Nachdenken über Fluchtweg nach Marseille

Ingemo Engströms und Gerhard Theurings Film ist vielleicht einer dieser Filme, der immer nur einem kleinen vertrauten Kreis Menschen wirklich ein Begriff ist. Sie teilen die Erfahrung, diesen einen Film gemeinsam in der Vergangenheit gesehen zu haben, der sich so sehr mit ihrer damaligen eigenen Gegenwart verknüpft hat, dass er nun nur noch eine Erinnerung darstellt. Irgendwann verblasst diese jedoch, weil sie von neuen prägenden Ereignissen überlagert wird – wie auch dieser Film. So verstauben die Erinnerungen, rücken aus dem Horizont der eigenen Wahrnehmung und werden schließlich zu romantischen Erzählungen, womit ihnen ihr gegenwärtig-aufblitzender Kern verloren geht. Mich beschäftigt nun seit einiger Zeit der Gedanke, was es bedeutet, einen Film wieder zu entdecken und zu restaurieren – sowohl für mich als auch für andere. Es drängt sich bei mir der Eindruck auf, die Suche speise sich aus Märchen der vergangenen Zeit und die Entdeckung sei dann nur doch  Bestätigung, ein Teil dieser fortgeschriebenen Erzählung gewesen zu sein. Die Frage, warum wir danach suchen, wird dabei unbewusst unterdrückt, denn Vergegenwärtigung ist in erster Linie mühsam. Der Film Fluchtweg nach Marseille nimmt sich diesem Gedanken an und macht ihn zu seinem eigenen.

Mit einer brüchigen Stimme referieren Engström und Theuring bei der Präsentation der restaurierten, digitalen Fassung bei der diesjährigen 35. Ausgabe von Il Cinema Ritrovato. Sie lesen vom Blatt in einem Duktus, der in seiner Stringenz und Klarheit, wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Während der Restaurator Martin Koerber die Einmaligkeit aufgrund der raren Zeitzeuginnen dieses Dokuments hervorhebt, schmunzeln Engström und Theuring still und verlegen, als würden sie für einen Moment einen Gedanken teilen. Sie sind selbst Zeugin und Zeuge einer vergangenen Zeit, doch anstatt dies herauszustellen, sprechen sie lieber von Anna Seghers und Walter Benjamin. Noch einmal zitiert Theuring die Sätze aus Benjamins letzter Arbeit „Über den Begriff der Geschichte“, die er unvollendet hinterließ, als er sich auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Gestapo im spanischen Portbou an der französischen Grenze das Leben nahm. Dann verdunkelt sich der Raum, der eher Konferenzsaal als einem Kino ähnelt und der Film nimmt seine Bewegung auf.

Diese Bewegung nimmt allerdings ihr baldiges Ende, als die englischen Untertitel stoppen. Murmelnde Aufregung verteilt sich zwischen den Reihen. Der Film muss angehalten werden, der Projektor neugestartet. Eine Pause, sengende Hitze und einen Kaffee später, beginnt der Film von Neuem. Das unausgesprochene Einverständnis mit dem Kino, das in diesen Tagen in Bologna wie ein Ritual zelebriert wird, ist verloren gegangen – ist gebrochen, ebenso wie die raunende Ahnung, die diesen Film umgibt. Das Publikum verhält sich jetzt anders, es ist vielleicht pikiert, aber auch desillusioniert, was die Erfahrung von Geschichte im Kino als eine Geschlossene betrifft, gerade an dem Punkt, an dem die Vorrede des Films endet.

Schnell gerät die Unterbrechung unter dem dicken Mantel der Erzählung allerdings wieder in Vergessenheit. Der Erzählung, die eher dem Anhäufen von Gedanken entspricht und von der suchenden Bewegung durchkreuzt wird. Wiederholende Fragen in leichten Variationen treiben die Bewegung an. Wo sind wir? Der Film versucht sich so, Orientierung im Dickicht unbeschreiblicher Erfahrungen zu verschaffen. Darin sucht er nicht nach einem Bild, sondern vor allem nach Sprache. Die Bilder, die der Film zeigt, besitzen dahingehend keinen Ausdruck. Eher ließe sich sagen, sie materialisieren die Suche: Meist in Fahrten direkt aus dem Auto aufgenommen oder in Panoramaschwenks, tastet die Kamera eine Landschaft nach hinterlassenen Spuren ab. So sehen wir Flüsse, die von Brücken überquert werden, Ruinen zerstörter Städte, deren Bewohner ermordet wurden und immer wieder Straßen, die sich durch die Umgebung schlängeln. Der Film nähert sich so allmählich der titelgebenden Chiffre des Romans von Anna Seghers Transit an, jedoch ohne dies für sich zu beanspruchen. Wie Engström und Theuring zu Beginn klarstellen, handelt es sich nicht um eine Adaption, sondern um ein Leitmotiv. Das könnte so viel heißen, dass sie allenfalls Seghers Schriften verwenden, um sich an etwas anzunähern, das dem zwar abstrakt erfahrbar vorhanden ist, aber sich ebenso von seiner Konkretisierung distanziert. Auf einmal erscheinen die Namen des Regiepaars und der erste Teil des Films nimmt sein Ende.

