Reden Über: Safari und die Ethik des Ringblitzes

Ulrich Seidls Safari und Ethik im Dokumentarfilm standen im Zentrum des zweiten Gesprächs von Katharina Müller, Alejandro Bachmann und Patrick Holzapfel.

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Patrick Holzapfel: Wir haben ja gesagt, dass wir uns unter dem großen Begriff Ethik im Dokumentarfilm ein wenig über Safari von Ulrich Seidl unterhalten wollen und dabei, wenn es sich anbietet, auch auf andere jüngere Beispiele im deutschsprachigen Kino wie Brüder der Nacht von Patrik Chiha eingehen. Ich würde das Gespräch auch gerne mit Seidl beginnen, einem Filmemacher, der ja immer an der Grenze des Darstellbaren arbeitet … was er zeigt, wie er es zeigt, das moralisch Vertretbare wird da immer ausgetestet. Ich wollte euch einfach fragen wie es euch mit Safari ging in dieser Hinsicht. Hat der Film euch provoziert, irritiert?

Alejandro Bachmann: Als ich Safari gesehen habe – die hell ausgeleuchteten Tableaus, die übermäßige Sichtbarkeit von Jedem und Allem musste ich an ein Zitat von Pedro Costa denken, der mal gesagt hat, dass seine Art der Raumausleuchtung damit zu tun hat, den Figuren irgendeine Art von Schutzraum zu geben. Das Interessante bei Safari und generell bei Seidl ist natürlich irgendwie auch die Form der Ausleuchtung. Man  könnte fast sagen, dass das ein wenig das Gegenteil von Costa ist, denn bei Seidl ist immer alles vollständig ausgeleuchtet. Und das trifft sich auch immer mit Figuren, die scheinbar alles von sich preisgeben. Das ist ja auch dieses komische Gefühl, dass man manchmal bei Seidl hat, wenn man sich fragt: Warum diese übermäßige Deutlichkeit in allem, warum diese brachiale Sichtbarkeit aller Details, ein wenig auch wie in den Fotografien von Martin Parr, der das mit einem Ringblitz erzeugt? Jetzt hast du gefragt, ob mich das in Safari provoziert hat. Nein, mich hat es nicht provoziert und ich habe witzigerweise mit Leuten gesprochen, die meinten, dass der Film ja auch nur Sachen erzählen würde, die wir sowieso schon wissen. Ich muss aber sagen, dass es was anderes ist, eine Sache zu wissen, als eine Sache zu sehen. Für mich war dann eigentlich nicht Seidls Form schockierend, sondern was ich darin sehe und zu sehen welche Funktion dieses Jagen für die Leute hat. Das war für mich schockierend. Der dokumentarische Ansatz von Seidl ist einem so vertraut, dass er kaum noch schockieren kann und in diesem Film fand ich ihn auch sehr passend. Das Thema und die Art und Weise sich damit zu beschäftigen, hat sich für mich in diesem Fall sehr, sehr gut ineinander gefügt.

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P.H.: Wenn ich dich da gleich noch etwas fragen darf: Es hängt ja mehr an der Feststellung von Costa, als die von dir beschriebene Raumausleuchtung allein. Das Licht ist ja nur ein Ausdruck einer Gesamthaltung. Man hat das bei Costa ja demokratisch genannt, also ein demokratisches Arbeiten mit den Leuten, die man filmt. Deshalb ist ja Brüder der Nacht auch so ein super Beispiel, wo eben auch Geschichten von den Figuren selbst kommen und nicht unbedingt vom Filmemacher. Außerdem gehört dazu neben dem Licht auch das Framing. Ich habe das Gefühl, dass Seidl immer sehr frontal draufhält, während es bei Costa oft allein schon durch die Kadrierung Dinge im Verborgenen gibt. Das könnte man ja auch kritisieren, also dass dieses Licht eine Form der Ästhetisierung darstellt. Dann kommt bei Costa noch eine Vorliebe für enorme Untersicht mit rein, die Figuren werden erhöht und die Kamera gibt ihnen eine gewisse Würde. Ich glaube die Frage, die mir da im Kopf herumschwirrt ist: Wenn Menschen wie die, die Seidl da filmt moralisch fragwürdig handeln, ist das dann für den Filmemacher ein Go, sie auch  moralisch fragwürdig zu filmen? Oder müsste er uns eigentlich etwas anderes zeigen, als das, was du vorhin erwähnt hast, also das, was wir vielleicht sowieso schon wissen?

Katharina Müller: Da stellen sich für mich gleich zwei Fragen. Zum einen: Was meinen wir, wenn wir von „moralisch fragwürdig“ sprechen? Ich kenne niemanden, der das nicht wäre. Das müsste man sehr genau definieren. Und ich würde gerne noch einen Begriff zum Formalen ergänzen. Du hattest von Ästhetisierung gesprochen, die ich auch bei Seidl sehe. Ein Begriff, den ich jetzt zumindest im Diskurs um Seidl angemessen finde, wäre der der Tableauisierung. Ich finde, dass dieser Begriff gerade in Bezug auf den angesprochenen Schutzraum auch jenseits der Fragen nach der moralischen Vertretbarkeit eine entscheidende Rolle spielt. Das sind, ich will jetzt nicht sagen „schöne Bilder“, aber ästhetisiert ist sicher ein Wort, das sind vor allem Bilder in einem Tableau-Sinne. Ein bisschen erinnert mich das ja an die unglaublich vielen Selfies im Social-Media-Bereich, wo sich Menschen zum Teil mit absoluten Fratzen zeigen und das fällt denen selbst gar nicht auf. Also auch mit so einer komischen Untersicht, wo irgendwelche Typen hinter ihrem Bart verschwinden und irgendwie grimmig schauen und sich dabei selbst als repräsentationswürdig erachten. Da liegt dann aber ein Filter darüber und da gibt es so ein bestimmtes Framing und das erinnert mich so ein bisschen an das, was Seidl da macht…

P.H.: Wenn ich da kurz einhaken darf…wenn du jetzt so ein Tableau von Seidl siehst, zum Beispiel in Safari und diese Menschen sitzen dort unter den ausgestopften Tieren, ist das für dich dann ein Bild, das sozusagen von den Figuren eingerichtet ist im Sinne davon, dass es zum einen an diesen Orten einfach so aussieht, also die haben wirklich diese Räume und dort präsentieren sie sich für den Film oder ist das etwas, wo du das Gefühl hast, dass Seidl diese Figuren in seine Tableaus setzt? Das ist vielleicht aus mancher Perspektive kein großer Unterschied, aber insbesondere in einer ethischen Diskussion würde ich meinen, dass das sehr relevant ist.

