreiert hat, der es schafft, den Zuschauer durch unberechenbare (und dadurch erstaunlich realitätsnahe) Charaktere, immer neue Wendungen und seine Uneindeutigkeit immer wieder zu überraschen und vielleicht, wie mich, mit einem unbestimmten Gefühl der Verwirrung zurückzulassen.

Mächtige Ohnmacht in Saló o le 120 giornate di Sodoma von Pier Paolo Pasolini

In einer Gesellschaft gibt es nur ein begrenztes Kontingent an Freiheit; je mehr sich eine Person daran bedient, desto weniger steht allen anderen zur Verfügung. Wird wenigen Menschen absolute Freiheit gewährt, bedeutet das absolute Unterdrückung für den Rest.

In seinem Film „Saló o le 120 giornate di Sodoma“, basierend auf dem Roman „Les 120 Journées de Sodome ou L’Ecole du Libertinage“ von Marquis de Sade, zeigt Pier Paolo Pasolini das Leben im grenzenlosen Exzess, welches die Mächtigen genießen und kritisiert Systeme, die eine ungerechte Verteilung von Freiheit fördern. 1975 avancierte der Film durch seine Darstellung von Pädophilie und Gewalt zu einem Skandal und hat auch heute nichts von seiner Wirkung verloren.

In einer Welt, sei es eine absolutistische, wie in Marquis de Sades Roman, oder einer faschistischen, wie die, wie Pasolini sie zeigt; einer Welt, in der es für vier Männer möglich ist absolute Macht über 16 Jugendliche zu haben, werden die Unterdrückten zu kommerzieller Ware, zum Spielzeug für jene, die über ihnen stehen. Wenn Pasolini die Misshandelten in Szene setzt, werden sie nicht als menschliche Wesen präsentiert. Die Kamera fängt ihre nackten Körper wie Statuen ein, die präzise im Raum platziert sind; dekorative Puppen, die all die großen leeren Hallen des Lustschlosses füllen. Körper, die stets in der Symmetrie des Bildes gefangen sind, zwischen rechteckigen Türrahmen und Fenstern, schwarz-weiß karierten Bodenfließen und Jugendstilmöbeln, unfähig sich zu bewegen, in ständiger Spannung durch eine kleine Bewegung die Komposition des Bildes zerstören zu können. Pasolini schafft es so ein filmisches Äquivalent zu de Sades protokollarischem Erzählstil zu finden. Wie in der literarischen Vorlage entsteht so eine Diskrepanz zwischen dem emotionalen Inhalt der einzelnen Szenen und deren formal strenger Ausführung. Diesem Formalismus sind alle Protagonisten des Filmes unterworfen.

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Besonders deutlich sticht diese undurchdringliche Strenge des Bildes immer dann hervor, wenn sich die gesamte Gemeinschaft von Unterdrückern und Unterdrückten im roten Salon des Schlosses versammeln, um erotischen Geschichten zu lauschen. Alleine die Darstellung des Raumes wirkt in seiner schweren Symmetrie schon erdrückend: Eine Treppe, die von hinten in den Raum führt, ein tiefhängender Kronleuchter und eine lange Tafel aus dunklem, massivem Holz bilden eine unüberwindbare Symmetrieachse, die sich vertikal durch das ganze Bild zieht; die gesamte Architektur und Inneneinrichtung des Raumes richten sich danach aus. Doch es ist nicht nur die Architektur des Raumes, die sich einer strengen Komposition unterwirft; die Symmetrie wird in den Menschen, die den Raum betreten gleichsam fortgeführt. Völlig den Gesetzen der Komposition unterworfen ordnen sich die Bewohner des Hauses täglich in vier gleich großen Gruppen rechts und links der vertikalen Symmetrieachse an. Haben sie erst ihre Position eingenommen, bewegen sie sich nicht mehr. In dieser statischen Anordnung fügen sich alle Personen so perfekt in das Gesamtkonzept des Raumes ein, dass sie gewissermaßen mit ihm verschmelzen, Teil seines Mobiliars werden. Diese absolute Unterwürfigkeit gegenüber der Symmetrie des Raumes zeigt sich nicht nur in den Misshandelten, sondern auch in deren Peinigern, die ebenso wie ihre Lustmädchen und –knaben selbst zum Teil der Raumkonzeption werden: ihre durch die erotischen Erzählungen angekurbelte Erregung unterdrückend harren auch sie starr auf ihren Plätzen, solange bis es ihnen erlaubt ist, sich zu erheben.

So nehmen sie gleichsam ihre Unterdrückung wehrlos an, zum Schutze des großen Ganzen: der Komposition des Bildes, die über allem steht, die wertvoller und wichtiger ist als die Summe ihrer Teilelemente; ihr gegenüber fügen sich sogar die Mächtigen, die sich in ihren schwarzen Anzügen als Kontrapunkt zur weißen Haut ihrer Lustmädchen und –knaben in das Gefüge aus menschlichen Statuetten einordnen. Und so zeigt Pasolini, dass es noch eine Macht über den vier Männern gibt: das System, das sie zu dem gemacht hat, was sie sind; ein System, das im Jahr 1944 schon seinem Ende entgegensah.

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Ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt trotz aller Schrecken also bestehen: die Mächtigen sind ohnmächtig gegenüber dem eigenen Ende. Diesem Ende ein letztes Mal zu entfliehen ist ihr einziges Ziel; noch eine Sekunde Macht, noch ein 120 Tage Exzess. So bleibt ihnen nur die Möglichkeit der Flucht, die Flucht in ein abgeschottetes Lustschloss. Die Welt außerhalb des Schlosses hat für die Protagonisten aufgehört zu existieren; so wird sie auch von Pasolini systematisch ausgeschlossen: Nach dem Prolog verlässt der Blick der Kamera das Schloss und dessen Gärten nie mehr wieder. Ist dieses Abschließen gegenüber der Außenwelt auch konsequent und möglicherweise sogar endgültig, so hört sie doch nicht auf zu existieren. Als dunkles Grollen macht sich die Welt außerhalb der Schlosshallen immer wieder bemerkbar. Ein düsteres Raunen hallt immer wieder durch die Hallen des Schlosses; sind es Gewitter oder ist es der Krieg, der vor den Türen wütet? Es ist die Außenwelt, die durch die Ritzen der Türen und Fenster immer wieder versucht in die paradiesische Isolation der Mächtigen einzudringen; es ist der Vorbote des Untergangs, der den vier Mächtigen blüht.

Doch mit dem Ende der alten Hierarchien ist es für Pasolini nicht getan. Als ständiger Rebell im Kampf gegen die medialen Götzenbilder der Nachkriegsgesellschaft versucht er mit „Saló“ seine Kritik an einer Gesellschaft, die in seinen Augen vor einem neuerlichen Umbruch in ein absolutistisches System steht, zu üben. Eine brisante Botschaft, die auch heute noch relevant ist.