Überwältigt und desorientiert von den Fragen sitzt man nun im Dunkeln, als unvermittelt der zweite Teil beginnt. Die Bilder des Jahres 1977 haben keine Geschichte, heißt es. Wir sind nun angekommen in Marseille, aber der Film setzt erneut eine Suche an. Eine Suche in der Stadt des Exils, die keinen Abschluss liefern wird, weil sie es nicht kann. Es läuft geradezu dem Exil zuwider, das nur am Anfang sein Ende nehmen kann. Für einen Moment folgen wir der Geschichte Walter Benjamins bis auf den Friedhof Portbous. Der Blick richtet sich auf einen Güterbahnhof und dann auf das schweigende Meer. Die ausweglose Situation, von der Benjamin in seinem letzten Brief schwermütig berichtete, prallt auf die trügerische Weite. Zwei Jahre nachdem sich Benjamin das Leben nahm, stößt die Wehrmacht an die französische Mittelmeerküste vor. In solchen Augenblicken wird sich der Film seiner eigenen Sprachlosigkeit wieder bewusst. In dem uraltem Hafengeschwätz Marseilles scheint diese unbegreifliche Geschichte verborgen zu liegen, aber sie verliert sich im Gewirr der Stimmen. Ein letztes mal stellt sich der Film die Frage: „Wo wir sind wir?“. Wir sind am Ende des Films und befinden uns im Jetzt, dem Jetzt des Jahres 1977 wie auch dem des Jahres 2021. Die Frage des Ortes ist nun eine der Zeit.

In ähnlicher Weise wie der Film um eine (seine?) Sprache ringt, geht es auch mir. Zu vieles blieb hier unerwähnt, was die Eigensinnigkeit dieses dreistündigen Werks ausmacht. Ich glaube aber, dass sich darüber hinweg sehen lässt. Dieser Film liegt seitab von jenem totalitären Anspruch, alles in ihm enthaltene aufsaugen und wiedergeben zu müssen. Fluchtweg nach Marseille verstehe ich so eher in der Form des Umgangs mit einer Landkarte. Wir sind daran gewöhnt, sie zu öffnen und uns einen groben Überblick zu verschaffen. Sich zu orientieren, sie zu lesen oder sie zu verschließen, stellt die größere Herausforderung dar, vor allem dann, wenn Wege verschwinden und neue entstehen. Ich frage mich, wie es vorstellbar ist, diesen Film zu restaurieren. Versucht sich der Film nicht vehement davon loszusagen, nur eine Zeile in der Chronologie eines Geschichtsbuch, nur eine weiterer Beitrag zum gegenwärtigen Bewusstsein zu werden? Notwendigerweise müssen Restauration und Gegenwart zueinander Distanz wahren, um für sich begreifbar, also unterscheidbar zu bleiben. Aber bei diesem Film bin ich mir nicht sicher. Kein anderer ist geeigneter und ungeeigneter dafür zugleich.

Das Untertitel-Problem hat in seiner häretischen Weise verdeutlicht, dass der Film nicht nur einfach an der Sprache operiert, sondern ebenso eine Übersetzungsarbeit leisten muss, übersetzen zwischen Sprachen wie zwischen den Zeiten. Der Film nimmt sich am Ende des zweiten Teils Walter Benjamins Gedanken zum „Autor als Produzent“ an. Er entwickelt damit rückblickend seine eigene Denkform. Es wäre in dieser Hinsicht eine Überlegung wert, der Arbeit des Restaurierens, Benjamins Überlegungen über „die Aufgabe des Übersetzers“ beizulegen. Das hieße, den Film ins Jetzt zu retten, ohne ihm ein mythisches Denkmal zu setzen. Wahrscheinlich müsse die Restauration dazu zur Sprache des Films durchdringen und diese bewahren.

Menschen, von Orten erträumt. Ein Dialog über Transit von Christian Petzold

(Dialog zwischen Patrick Holzapfel und Ivana Miloš)

Ivana,

ich wollte dir über Christian Petzolds Transit schreiben. Auch weil du die Buchvorlage von Anna Seghers gelesen hast und ich nicht. Auch weil Petzold gerne erzählt, dass der Film in einem Dialog entstanden ist. Mit Harun Farocki, dem der Film auch gewidmet ist. Vielleicht wäre es dann gut, wenn man sich dem Film auch in einem Dialog nähert. Ich weiß nicht wie es dir mit dem Film erging. Ich habe mich plötzlich in einem Labyrinth gefunden. Ein Labyrinth, aus dem ich immer und nie herauswollte. Das Warten wird im Film ja ganz kafkaesque als die Hölle bezeichnet. Ich denke an Antonio di Benedetto, dessen Zama Lucrecia Martel so innerlich verfilmt hat. Das Buch beginnt mit einer Widmung für die Opfer des Wartens. Transit und Zama finden sehr unterschiedliche, aber doch verwandte Handlungen für diese Opfer. Für mich findet Transit im Vakuum einer Hölle statt. Die Figuren sind nur mehr Geister, die Gesichtslosen unserer Welt, wenn man so will. Es ist eigentlich schon vorbei als es beginnt. Deshalb macht es keinen Unterschied, ob man vom Ausbruch, von der Reise träumt oder sie tatsächlich unternimmt. Gegen Ende des Films gibt es diese Bilder, die auf das Meer gerichtet sind. Ein weißes Segelboot fährt vorbei. Das ist für mich ein perfektes, wenn auch altbekanntes Bild für diese Sehnsucht, die gar nicht mehr nach Erfüllung fragt. Das existiert in einer Art Zeit- und Raumlosigkeit. Man flieht im Blicken.