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K.M.: Ich habe dort beide Bilder gesehen. Ich habe das von ihm eingerichtete Bild gesehen, aber auch die Einrichtung der Figuren in diesem Bild. Ich glaube, dass er ein Framing macht, so ein bisschen wie ein Selfie, ein Selbstportrait. Ich habe dort eigentlich so eine Art mise-en-abyme gesehen, die diese „moralische Frage“ ambivalent genug erscheinen lässt, sodass es sehr schwierig ist, ein Urteil zu finden, das sich über diesen Gnadenhumanismus stellt. Ich habe beides gesehen.

A.B.: Ich finde das, was du sagst, also den Wunsch nach Repräsentation und Selbstrepräsentation sehr spannend. Das unterscheidet ja zum Beispiel auch Brüder der Nacht sehr stark von Safari. Bei Safari hast du Leute, die sich zumindest von ihrem sozioökonomischen Status her in Gesellschaften bewegen, in denen Repräsentation und Selbstdarstellung, das Verkaufen und Repräsentieren eines bestimmten Bildes in diesem  Kontext sehr wichtig und deswegen eingeübt sind. Deswegen finde ich Safari auch viel weniger „problematisch“ als viele andere Seidl-Filme, weil es sich hier um Leute handelt, die explizit daran arbeiten, ein Bild von sich zu erzeugen. Das sieht man eben an der Haus-Einrichtung, die etwas ausdrücken soll.. Das sieht man an der Art der Kleidung, diese Art Safari-Outfit aus dem High-End-Katalog. Da trifft der Film auch irgendwie Models. Das war ja auch ein Film über Leute, die  sowieso das Bedürfnis haben, abgelichtet zu werden. Und das andere an Safari, was ich in dieser Hinsicht sehr interessant finde, ist, dass diese Jäger ja am Ende immer ihre Kamera aufstellen, um sich mit dem erlegten Tier zu zeigen. Und da gibt es im Film meiner Meinung nach auch einen Kommentar darauf, in dem Seidl seine eigene Position in eine Position zu diesen Bildern setzt. Man sieht nämlich wie die Fotokamera eingerichtet wird aus einer anderen Perspektive und dann gibt es einen harten Schnitt in die Position der Kamera, die der Jäger für sich aufgestellt hat, um ein Bild von sich zu machen. Und das Bemerkenswerte ist, dass der Sprung von der einen in die andere Perspektive kaum spürbar ist. Man merkt es nur anhand der Perspektivverschiebung, man spürt, dass man jetzt aus der Kamera des Jägers auf den Jäger blickt, aber das Bild ist im Endeffekt dasselbe, es verändert sich nicht so groß. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass die „moralische Frage“ bei diesem Film ganz gut aufgeht, wenn man das so sagen möchte.

K.M.: Das ist Kriegstrophäe 2.0. Vielleicht dazu ein Detail, ich wusste das nicht, ich habe das nicht so wahrgenommen, aber Seidl hat das unlängst in einem Interview zu Verstehen gegeben, dass interessanterweise, aber auch für ihn verwunderlicherweise, sowohl Tierschützer als auch Jäger mit dem Film einverstanden waren. Das meinte ich eben mit dieser humanistischen Verdoppelung vom Bild des Selbstbildes.

P.H. Es ist halt auch so, dass der Film in seiner Form und der Art und Weise wie sich Seidl diesen Figuren nähert kein wirkliches Urteil über irgendwen fällt. Das ist ein schmaler Grad, ja, weil es immer irgendeine Form von Haltung gibt und wenn Seidl diese Menschen sich da einfach mal präsentieren lässt und hier und da nachhilft, kann man da insbesondere als Zuseher sehr leicht eine Position dazu beziehen. Und es gibt auch mindestens zwei Szenen in dem Film, in dem Seidl ein wenig aus seiner anvisierten Neutralität kippt, denen habe ich beim Sehen stark widersprochen, weil sie sehr direkt auf meine Emotionalität zielen. Es sind eigentlich zwei kleine Szenen. Das ist einmal als die Kamera beim Sterben der Giraffe kurz auf das sterbende Tier schwenkt, was der Film sonst konsequent vermeidet. Und das ist ein Bild, bei dem niemand im Publikum locker sagen kann: Ach ja, die Giraffe wurde erschossen. Nein, das greift einen an. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Schwenk einfach im Moment passiert ist, das ist ja auch sehr direkt gefilmt. Das zweite Bild scheint mir aber noch eine bewusstere Entscheidung zu sein, denn bei einem der ersten Tiere, die im Film erschossen werden, gibt es einen Zwischenschnitt auf das Blut, das aus dem toten Körper heraus blubbert. Das sind dann zwei Szenen, die diese möglichst urteilsfreie Neutralität des Films aufbrechen in eine Tierempathie. Es haben ja auch viele über den Film geschrieben, dass man mit den Tieren sympathisiert. Am Ende gibt es ja auch diese Giraffen am Horizont, die auf die erschossene Giraffe zu warten scheinen. Da wird der Film für mich schon sehr deutlich zu einem Anti-Jagd-Film und wie gesagt, diese neutrale Haltung des Filmemachers, die wahrscheinlich auch der Grund ist, warum Jäger mit dem Film einverstanden sind, aufbricht.

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A.B.: Wobei die erschossene Giraffe innerhalb des Films ein unglaublich tolles Beispiel dafür ist, wie ambivalent auch ein solches Bild ist, weil ja die Frau, die mit ihrem Mann da unterwegs ist, beginnt zu weinen. Und mir ging es da so, dass ich im Kino saß und mir dachte, ja, das geht also auch an den Leuten nicht vorbei, die sich selber rechtfertigen und erklären, warum das, was sie da tun, in Ordnung ist. Und ich dachte die ganze Zeit: Okay, sie weint, weil sie erschüttert ist, was sie da gerade getan hat. Und dann dreht es sich aber. Dann dreht sich ihr Weinen in ein dankbares Weinen dafür, dass sie endlich eine Giraffe geschossen haben. Zumindest kann man es so lesen, es ist uneindeutig. Und ich kann das vollkommen nachvollziehen, wenn du jemand bist, der die Jagd für etwas Gutes hält, der die Faszination dafür nachvollziehen kann, dann kannst du den Film schauen und fast nichts problematisch darin finden. Der Film sagt auch nicht anderes als: Diese Leute finden, dass das eine gute Sache ist.

K.M.: Was ich da halt auch sehe oder was ich vielleicht in anderen Seidl-Filmen weniger gesehen habe, das ist genau das, was an dieser Agonie der Giraffe aufbricht, nämlich Trauer. Und ein Kollege hat dazu sehr hart gesagt: das war das erste Mal in seinem Leben, dass er „mit einem Vieh Mitleid hatte“. Ich glaube, da ist auch dieses Moment, ich will nicht sagen „neu“, weil es schon immer wieder spürbar ist bei Seidl, aber hier eben in einer größeren Vehemenz. Und zwar findet da eine moralische Versehrtheit ihren Platz durch eben solche Schwenks. Moralische Versehrtheit, aber auch eine Trauer über diese moralische Versehrtheit.

A.B.: Du meinst die moralische Versehrtheit des Zuschauers hat da Platz?

K.M.: Auch die von Seidl sehe ich da drin.

A.B.: Das musst Du mir erklären…

K.M.: Naja, man hat ja zum Beispiel so gegen Ende im Bild, wo „die Schwarzen dort“ frontal aufgenommen essen, vielleicht zum Essen genötigt wurden, zumindest für mein Gefühl eine Regieansage: So jetzt esst mal bitte, zeigt uns mal wie ihr da esst.

A.B.: Für die Kamera…

K.M.: Für die Kamera. Da spürt man ja auch so eine Trotzreaktion drin. So ein „Ich zeig euch jetzt mal meine Position“. Und es gab ja auch immer wieder diese Kritik an Safari, die glaube ich sehr kurz greift, dass so selten Schwarze vorkommen und man immer nur die Perspektive der Weißen sieht und so weiter. Aber es geht ja hier eindeutig nicht darum, einen Ausgleich zu schaffen, sondern eher darum, Verhältnisse darzustellen. Und diese Szene mit den essenden Schwarzen ist da für mich ein ganz prägnanter Moment, indem kein Hehl daraus gemacht wird, aus der Bewusstheit der meinetwegen eigenen weißen Position des Überlegenen, auch vielleicht Exotisten, der da jetzt hinreist und diesen Film macht. Ich sehe ja auch in der Arbeit an diesem Film eine Verlängerung dessen, was er zeigt. 

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P.H.: Wenn ich dich richtig verstehe, dann sind für dich diese Szenen, also die mit den essenden Schwarzen und die mit der Giraffe Momente, in denen Seidl beziehungsweise die Kamera nicht mehr neutral sein kann oder möchte, sondern seine Position wird in diesen Szenen klarer subjektiver und emotionaler als sonst.

K.M.: Genau. An diesen Polen bricht für mich diese Kritik, die man ja auch üben kann und die auch immer wieder geübt wird, nämlich „Der Seidl stellt die Leute aus“, das bricht für mich da zusammen. Im formalen Happening ist da für mich ganz stark ein Zusammenbruch dieser Geste des vermeintlich Objektiven.

P.H.: Aber nun gibt es ja eine gewisse Linie im Dokumentarfilm oder auch Spielfilm, zu der auch Seidl gehört, diese Linie, die nach möglichst großer Objektivität, Neutralität schielt. Sodass wir als Zuseher eine Position zu dem beziehen müssen, was uns da gezeigt wird. Der Filmemacher also möglichst als jemand agiert, der uns einfach etwas zeigt, als Zeuge mit dabei war und uns das dann zeigt. Natürlich eine Utopie, aber ein Bestreben. Für mich hat das immer etwas Wertvolleres als der Filmemacher, der mir deutlich sagt: Jetzt kommt der Moment, in dem ich Mitleid habe. Und wenn ich einen Schwenk auf eine sterbende Giraffe mache, dann kann ich gar nicht anders, ich werde gezwungen etwas relativ Bestimmtes zu fühlen, selbst wenn Alejandro natürlich Recht hat und diese Szene weitergeht und deutlich ambivalenter ist. Nur dieser sehr eindeutig eine Emotion provozierende Moment ist da und die verbreitete Reaktion: Ich habe Mitleid mit einem Vieh, die ist sehr einfach angelegt.

A.B.: Ich bin mir nicht so sicher, ob wir über Neutralität sprechen können. Ich glaube die Frage oder der Diskurs, ob der Dokumentarfilm neutral ist, ist passé. Wenn man sich cinephiles Schreiben über den Dokumentarfilm ansieht, dann wird da eigentlich fast nie über die vermeintlich unfassbare Objektivität von,sagen wir, Frederick Wiseman gesprochen, sondern es wird eigentlich immer über eine Haltung gesprochen. Eine Haltung, die man dem abgefilmten Objekt oder der abgefilmten Welt gegenüber einnimmt. Für mich wäre es also eine Frage nach der je individuellen Haltung und nicht nach einer vermeintlichen Neutralität.

P.H.: So verstehe ich Neutralität ja auch, als eine Haltung. Das ist etwas in der Subjektivität angelegtes. Wir sind uns ja einig, dass es keine Objektivität gibt, aber Neutralität ist eine Entscheidung, ein Bestreben, das man eben sehr wohl bei Leuten wie Frederick Wiseman oder Raymond Depardon sieht, die ja Vorbilder sind von Seidl, offensichtlich. Die sagen, dass sie sich zurücknehmen mit ihrer eigenen Haltung so gut es geht und genau das ist dann ja eine Haltung. Man kann auch eine subjektiv neutrale Haltung einnehmen, finde ich.