Patrick,

dem Labyrinth von dem du schreibst, fehlt Ariadne, obwohl es im Film Passagen gibt, die ihr gewidmet sind, gewidmet als ob sie diejenige wäre, die anstatt der Götter Opfer und Entschädigungen erhalten würde. Ich denke natürlich an Marie, diese Frau des Erscheinens (und Verschwindens) an Übergängen. Sie wirkt auch so, als könnte sie ein reines Gebilde von Georgs Imagination sein. Sie ist der herbeigesehnte, rettende Strohalm, an dem hängend er sich aus dem Treibsand ziehen könnte. Der kleine Junge Driss ist ein weiterer potenzieller Retter. Aber alle gehen fort. Und noch wichtiger ist, dass niemand lebend davonkommt oder zumindest in ganzen Stücken. Das Buch erzählt auch von diesem Labyrinth und von jenen, die dort ein- und ausgehen, aber der Film erreicht eine andere Ebene mit dieser Geisterhaftigkeit und Erscheinungen. Die Pfade und Kurven des Films sind glatt, behände, trügerisch und man könnte sich jeden Augenblick darin verlieren – denke nur an die Frau mit den Hunden, die plötzlich nicht mehr neben Georg steht. Georgs Perspektive bestimmt diese traumartige Welt. Er ist verloren bevor der Film beginnt, vieles hat sich bereits in Luft aufgelöst wie du richtig bemerkt hast. Wir sehen mit ihm, aber es ist entscheidend, dass wir auch ihn beim Sehen sehen. Das offensichtliche Beispiel dafür findet sich in der letzten Einstellung, in der sich Traum und Realität vermischen und wir nur mehr Georgs Blick anschauen können. Ein solcher Perspektivwechsel schreit beinahe nach dem Werkzeug der Erzähltheorie, denn obwohl der Film die Erzählung aus der ersten Person im Buch durch einen Erzähler aus der dritten Person ersetzt, sind wir so nahe an Georg, dass wir sogar an seinen Träumen teilhaben. An was kann man sich halten in einem Labyrinth, wenn der Ariadnefaden nirgends zu sehen ist? Und ist es dann wirklich von Bedeutung, dass es ein Meer am Horizont gibt?

Ivana,

die Geister, von denen du schreibst, finden sich ja auch in der sich selbst präsentierenden, doppelten Zeitlichkeit im Film. Hier die 1940er, dort die 2010er. Dieses Aufeinandertreffen einer Sprache mit einer weitergezogenen Welt oder auch, ich denke, dass man das sagen kann, der Fiktion mit der Realität. Etwas wird da eingeholt oder heimgesucht, als wandelten die Worte und Handlungen aus der Romanvorlage noch immer einem Echo gleich durch die Straßen von Marseille. Es entstehen mehr Brücken als Risse zwischen den Zeiten. Zum einen natürlich durch die politischen Konnotationen, da muss man auch vorsichtig sein, weil mir das Kino so willig und wenig vorausahnend auf die Flüchtlinge zu springen scheint, ganz so als wären sie nur ein Thema und keine Menschen. Bei Petzold ist das nicht so, weil dieses Thema eben auf seine Orte und seine Historizität zugleich trifft. Man spricht ja oft davon, dass Flüchtlinge die Geister unserer Welt sind. Schwellenbewohner zwischen den Welten, wartend auf die Flucht, auf das nächste Schiff, den Weg in eine Freiheit oder ihre Illusion. Ihre Vergangenheit ist ein Schatten, den sie mit sich tragen. In Transit ist es interessant mit der Vergangenheit, weil alles, gleich einem Film von Jacques Tourneur, in der Vergangenheit zu spielen scheint, aber jeder Blick, bis zum von dir so schön beschriebenen letzten, der weiter ins Ungewisse einer verzagenden Hoffnung reicht, von einer Zukunft träumen müsste. Alles ist ein wenig so, als würde man sich nur noch bewegen, weil man sich an etwas erinnert, was dadurch passieren könnte, aber egal wen man fragt, niemand weiß mehr, was das sein könnte. Wenn du schreibst, dass niemand lebend davonkommt, ist es denn nicht so, dass nicht alle sowieso schon gestorben sind?