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K.M.: Ich kann da nicht so zustimmen. Wir reden ja von einem Dokument der Extreme sozusagen, einer Extremsituation. Wenn man jetzt Vergleichsmomente herholen wollte, wäre es wahrscheinlich sinnvoll, sich Kriegsberichterstattung anzusehen und sich zu überlegen wie das funktioniert. Und um aus diesem Haltungsaspekt herauszukommen, könnte man sich ja fragen, was der Film denn zeigt. Also wenn man sich jetzt auf das Thematische fokussieren will – und ich will das vorsichtig formulieren: Als Grundsetting handelt Safari von moralischer Gefühlslosigkeit. Dann stellt sich die Frage, wie ich das besser rüberbringe: Mache ich einen Film über moralische Gefühlslosigkeit moralisch gefühllos, formal, oder mache ich es deutlich durch den Kontrast mittels eines Bruchs oder zweier Brüche, die wir gesehen haben. Das könnten wir auch Neutralität nennen. Bringe ich Neutralität besser via „Neutralität“ oder bringe ich Neutralität überhaupt erst dadurch zur Sichtbarkeit, dass es Brüche damit gibt?

A.B.: So würde ich das auch sehen und für mich ist der Seidl-Film voller genau solcher Brüche. Zum Beispiel, wenn er sich nach der Großjagd nicht dafür entscheidet, mit den Damen und Herren in den Salon zu gehen und dort anzustoßen, sondern wenn er sich dafür entscheidet, zurückzubleiben und zu zeigen wie die dort lebenden Schwarzafrikaner dieses Tier auseinander nehmen, um zu zeigen, wer die Drecksarbeit macht, dann ist das in keinstem Fall eine Neutralität, sondern der Versuch, in diese Bilder, die von diesen Personen eingenommen werden und denen Seidl ja auch einen gewissen Raum einräumt, Brüche einzufügen. Ich verstehe trotzdem, warum man mit dem Begriff der Neutralität arbeitet, weil Seidl ja selbst in Interviews sagt, dass die moralischen Probleme der Zuschauer eben die moralischen Probleme der Zuschauer sind.  Das habe mit ihm nichts zu tun. Aber das hat natürlich mit ihm zu tun, das hat spätestens mit ihm zu tun, wenn dann plötzlich, wie Patrick vor dem Gespräch schon gesagt hatte, der Ton an einem Jäger so aufgedreht ist, dass ich höre wie er sein Bier verdaut…

P.H.: Wenn der Ton überhaupt so da war…

A.B.: Es gibt einfach immer wieder Stellen, wo man überhaupt nicht von Neutralität sprechen kann. Deswegen würde ich die Frage einer moralischen Position, wenn überhaupt, darin sehen: Wie verhalte ich mich eigentlich zu den Leuten? Wie verhalte ich mich zu dem gesellschaftlichen Diskurs, der um die Leute herum existiert? Das ist für mich keine Neutralität, sondern eine moralische Haltung und das ist auch eine subjektive Haltung. Daher wäre der Vergleich mit Brüder der Nacht ja für mich so interessant. Weil Chiha ja Leute filmt, nämlich junge Männer aus Bulgarien auf dem Schwulenstrich in Wien, also vor allem in einem Lokal. Und das sind Leute, deren gesellschaftlicher Status, also auch deren Zugang zur Eigenrepräsentation und Selbstdarstellung viel kleiner ist als bei den Leuten, die Seidl filmt. Und Chiha wählt einen ganz anderen Ansatz, weil er nicht einmal sagt: Ich möchte neutral sein. Weil er nicht einmal sagt: Ich möchte euch die Sache so zeigen wie sie ist. Sondern der was ganz anderes macht und sagt: Ich lasse die Leute erzählen, aber ich kleide sie visuell in etwas ein, was das ganze auf eine ganz andere Ebene bringt. Nämlich das Sprechen über die sexuellen Akte, über die Perversitäten, die da zwischen Geld und Sexualität stattfinden, also so was wie die Ökonomisierung der Sexualität … diese Dinge bricht er auf, in dem er ihnen einen fast mythischen Status gibt. In einer Reihe der Kinogeschichte mit Genet, Fassbinder …

P.H.: Anger.

A.B.: Genau.

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K.M.: Die Kapitalisierung von Sexualität lässt sich ja bei Seidl durchgehend beobachten. Um da noch mal einen kleinen Kontext aufzumachen. Die Stellungnahmen aus der österreichischen Presse zu Safari, die sich ja da sehr auf dieses Sexthema geworfen haben und gesagt haben, dass die Jagd ausschließlich ein sexuelles Symbol ist.

A.B.: Ein sexueller Akt, ja…

K.M.: Als sexueller Akt erfahrbar, ja. Ich glaube, dass es schon darüber hinausgeht.

A.B.: Aber es ist schon verständlich, dass die Presse darauf anspringt. Das legt er an. Er will, dass wir denken, der Schuss ist der Koitus und die Erleichterung und die Familie findet wieder zueinander.

K.M.: Ja, klar. Natürlich. Ich habe ganz stark immer wieder diese Jagdszene aus La Règle du jeu von Jean Renoir in Seidl gesehen.

A.B.: Wo sie den Hasen jagen?

K.M.: Ja, mehrere Hasen. Und Vögel und alles Mögliche. Der Film ist ja aus dem Jahr 1939, ja? Im Frühjahr sozusagen, wo Renoir sich ja später dann auch geäußert hat und gesagt hat, dass er gespürt hat, dass Krieg kommt, aber er hatte einen Film drehen wollen, der Krieg nicht thematisiert. Und ich finde es bezeichnend aus dem heraus, dass sich die Presse auf Sex einschießt, wo sie sich aber genauso gut, wie sonst in vielen anderen Kategorien derzeit, eben auf Krieg einschießen könnte. Ich finde das ein ganz entscheidendes Moment. Ich glaube es geht hier auch um den Geisteszustand einer Gesellschaft. Das liegt noch mal eine Ebene über moralischen Befindlichkeiten. Da geht es auch um eine universelle Annäherung an einen gesellschaftlichen Geisteszustand. Wir sehen da ja jetzt nicht nur Dinge, die uns so fern sind. Wir drei hier würden jetzt vielleicht nicht da runter fahren und unser Geld verbraten, um Tiere zu erlegen. Wir würden schon allein metasprachlich darüber diskutieren und das Tier würde das ausnützen, um aus unserer Sicht zu verschwinden. Wir würden es schon verfehlen, weil wir darüber reden würden, ob das jetzt ein Tier oder ein „Stück“ ist. Wir wären wahrscheinlich nicht kompetent genug oder „effizient“ genug, ein Tier zu erlegen. Es klingt ein bisschen esoterisch, aber ich sehe da eine Allegorie auf Zustände in dieser Welt. Und das ist ja kein neues Thema, diese Jagd. Das ist auch nicht mehr und auch nie nur das Thema einer Oberschicht gewesen. Das ist auch ein Thema der Mittelschicht, auch ein Thema der Unterschicht. Da ist vielleicht auch noch mal eine Differenz zu Renoir. Weil, was sind das für Leute bei Seidl? Das ist das bürgerliche Publikum, aber auch das „proletarische“ Klientel, das dort sitzt und sich vorlesen lässt, was kostet was, können wir uns das leisten? Die Frage der Klasse ist eine ganz wesentliche Frage auch  hier. Auch das hat Safari unglaublich gut gelöst, weil die erste Assoziation, wenn es darum geht, wer nach Afrika fährt um Tier zu schießen, ist so eine bürgerliche Schicht, aber da gibt es Leute, die da hinfahren und die haben nicht so viel…

P.H.: Wenn ich mich nicht täusche, ich bin mir aber gar nicht sicher, überlegen die sich aber nicht was es kostet, sondern die zählen auf wie viel sie bekommen, wenn sie das oder das erschießen. Wie viel ist ein Reh wert? Und so weiter.

K.M.: Möglich. Meines Erachtens bezieht sich die vorgelesene Liste auf zu entrichtende Abschussgebühren.

P.H.: Aber für mich sind das zwei bürgerliche alte Leute. Zumindest sind sie nicht als Proletariat gekennzeichnet.

A.B.: Das sind auf jeden Fall keine Leute mit einem bürgerlichen Bildungshintergrund.

K.M.: Also nicht Bildungsbürgertum sozusagen.

P.H.: Aber jetzt keine arme Arbeiterklasse.

A.B.: Nein das nicht. Es geht eher um deren kulturelle Bildungsherkunft.

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K.M.: So die „klassischen“ Klassen gibt es vielleicht auch nicht mehr. Vielleicht hier eher eine sich vergrößernde Mittelschicht. Das macht es schwierig, das auf eine Klasse zu schieben. Und das ist ein großes Verdienst dieses Films. Dass du eben nicht mit dem Finger auf „diese anderen dort“ zeigen kannst. Du kannst jetzt grundsätzlich nicht mehr unterscheiden zwischen Aristokratie und Working Class Heroes, und dabei eine sich weitende Mitte auslassen; aber ich glaube zumindest innerösterreichisch, dass sich die hier jeweils dargestellten Milieus voneinander distanzieren würden. 

P.H.: Zur Jagd noch mal etwas, also die ersten Bilder, die es überhaupt gibt, sind ja hauptsächlich Bilder der Jagd, also ich denke da an die Höhlen von Lascaux zum Beispiel.  Daran hängt ja schon diese Idee des Präsentierens dessen, was man da erlebt hat, man zeigt das, man verarbeitet es und hebt es irgendwie auf ein anderes Level und so weiter. Ich wollte das nur anfügen, weil ich finde zwar, dass Renoir ein schönes Beispiel ist, ich verstehe, auf was du hinauswillst, aber Jagd so als Thema oder das Töten von Tieren … also ich meine, man muss ja nur an diesen Edison-Film denken mit dem Elefanten, der da getötet wird … also das ist ja einfach eine Faszination mit diesem Widerspruch aus Anonymität und Erobern, dieses über etwas stehen und so weiter und ich verstehe diese postkoloniale Metaphorik am Ende von Safari auch in diese Richtung.

K.M.: Bei Renoir ging es mir ja einfach um dieses Gefühl kurz vor dem Krieg 1939. Das ist eine Zeit, die zu Recht oder zu Unrecht immer wieder in Analogie gesetzt wird mit dem Jetzt. Da geht es dann ja auch um eine starke Form von Kapitalismuskritik, die es bei Seidl vielleicht nicht so explizit gibt, aber es gibt sie. Und eben auch, weil ich formal eine absolute Ähnlichkeit gesehen habe.

P.H.: Das verstehe ich zum Beispiel nicht.

K.M.: Ich weiß jetzt nicht, ob der Seidl den Film gesehen hat und mal abgesehen davon, dass die Szene bei Renoir eine sehr flinke ist, aber wenn man das in Slow Motion macht…

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A.B.: Das hat ja Godard in seinen Histoire(s) du Cinéma gemacht. Da sieht man ja die Erschießung des Hasen immer in Zeitlupe.

P.H.: Aber genau deswegen frage ich nach, weil du siehst bei Seidl ja nie den Einschuss in das Tier, das ist ja immer Off Screen und du siehst nie eine Einstellung, in der das Tier läuft. Das ist ja genau der Unterschied. Er hat ja auch gesagt, dass es ihm ganz bewusst darum gegangen ist, nicht die Tiere zu filmen, die dort weglaufen, sondern die Menschen, die diese Tiere erschießen.

K.M.: Ich habe das in einem anderen Sinn gemeint, nämlich insofern, als du hinter der Kamera gewissermaßen auch dem Bild hinterher jagst. Es gibt ja noch eine Meta-Jagd. Also die Jagd auf das dargestellte Tier, aber auch die Jagd nach dem „richtigen“ Bild, nach dem Bild der Entsprechung. Außerdem kann man natürlich darüber diskutieren, ob dadurch, dass man diese Tiere nicht laufen sieht, ob man sie dadurch wirklich weniger laufen sieht. Also ich glaube, dass die Aussparung schon einen Effekt hat …

P.H.: Aber formal ist das völlig unterschiedlich. Es ist ja auch eine Handkamera hier und eine statische dort und so weiter.

A.B.: Es geht ja auch nicht um eine formale Ähnlichkeit, sondern es geht darum, dass die Jagd 1939 einen Bezug zur gesellschaftlichen Situation hergestellt hat, den man vielleicht auch in Safari sehen könnte jenseits dessen, was sozusagen die Filmkritik schreibt, dass es nämlich etwas Sexualisiertes ist.

P.H.: Aber wir haben gerade über eine formale Ähnlichkeit gesprochen, die ich nicht sehe und ich finde auch, dass Form und Politik beziehungsweise Form und diese gesellschaftlichen Situationen zusammen gehören.