Patrick,

ja, Transit ist ein Schiff, auf dem jene leben, die schon lange gesunken sind. Ein Schiff gebaut aus dem Hafen gebaut aus der Welt gebaut aus Geistern. Zwischen den Welten zu wandern, ist harte Arbeit, vor allem wenn keine der beiden wirklich zu existieren scheint. Die 1940er und 2010er Jahre verschmelzen sofort. Sie überlappen schneller als man blinzeln kann während einer atemlosen Hetzjagd, aber dieses Gefühl einer Gleichzeitigkeit ist merkwürdigerweise genauso anhaltend wie es kurz ist. Sie verfolgt uns immer weiter, diese feine Naht zwischen Menschen und Orten, weil sie die unnachgiebige Kraft des Filmes ist. Diese Naht zehrt von dem, was sie nicht gleich preisgibt, ihre Ambivalenzen flößen den Menschen die Stimmen Kafkas (und Gombrowiczs) ein. Sie haben schon alles hinter sich gelassen, wozu also noch rennen, wovon noch fliehen? Das Echo, das du wertvoll beschreibst, tanzt in den Straßen – die Darsteller sind Widerhall, Spuren, festgehaltene Zeit. Wenn etwas passiert, dass wir weder vergessen noch in Erinnerung rufen können, ist es dann nicht richtig, Zeugen zurückzulassen, Zeugen, die zurückkommen, wann immer wir sie brauchen? Wie bei Stanisław Barańczak und seinem faszinierenden Gedicht Where Did I Wake Up ist alles abhandengekommen und kann dennoch durch sich wiederholende Bewegungen zurückgebracht werden. Man muss durch den Ablauf der Bewegungen gehen wie Georg, indem er in seinem dürftigen Zimmer sitzt, das Radio repariert, für Driss singt, um sein Leben rennt. Marie gibt sich der sinnlosen Suche nach ihrem Ehemann hin, dem verlorenen Weidel dessen Identität (zumindest administrativ) von Georg übernommen wurde. Für eine Zeit ersetzt sie ihn mit Richard, dem Arzt, dann mit Georg selbst, zumindest scheint es so. Am Ende kann sie nur jenem Faden folgen, den sie schon am Beginn jagt und der (einmal mehr) in den Tod führt. Wenn jeder vergangene Blick, wie du so wunderbar geschrieben hast, einen Traum von der Zukunft in sich trägt und alle Bewegungen von Erinnerungen ohne Zukunft eingeschränkt werden, befinden wir uns dann nicht in den selben Regionen wie Virginia Woolf und Samuel Beckett, als diese schrieben:

Wait! Wait! The kingfisher comes; the kingfisher comes not. (W)

It is midnight. The rain is beating on the windows. It was not midnight. It was not raining. (B)

Ist Petzolds Interpretation dieses Transits vorstellbar oder gar überzeugend, weil er sich so geisterhaft an Orte klammert? Hängen unsere Erinnerungen an Orten und wenn ja, werden sie durch das Kino befreit?

Ivana,

ich möchte ein wenig bei den Plätzen von Petzold verweilen. Es scheint mir so, als wären beinahe all seine Filme bisher an Nicht-Orten angesiedelt. Yella ganz besonders, Toter Mann, Wolfsburg im Auto, Barbara, Die innere Sicherheit. Für mich gibt es da immer einen Fluchtmoment, etwas Geisterhaftes und immer wieder das Verweilen auf den Möglichkeiten, die auch Fiktionen sind. Mit De Certeau könnte man auch sagen, dass bei Petzold beständig Orte verfehlt werden. Ich weiß gar nicht, ob die Erinnerung, von der du schreibst, noch möglich ist an diesen Orten. Vielmehr sehe ich nur das Vergessen, das Verdrängen oder die Sehnsucht. Für mich gleicht das weniger einem Aufwachen als einem Fallen. Wozu die Erinnerung, wenn man träumen kann oder überleben muss? Gleichzeitig erlaubt dieser – und ich meine das im besten Sinne – eine Film, an dem Petzold arbeitet, eine unheimliche Kontrolle über die Mittel dieser verfehlten Orte…die Blicke, die Geschwindigkeiten, der Rhythmus, immer wieder diese Einstellungen, in denen Figuren im Bildvordergrund durch das Bild huschen und den Blick auf die Person im Hintergrund freigeben. Er spielt auf der gesamten Klaviatur des Kinos, aber jeder Schnitt, jede Entscheidung ist spür- und nachvollziehbar. Die Musik kommt erst spät in den Film genau wie die Erzählstimme. Dafür führt er Marie beinahe beiläufig ein. Ich finde, dass das ein unheimlich schwer zu filmendes Bild ist. Eine Frau glaubt jemand auf der Straße zu erkennen, er dreht sich, sie haben diesen merkwürdigen Blickkontakt zwischen Anziehung, Enttäuschung und Déjà-vu. Dann geht sie. Dieses Bild ist merkwürdig für mich. Vielleicht weil es sich zu leicht in Worte kleiden lässt. Womöglich auch, weil ein Moment der Überraschung so falsch wirkt, wenn doch alles schon vorbei ist. Nur all diese kontrollierten Augenblicke, ihre Kombination, ihre Virtuosität heben den Film für mich beinahe auf eine abstrakte Ebene, in der diese Nähe zwischen Flüchtigkeit und Unendlichkeit sich in reine Bewegung übersetzt. Was daran aber wirklich besonders ist für mich, ist dass er diese Abstraktionen hinbekommt und dennoch Erzähl- und Genrekino macht. Wobei es schon einen Unterschied zu klassischem Genre gibt. Denn Petzold muss die Regeln seiner Welt erst etablieren, um sie dann auszuspielen. Sie sind nicht vorher bekannt wie bei einem Western. Nur welche Welt ist das? Ich glaube, dass mich diese Frage am meisten beschäftigt mit dem Film. Ist es unsere Welt und die Regeln von Petzold sind interpretativ? Ist es eine rein fiktionale Welt und die Regeln sind rein narrativ? Oder ist es eine reale Welt und die Regeln sind rein fiktional? Ich glaube fast es ist letzteres und darin liegt für mich die absurde Verbitterung, politische Notwendigkeit und Wahrheit des Films.

Patrick,

das Verweilen ist für mich der Stoff aus dem Transit besteht. Vor allem, wenn wir immer Nicht-Orte und Fluchtwege besetzen, Orte, die nicht mehr sind, was sie waren oder die nie das werden, was Menschen von ihnen wollten. Orte des Wandels und der Übergänge, an denen der Filmemacher bestenfalls mit fiktionalen Möglichkeiten verweilt, sie sind schließlich alles, was uns bleibt. Jerichow und Phoenix passen auch in dieses Puzzle, ihre Klippen und Ruinen, das Meer und die Bahnhöfe, all das, was statt der stummen Vergangenheit spricht. Dadurch werden Orte in Petzolds Filmen zugleich sehr und gar nicht konkret. Sie erzählen im selben Moment die besten Geschichten oder sind die größten Lügner. All das hängt an der geistigen Auffassung der Zuseher darüber, was Fiktion ist, was zumindest teilweise im Unterbewussten verankert ist. Ich bin mir nicht sicher, ob es möglich ist, sich an etwas zu erinnern an diesen Orten. Was mich interessiert ist, was Orte loslassen, was sie preisgeben, wenn sie gefilmt werden, in diesem Fall von Petzolds Kamera. Schäumen und sickern aus ihnen Flüssigkeiten und Dunstschwaden trotz des Vergessens, Verdrängens und der Sehnsucht der Figuren oder gerade deshalb? Ich glaube, dass sich Träume von Erinnerungen ernähren und dasselbe für das Überleben in Transit gilt. In diesen Rissen, in denen es nach etwas durstet, werden Erinnerungen wieder geboren, unvermeidbar als Fiktion und Geister. Es könnte auch sein, dass die Menschen von den Orten erträumt werden. Schließlich hat niemand von uns gesehen, was die Felsen und der Hafen im Marseille der 40er gesehen haben. Du schreibst von sich verfehlenden Orten – ich frage mich, was sie so werden ließ? Wie du schreibst, ist es unglaublich schwierig diese Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod, Ort und Nicht-Ort zu filmen. Es geht dabei um die ganze Welt, aber zugleich gibt es diese gar nicht mehr, also um was könnte es gehen? In mir regt sich eine Wahrnehmung von Georg und Marie, wie auch von vielen anderen, die sie an einem Faden hängen sieht. Es ist allerdings kein Faden, den man von Marionetten kennt. Es ist als würde der Ursprung dieser Fäden in einem seltsamen, wilden Tanz der Tat, des Unfalls oder Zufalls liegen, ein Tanz trunken vor Menschen, die sich gegenseitig erträumen. Das macht diese flüchtigen Begegnungen so beeindruckend – die fasrige Natur der jeweiligen Begehren. Alles könnte passieren. Die Möglichkeiten sind unendlich und flüchtig, weil Petzold die Schärfe zwischen diesen Erträumenden verlagert, als wären sie Vor- und Hintergrund des Bildes. Immer wenn ich an den Film denke, sehe ich das Café, in dem wir alle früher oder später sitzen werden, dort wechseln sie ihre Blicke, die vom Heraufbeschwören erzählen und jemanden entstehen lassen oder sein Verschwinden gemeinsam mit dem Fokus der Kamera manifestieren. Anna Seghers wagt sich im Buch tiefer in die individuelle Erfahrung hinein, tiefer in die Verzweiflung an der Zeit, aber welches Bild ist verzweifelter und herzzerbrechender als ein hoffnungsvoller Blick? Ja, das ist die Welt und ihre Regeln liegen offen für alle. Je früher ihre Lava brennt, desto schneller werden wir laufen – die Kraft unserer Hoffnung hängt daran.

Berlinale 2018: Topographien des Kinos

Tagebucheintrag Viktor Sommerfeld

Die Berlinale 2018 ist nun schon einige Wochen her. Die Filme, noch die längsten kurz und flüchtig, scheinen sehr fern. Ich versuche mich zu erinnern: an Bilder, gesehen, an Blicke, gespürt, an Stimmen, vernommen, an Sätze, verstanden, an Begriffe, gefasst, an Welten, entdeckt und verloren. Ein halbes Notizbuch mit Kritzeleien soll helfen. Zitate, Beobachtungen, Thesen, teilweise noch im Kino hastig hingeschrieben um Platz zu schaffen für die nächsten Bilder, die da vorne ungestört einfach immer weiterziehen. Das Notizbuch als Papierkorb, in den man solange zerknüllte Zettel reinschmeißt, bis man innehält, plötzlich etwas vermisst, den Berg durchwühlt nach den paar Worten, welchen man glaubt, die entflohenen Bilder wiederholen zu können.