K.M.: Vielleicht sollten wir einfach kurz reinschauen. Ich finde einfach, dass die Kamera, jetzt mal egal ob statisch oder bewegt, natürlich macht das einen großen Unterschied, aber die Kamera geht sowohl bei Seidl als auch bei Renoir, auch wenn es dort nur eine kleine, emblematische Szene ist, den Jagenden hinterher. Und das gibt es bei Seidl und Renoir. Vielleicht würden mir auch andere Jagdszenen einfallen, aber ich bin eben aus dem gesellschaftspolitischen Kontext auf Renoir gekommen. Die Kamera jagt also sozusagen den Jagenden und das wollte ich mit dem Moralischen verknüpfen. Es gibt ja so eine Rückendeckung der Kamera, ein Mitgehen in den Tötungsakt, auch wenn der Tötungsakt nicht gezeigt wird … ist das so klarer?

P.H.: Ja.

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K.M.: Lascaux finde ich da ein wichtiges Detail, weil es davor schützt, jetzt alles auf Kapitalismus und „die Leute haben zu viel Geld“ zu münzen, aber da gibt es für mich halt schon eine große Parallele. Es ist Krieg, aber Leute vergnügen sich. An anderer Stelle, aber mit kriegerischeren Aktionen sozusagen. Klar, man sieht bei Renoir die Tiere und wie sie getroffen werden, man sieht aber auch bei manchen nur die toten Tiere, also das gibt es auch. Das finde ich schon relevant, auch wenn du vollkommen recht hast und es ein formaler Unterschied ist, wo ich aber dazu tendieren würde zu fragen, ob wenn du den Tötungsakt nicht siehst, er dadurch nicht sogar weniger „neutral“ ist? Was wir nicht sehen, stellen wir uns vor, möglicherweise. Das drängt uns dadurch vielleicht auch in eine andere Form der Mittäterschaft. Ich weiß nicht wie es euch gegangen ist, aber man steht da hinter diesen Leuten und die zielen auf etwas. Was macht man? Man sucht nach dem Tier im Bild, oder?

P.H.: Kommt darauf an. Eher die Reaktion von diesen Leuten. Wie sie da warten, atmen, weinen, sich in die Arme fallen, das ist schon sehr interessant, ich war schon sehr bei den Jägern. Wie sie auch reden in dieser euphemisierenden Jägersprache. Und dieser Moment nach dem Schuss. Der Augenblick vor und nach dem Schuss. Ich war da, dadurch, dass die Kamera da war.

A.B.: Entscheidend scheint mir zu sein, ob sich Seidl für das interessiert, was die Jäger fasziniert oder interessiert sich Seidl für die Jäger? Und ich glaube, er interessiert sich eben für die Jäger. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er deren Faszination für das Jagen teilt und ich würde auch sagen, dass Renoir die nicht geteilt hat. Ich glaube, Renoir ging es um etwas anderes. Ich glaube, Renoir ging es darum zu sagen: es wird Blut fließen. Es werden Lebewesen sterben. Das gibt es vielleicht auch bei Seidl, aber ich glaube, Seidl möchte eigentlich herausfinden, so kam es zumindest mir vor, was fasziniert die Leute, an dem, was sie da tun. Und das, was sie tun, kennen wir alle, deshalb muss man das nicht explizit zeigen, sondern man muss sie zeigen und ihre Reaktionen.

K.M.: Aber da gibt es für mich noch ein Zwischenbild zwischen diesen beiden Formen, zwischen auf die Tiere sehen oder nicht sehen. Im Film gibt es ja auch das Bild, in dem wir als Zuschauer ganz frontal gegenüber diesem Jagdhaus, diesem Hochsitz platziert sind. Wir sehen da keinen Menschen, keine Tiere, wir sehen nur den Schuss, also wir sehen natürlich nicht den Schuss, aber wir sehen wie dieser Hochsitz kurz bebt. Habe ich das richtig empfunden, dass das ein direkter Schuss auf die Kamera ist?

P.H.: Der Lauf des Gewehrs zeigt schon in die Kamerarichtung ungefähr.

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K.M.: Aber wie geht es dir damit, mit diesen Zwischenbildern?

P.H.: Also ob diese Bilder so eine Gewalt im Sinne von „Es wird Blut fließen“ in sich tragen?

K.M.: Oder ganz grundsätzlich … was macht das mit dir? Oder hat das für dich keine Funktion?

P.H.: Für mich funktioniert das ähnlich wie viele andere Zwischenbilder im Film, also dieses Bietrinken, auf der Liege liegen und so weiter.

K.M.: Aber du siehst ja keine Menschen hier.

P.H.: Ja, das ist klar. Aber ich sehe ein Gewehr, das offensichtlich von einem Menschen gehalten wird. Für mich geht es da auch um den Prozess des Jagens. Sowohl die Absurdität davon, als auch die Zeit, die es braucht. Durch so eine Szene spüre ich die Zeit, man wartet, dann gibt es irgendwann einen Schuss. Aber du hast schon Recht. Es greift auch ein bisschen an. Es ist aber spannend, jetzt haben wir gesagt, dass er sich für die Jäger interessiert, aber irgendwie bei Seidl, da stelle ich mir immer irgendwann die Frage: Was sind das für Menschen? Und bei so was wie Brüder der Nacht, da stelle ich mir diese Frage nicht, da sage ich irgendwann einfach: Das sind Menschen. Das ist für mich da immer der Unterschied.

K.M.: Das hatte ich gar nicht. Ich hatte das Gefühl, dass ich viele solcher Leute kenne. Die gehen jetzt vielleicht nicht auf die Jagd, aber die gehen halt zumindest Tiere schauen und fliegen nach Südafrika zum Golfspielen und jagen einem anderen Loch hinterher.

P.H.: Aber sind das Menschen, wenn du über die nachdenkst…

K.M.: Ob ich mich damit identifizieren kann, nein, ich kann mich nicht mit ihnen identifizieren…

P.H.: Nein, ich finde einfach der Ansatzpunkt ist so unterschiedlich. Brüder der Nacht zeigt uns Menschen, von denen wir erst sehr fern scheinen, die dann aber sehr nahe sind mit ihren Sehnsüchten, ihren Problemen. Und bei Seidl habe ich jetzt nicht erwartet, dass diese Menschen sehr fern von mir sind. Natürlich kennen wir solche Leute. Aber irgendwie entfernen die sich immer von mir bei Seidl.