Was steht da? Etwas von „Topographie“. Was erinnert diese Notiz? Ein, zwei, drei Berlinale-Gespräche, in denen ich von „Topographie“ sprach um verschiedene Bilder zu fassen. Durch seine Wiederholung hat sich der Begriff einen Platz unabhängig vom Bild geschaffen. Erst zeigte er unsicher auf die Stelle, wo das Bild gerade noch zu sehen war. Dann meinte er schon mit Sicherheit das, was er bei ersten Mal meinte. Zuletzt steht der Begriff ganz fest, gehalten von anderen Worten, die sich zu ihm gesellt haben. Das erste Bild ist schon vor langem auf der Leinwand gestorben. Aber der Text kann reanimieren, den Bildern ein zweites Leben schenken. Im besten Fall kommen dabei schöne Zombies heraus. Untote Bilder, ein bisschen langsamer als die Lebendigen, aber auch viel einfacher zu fangen.

Das Mittel zur Reanimation ist der Begriff. Also zurück zu den Notizen und dann weiter zurück zum Moment des Sprungs, in dem sich das Wort aus dem Bild gelöst hat. Möglicherweise kann man da etwas umpolen und mit Funkenschlag künstliches Leben erzeugen.

Interchange von Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky

Interchange von Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky

Kreuzungen

In meinen Aufzeichnungen findet sich „Topographie“ zum ersten Mal am 15. Februar 2018, dem ersten Tag des Forum in den Notizen zu Interchange von Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky. Im wörtlichen Sinne von Topo-graphie beschreibt dieser Film in etwas über 60 Minuten einen Ort: die Umgebung einer Highway-Kreuzung, eines „Interchange“, in Kanada. Zunächst eine Totale vom Epizentrum der Lärm- und Abgasbelästigung mitsamt der Highway-Überführung, auf der krachend die Sattelzüge über den Köpfen der kleinen Siedlung darunter von rechts nach links durchs Bild rasen. Der ohrenbetäubende Autolärm und das überscharfe Videobild, das den Feinstaub der Abgase auf allen Oberflächen sichtbar zu machen scheint, selbst noch im viel zu türkisen Himmelblau, sind die beiden prägnantesten Konstanten der folgenden Kette an festen Einstellungen von Straßen, Häusern und Autos.

Immer wieder unterbricht der Film diese Repetition von klar strukturierten Totalen, um Details aus dem unterdrückten Leben dieses Ortes zu zeigen: ein stummes Mädchen auf einer Schaukel, ein stummer Junge auf einem Fensterbrett. Diese Unterströmung des Films nimmt zuweilen surreale Züge an. Ein toter Fisch liegt auf einer Brache und wird von hunderten Fliegen umschwirrt. Die erhöhte Konzentration dieser Einstellung erlaubt es dem Auge, kurz an Ort und Stelle zu verharren, bis es wieder fortgerissen wird vom endlosen Strom der Autos, welche unermüdlich die Totalen von „Interchange“ durchqueren.

In seltenen Momenten steigert der Film auch diese ewige Wiederkehr der kreischenden und stinkenden KFZ durch übermäßig illustratives Sound-Design zu einer märchenhaft-abgründigen Qualität. Einmal bremst ein Auto so ausgedehnt an einer Ampel, dass man meint einen Seufzer zu vernehmen. In ein dynamisches Verhältnis treten diese beiden Tendenzen – die schreiende Maschine und das stumme Leben – dennoch nicht. Sie sind nur zwei von vielen unterbrochenen Vektoren im Gewirr dieser Kreuzung. Am Ende geben Cassidy/Shatzky dann leider doch noch eine klare Richtung vor: über den Bildern eines Staus spielt ein Chanson, das vom Vergehen der Zeit handelt. Aber warum solange an einem Ort bleiben, wenn man doch nur sagen will, dass uns die Zeit – ach – aus den Händen gleitet?

Mit welchen Mitteln beschreiben Filme Orte und was kann der spezifisch filmische Charakter eines Ortes sein? Interchange hat gerade in seiner Richtungslosigkeit diese Fragen in mein Programm geworfen und die Berlinale hat mit vielen Stimmen geantwortet. Vielleicht ist die Fähigkeit einen solchen Dialog herzustellen, das beste Zeichen für ein gelungenes Festival.

Grass von Hong Sang-soo

Grass von Hong Sang-soo

Der große Konstrukteur

Filme befragen sich gegenseitig entlang beider Richtungen des Zeitstrahls und so erreichte mich jetzt eine Antwort, die mir schon vor dem ersten Festivaltag während der Pressevorführungen gegeben wurde. Hong Sang-soos erster Film in diesem Jahr, Grass, spielt fast vollständig in einem gewohnt durchschnittlichen Café in der koreanischen Provinz. Die Geschehnisse sind ebenso alltäglich wie der Ort: In Einstellungen, die auf jeglichen Kunstwillen verzichten, sitzen sich jüngere und ältere Paare gegenüber und besprechen ihre Beziehungen. Die alles durchdringende Gewöhnlichkeit wird kontrastiert von großer romantischer Musik, die immerfort den kleinen Laden beschallt. Mehrmals hören wir die Gäste bewundernd über den Besitzer sprechen, der so freundlich sei und eine echte Leidenschaft für diese Musik habe.