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K.M.: Unbedingt, das teile ich. Zumindest bleibt der Abstand derselbe. Oder es wird ein Bewusstsein über diesen Abstand noch mal virulent. Das Erschreckende, finde ich, ist, dass man diese Menschen kennt und man ist selbst vielleicht gar nicht so weit weg davon.

A.B.: Ich bin mir da nicht so sicher, ehrlich gesagt. Natürlich können wir jetzt sagen, dass sich da keine Nähe entwickelt über einen Seidl-Film …

K.M.: Es gibt schon eine, sonst wäre nicht dieses Schamgefühl da.

A.B.: Und es hängt ja auch wirklich davon ab, wer ich selber bin. Für mich hat das mit dem Film nicht so viel zu tun, ich glaube, dass man sich den Film auch durchaus ansehen kann und sich diesen Leuten nahe fühlen kann oder ihnen auch näher kommt. Und in gewisser Weise muss ich sagen, gibt es einfach einen Unterschied, ob ich glaube etwas verstanden, durchdrungen zu haben oder ob ich es dann sehe. Das erzeugt dann eine gewisse Form der Nähe. Das ist keine Nähe der Empathie oder Sympathie, sondern es ist eine Nähe zumindest mal zu sehen, was die Leute daran reizt. Das ist für mich eine Annäherung an diese Person. Nicht insofern, dass ich dann irgendwann mit denen besser klarkommen werde, aber es ist zumindest … es ist schwierig in Worten zu fassen. Aber, dass das für Leute eine sexuelle Funktion haben kann, dass das für Vater und Sohn die Funktion haben kann, dass sie zueinander finden… ,also es gibt lauter Funktionen, weil da ja lauter so grundsätzliche, nicht direkt mit der Jagd in Verbindung stehende Problematiken sind, das Familiäre, das Sexuelle , die da plötzlich in das Jagen hineinkommen, kommen mir die Leute plötzlich näher. Das bedeutet nicht, dass ich das gleiche Ventil wählen würde. Interessant ist aber trotzdem, dass diese Dinge darin verhandelt werden. Ich habe mich davor nicht mit Jagd beschäftigt, aber das war für mich interessant zu erkennen, also dieses „Warum machen die das eigentlich?“. Und dieses „Warum?“ nicht in so einem trivialen Sinne, sondern „Was holen sie sich da raus?“. Das war für mich eine Erkenntnis und so verstehe ich diese Menschen vielleicht etwas besser.

K.M.: Wo es in diesem Kontext ja auch so eine perfide Annäherung gab oder so eine Analogisierung war zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen. Eben zum Beispiel bei diesen Verdauungsgeräuschen … das hat ja etwas …

A.B.: …kreatürliches…

K.M.: Ja, genau. Da entsteht aber auch ein Teil dieser Ambivalenz. Wenn das Jagende dem Gejagten angenähert wird. Da gibt es ein paar Momente. Eben auch mit den Menschen, die dann fast kannibalisch das Ausgenommene verzehren. Das ist ja eine Aufbereitung ganz ähnlich, ich weiß nicht, ich habe immer an „die Menschenfresser“ denken müssen.

P.H.: Und diese Doppelung der Jagd, von der Katharina gesprochen hat mit Kamera und Gewehr, die wird dadurch sehr deutlich. Diese tierischen Menschen sitzen da ja auch im Bild, also dieses Kittler-Argument, die Kamera als Schussgerät. Ich verstehe ja die Ambivalenzen, von denen ihr sprecht, ich bekomme die auch, aber ich habe trotzdem zu sehr das Gefühl, dass da Menschen vor dieser Flinte der Kamera sind und mir fehlt da irgendwas, was dazwischen geschoben wird, wie zum Beispiel das Licht, über das wir am Anfang gesprochen haben. Oder auch das Spiel, die Chance auf einen Ausbruch…

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A.B.: Es ist Dir zu direkt?

K.M.: Oder im Sinne einer Erlösung? Weil der Begriff „Erlösung“ kommt ja immer wieder vor interessanterweise. Da sagt glaube ich die Tochter: „Es ist ja immer eine Erlösung für die Tiere.“ Da gibt es dann diese Rechtfertigung, die dann wieder negiert wird von einer anderen Figur. Meinst du Ausbruch im Sinne einer Erlösung?

P.H.: Es war schon eher auf das Direkte bezogen. Wang Bing ist ein Filmemacher, der da für mich ein gutes Beispiel ist. Der ist bei mir immer entweder viel zu direkt oder genau richtig. Manchmal scheint er einfach draufzuhalten mit der Kamera, um mir die ganze Gewalt, das ganze Leid von Menschen und Situationen zu zeigen und natürlich ist das relevant, aber mir fehlt da was. Und dann gibt es Filme wie einen seiner neueren, Ta‘ang, in dem es um Flüchtlinge aus Myanmar geht und er folgt denen. Und da gibt es eine lange Sequenz, in der einige Menschen am Lagerfeuer miteinander sprechen und er filmt das durch das Feuer hindurch und zeigt uns eigentlich, dass das die Helden unserer Zeit sind, das sind die großen Geschichten, die Träume. Und weil wir den Begriff vorher schon mal hatten: Ich sehe darin mehr Haltung. Das ist so ein schmaler Grad zwischen dem Ausstellen und diesem Gewissen in der Kamera. Und wir haben ja diskutiert, dass Seidl dieses Gewissen schon hat, ich bleibe auch dabei, dass es ein möglichst neutrales Gewissen gibt, aber er zeigt uns das eigentlich weniger in den einzelnen Bildern, sondern er macht das in der Montage, in der Entscheidung, etwas nicht zu zeigen, aber in den einzelnen Bildern zeigt er mir immer sehr frontal, ja fast obszön etwas. 

K.M.: Aber ist es deshalb kein Gewissen?

P.H.: Nein, nein, ich glaube ihr wisst schon, was ich ungefähr sagen will …

K.M.: Aber wir haben uns ja schon darauf geeinigt, dass der Film moralisch, formal vertretbar ist. Vielleicht vertretbarer als manche Filme davor von Seidl.