Der Gegensatz zwischen den banalen Alltäglichkeiten und der hochdramatischen Musik scheint als Charakterisierung eines Ortes zunächst sehr künstlich und – wie manche gute Idee – fast ein wenig unbeholfen in seiner Einfachheit. Doch Grass macht nie einen Hehl aus seiner filmischen Konstruktion dieses Ortes, sondern reflektiert sie beinahe aggressiv. Der musikliebende Besitzer ist ein Bluff mit offenen Karten, nie werden wir ihn sehen, es gibt ihn nicht. Hong schummelt um erwischt zu werden, um zu zeigen, dass er uns beschummeln kann. Im nicht vorhandenen Cafébetreiber tritt die ästhetische Exekutive selbst als Figur auf und lässt keinen Zweifel an ihrer Autorität. Sie ist gleichwohl sehr großzügig und gestattet in ihrem Laden sogar den Genuss von mitgebrachten alkoholischen Getränken. Ein Schelm, wer im unsichtbaren Wirt den Regisseur selbst vermutet, dessen Filme bekannt sind für ihre ausgedehnten Trinkgelage. Indem Hong in Grass den Akt der Selbstreflexion in die Szene selbst integriert, irritiert er nachhaltig die illusionären Ebenen, in denen sich die Spielfilmwelten üblicherweise konstituieren. In diesem Café treten die Dinge offen Hand in Hand mit ihrer Gemachtheit auf, ohne dass sie miteinander in Konflikt gerieten. Die Musik kommt aus den Lautsprechern im Café und zugleich vom Schneidetisch.

Grass ermöglicht dieser doppelte Charakter der Dinge mit all seinen simplen Mitteln einen hochraffinierten und eleganten Tanz aufzuführen. Wie bei einer Skizze, der man beim Entstehen zusieht, wirken die ersten Striche noch hölzern, deplatziert, zu dick oder zu dünn, bis auf einmal aus der Strichsammlung die komplexe Figur hervortritt. Jedes Mal erschrecke ich mich dann.

Beschreibung ist immer Konstruktion. Auch im Film. Obwohl Hong Sang-soo dies demonstriert, interessiert er sich keineswegs für Illusionsbruch oder gar Aufklärung. Unmissverständlich macht er klar, dass wir das Gerüst zwar sehen können, aber deshalb noch lange nicht die Konstruktion verstehen. Was bleibt, ist dennoch hinzusehen.

L. Cohen von James Benning

L. Cohen von James Benning

Orte mit und Orte ohne Auftrag

Was konnte man sehen auf dieser Berlinale? Zum Schluss meiner Berlinale besuchte ich die Ausstellung des Forum Expanded um eine Tradition fortzuführen, die Rainer Kienböck in den letzten Jahren für die Berlinale-Berichterstattung von Jugend ohne Film etabliert hat. Durch das Chaos einer erratischen Ausstellung hangelte ich mich fort an der Frage nach dem Ort und stieß auf zwei Tendenzen.

Zwischen den elektronisch spratzelnden Störgeräuschen einer Videoinstallation und dem unregelmäßigen Streulicht eines Diaprojektors fand ich im besten Sinne einen Ruheort. James Bennings Film L. Cohen zeigt 45 Minuten lang die Einstellung eines „farm field in Oregon on a very special day“, wie der Austellungstext verspricht. Im linken Vordergrund ein paar leere Ölfässer, am rechten Bildrand eine Reihe von Strommasten, die in die Tiefe führt, wo sich in der Mitte im blauen Dunst ein schneebedeckter Berg erhebt.
Dann sitzt man da, setzt die Kopfhörer auf und schaut der Sonne beim Wandern zu. Die schlichte Neugier für die Bewegung des Lichts öffnet den Blick, weil sie dem Medium des Films in so grundlegender Weise entspricht. Das Sehen wird vorrausetzungslos und funktionslos. Der Loop, in dem der Film in der Ausstellung gezeigt wird, entfernt diese Topographie des Lichts vielleicht noch weiter von den Erfordernissen einer Dramaturgie, als die Vorführung im Kino. Leicht kann man in den paar Minuten, die der durchschnittliche Ausstellungsbesucher von L. Cohen sehen wird, das „special“ dieses Films verpassen und verpasst doch nichts. In der Mitte des Films verschwindet die Sonne hinter dem Mond und es wird in rasender Geschwindigkeit dunkel und wieder hell. Das ist tatsächlich kosmisch, wie jemand mir den Film im Vorhinein beschrieb. Man sieht einen anderen Film. Im Kino läuft der Film zwangsläufig dramaturgisch auf dieses Ereignis zu. In der Ausstellung dagegen steht jede zufällige Minute von L. Cohen absolut in ihrem eigenen Recht und möchte gar nichts weiter, als einen Ort aus Licht schaffen.

Dieser materialistischen Kontemplation stand eine Reihe von Ausstellungsbeiträgen entgegen, die den Ort zur Lehrstatt machen wollten. Die Ansicht des Ortes soll denselben als Agent oder gar Täter einer falschen Ideologie entlarven. Brecht meinte einmal, eine einfache Fotografie der Krupp-Werke oder der AEG würde fast nichts über die Realität dieser Institute aussagen. In Anschluss daran muss man am Sinn von Projekten zweifeln, welche die Ortsbeschreibung als didaktisches Mittel einsetzen wollen, ohne ihre Konstruktion des Ortes dabei mitzudenken.

Immer wieder finde ich mich während der Ausstellung vor solchen Ansichten wieder, die etwa Häuserausschnitte, Industrieruinen, oder Straßenkreuzungen selbst als Argumente anführen wollen. Immer wieder finde nichts darin außer eine Häuserecke, eine Industrieruine, oder eine Straßenkreuzung. Zu diesem Problem trägt bei, dass viele der im Loop präsentierten Installationen sich argumentativ einem Problem nähern wollen, ohne dabei Verständnishürden für den Ausstellungsbesucher zu errichten, der oft mittendrin einsteigt. Was bleibt erscheint vage und behauptet zugleich scharf zu sein. Die Ausstellung mag der falsche Ort für diese Filme sein. Nach einer konzentrierten Sichtung im Kino wäre dieser Eindruck vielleicht ein anderer.

Transit von Christian Petzold

Transit von Christian Petzold

Das Leben als Verfolgungsjagd – Die Verfolgungsjagd als Leben

Dort im großen Kinosaal sah ich Transit von Christian Petzold. Diese Welt, in der sich Georg und Marie immer wieder verpassen, finden und verlieren, die 1940 und 2018 in einem ist, ist vor allem eine Welt des Kinos. Ebenso wie L. Cohen zeigt Transit genuin filmische Orte, steuert dabei aber auf einen gegensätzlichen Pol zu, an dem die Beschreibung des Ortes und die Funktion dieser Beschreibung innerhalb einer dramaturgischen Bewegung in eins fallen. Alle Orte sind bestimmt durch die Bewegungen, welche sie den Figuren ermöglichen. Den Zug gibt es, weil man mit ihm fortkommt, die Landschaft da draußen, damit sie vorbeiziehen kann und das Café hier zum Warten. Sie werden zu Trägern von bestimmten Modi des Lebens, die zugleich durch die Filmgeschichte verschlüsselt sind und ganz offen historisch konkrete Erfahrungsweisen der Welt sichtbar machen.

Am Anfang des Films gibt es eine Szene, in der Georg von Polizisten aufgespürt wird und die Flucht durch die Gassen von Paris antritt. Die Frage, wer diese Verfolger in den modernen Kampfanzügen eigentlich sein sollen, die Gestapo oder französische Kollaborateure, stellt sich schnell als irrelevant heraus. Was zählt, ist das Leben als Verfolgungsjagd, als Sprint durch eine enge Gasse und atemloses Verstecken in einer dunklen Häuserecke. Durch Transit wird schlagartig klar, dass das Kino diese Geschichte in gewisser Weise schon immer erzählt hat; in jeder Verfolgungsjagd seit seinen Anfängen, die Geschichte der Verfolgten.

Transit entwickelt seine Form direkt aus Inszenierungsweisen der langen Geschichte des Genrekinos, aus denen er Stücke herausbricht um sie neu zusammenzusetzen, zu beschleunigen oder anzuhalten. Der melodramatische Reigen des Verpassens und zu-spät-Kommens zwischen Georg, Marie und Richard, windet sich in einem Loop zum Dauerzustand, mit jeder Schleife kühlt er weiter ab und beginnt sich dem direkten emotionalen Nachvollzug zu versperren. Der Affekt wird solange strapaziert, bis er den Blick freigibt auf die Maschine, die ihn herstellt. Die Figuren sind Gefangene im melodramatischen Modus des Wartens und Verpassens. Was bleibt ist die monströse Erfahrung eines ewigen Zu-spät-seins, das keine Zukunft mehr kennt. Der Blick über den Hafen endet immer wieder an der Kaimauer. Das offene Meer ist nicht zu sehen. Über den Ort des Transits hinaus gibt es nichts.

Wirkliche Orte

In Transit werden die Pole von Beschreibung und Konstruktion, zwischen welchen sich die Topographie stets bewegt, eingeschrieben in ein umfassenderes Problem der filmischen Darstellung. Wie kann der Film die Schrecken der Judenverfolgung und des Holocaust angemessen zeigen? Transit befreit sich aus dem ebenso üblichen wie nutzlosen Koordinatensystem von Realismus und Bilderverbot, Hollywood-Drama und Kunstfilm, indem er sich offen dem bedient, was eigentlich gar nicht geht: eben dem Genre.

Im Gegensatz zum klassischen Genrefilm gebraucht Petzold die maximal funktionalisierten Orte des Genres und dessen Mechanismen aber nicht um Affekte auszuloten und in Parabeln vom Zustand einer Gesellschaft zu erzählen. Er sucht den Punkt an dem die Metapher verschwindet und der Ort, der vollkommen konstruiert scheint, sich als Beschreibung einer historischen Wirklichkeit zeigt. Dort fallen Konstruktion und Beschreibung in eins. Die filmische Konstruktion des Ortes ist zugleich die Beschreibung eines historischen Ortes. Man könnte sagen, dort imitiert das Leben den Film und müsste von der Verantwortung der Bilder sprechen.

Natürlich sterben die Bilder nicht einfach auf der Leinwand. Sie brechen aus und bevölkern die Stadt. Ich komme aus dem Kino, stehe auf dem Potsdamer Platz und befinde mich in einer offenen Topographie.