A.B.: Das hätten wir vielleicht einfach auch am Anfang dieses Gesprächs festhalten müssen, dass es ein gigantischer Unterschied ist, ob du über sehr wohlhabende Österreicher und Deutsche in Afrika einen Film machst oder ob du über bulgarische Arbeitsmigranten in Österreich einen Film machst. Das ist eine völlig andere Position. Das war vielleicht das einzig wirklich Intelligente, was sie einem an der Journalistenschule mitgegeben haben: Die Wahl der Waffen richtet sich auch immer nach dem, auf was man schießen will, um mal im Jagdjargon zu bleiben. Da könnte man jetzt sehr einfach sagen: Wenn ich über sehr gut situierte Menschen, die  gesamtgesellschaftlich betrachtet in relativ mächtigen Positionen sind, einen Film mache, gehe ich mit anderen Werkzeugen da ran, als an jemanden, der gesellschaftlich völlig marginalisiert ist, der wirklich in den Schatten lebt und der überhaupt keine Instanz hat, die ihn repräsentieren kann. Da gehe ich natürlich viel vorsichtiger und viel sensibler ran, als wenn ich an reiche, selbstverliebte Leute rangehe.

K.M.: Man könnte da natürlich fragen, was es Verwerfliches an dem Ausstellen gäbe? Das Verwerfliche ist vielleicht, dass die im Sich-selber-Sehen etwas an sich selber nicht sehen.

P.H.: Ich tue mir schwer, weil ich das Ideal halten will, dass das alles Menschen sind. Egal ob arm oder reich. Und Seidl scheint mir nicht so viel Unterschied zu machen mit den Waffen in seiner Filmographie. Und gerade, wenn so jemand wie Renoir als Beispiel im Raum steht, jemand, der in meinen Augen arm und reich immer sehr gleich behandelt hat, gleich gefilmt hat. Ich verstehe ja, dass die Waffen womöglich andere sind, wenn man reiche Leute filmt, aber mein Ideal ist, dass ich erst mal den Menschen dort sehe, nicht, dass er reich ist.

A.B.: Da müsste man dann ja eigentlich über ganz andere dokumentarische Positionen auch sprechen.  Helga Reidemeister fällt mir da ein, die  ja immer wieder Filme macht über Leute, die  innerhalb ihres Weltbildes nicht unbedingt die positivst konotierte Position haben. Wenn sie zum Beispiel einen Film über die Münchner Schickeria anhand ihrer Schwester, die Model ist, macht und so weiter. Dass Interessante ist aber, dass diese Filme den Prozess dokumentieren, wie sie erkennen muss, dass ihre Vorurteile und die Klischees, die sie über die Münchner Schickeria hatte zumindest in Ansätzen nicht korrekt sind.. Das ist aber eine ganz andere Art des Filmemachens, wo es tatsächlich darum geht, zuzusehen, wie der Filmemacher im Laufe des Films eine neue Position einnimmt. Seidl versucht, glaube ich, tendenziell nicht zu markieren, was das mit ihm macht. Und Brüder der Nacht ist dann ein Film, der von der ersten Einstellung an markiert, dass es nicht um die Realität geht, es geht nicht um diese Leute, sondern um das, was diese Leute in jemandem wachrufen, der aus dem Kino kommt, der mit Ikonographien der Queer-Ikonen vertraut ist und der dann auf diese Leute trifft. Da geht es mindestens genauso stark um den Blick des Filmemachers wie es um die Personen geht und bei Seidl ist es halt eine radikale Direktheit…

K.M.: … die für mich nicht nur markiert, sondern eine Form von Einsicht ist.

A.B.: Da sind wir dann wieder beim Licht. Da kannst du jedes Detail sehen auf dieser Bühne bei Seidl. Wie in der Fotografie mit den Ringblitzen, um einfach jedes Detail im Gesicht noch hervorzuheben und jegliche Spur eines Schattens aus dem Bild zu verbannen. Und natürlich kommen da immer schreckliche Bilder raus.

K.M.: Ein Wort dafür wäre eben Einsicht. Ich finde, dass das Ausstellen nicht gelöst zu denken ist vom Einsehen.

Film Lektüre: Heimat von Burcu Dogramaci

Heimat von Burcu Dogramaci

There’s no place like home. Nirgends ist es so schön wie zuhause. Im Deutschen hat dieses Gefühl, dass man mit dem Zuhausesein verbindet einen eigenen Namen, der nur unzureichend in andere Sprachen übersetzt werden kann. Heimat ist zu einem bedeutungsschwangeren Begriff geworden, der sich nicht nur schwer übersetzen lässt, sondern sich auch in vielerlei anderer Hinsicht einer Definition entzieht. Die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci hat sich in ihrem Buch Heimat. Eine künstlerische Spurensuche, das soeben im Böhlau Verlag erschienen ist, deshalb daran gemacht verschiedene Zugänge auszuloten, wie mit Heimat als Begrifflichkeit umgegangen werden kann. Gerade nach den Ereignissen der letzten Monate ist das ein kühnes Unterfangen. „Heimat“ ist immer mehr zur Worthülse nationalistischer Parteien geworden, die damit Abgrenzungspolitik gegenüber einer ominösen fremden Gefahr betreiben. Dogramacis Buch kommt da gerade recht, denn sie versammelt eine ganze Reihe von Gegenentwürfen im Umgang mit Heimat, die denkbar wenig mit rechtspopulistischer Rhetorik zu schaffen haben. In erster Linie orientiert sie sich dabei an fotografischen Arbeiten der letzten rund sechzig Jahren. Diese kunsthistorische Perspektive möchte ich um einige Querverbindungen zu filmischen Beispielen erweitern.

Der Abend von Caspar David Friedrich

Der Abend von Caspar David Friedrich

Heimat kann als geographische Verortung begriffen werden, als nostalgische Kindheitserinnerung oder als Traditionspflege, die volle Bedeutungsvielfalt des Wortes zu begreifen fällt jedoch schwer. Ebenso schwer fällt es Heimat von verwandten Begriffen wie Identität und Herkunft zu unterscheiden (Dogramaci selbst nimmt keine klare Trennung vor). Heimat ist all das und noch viel mehr, ist gleichsam subjektive Kategorie (für jeden bedeutet Heimat etwas anderes) und gemeinschaftlich geteilt (jeder hat eine bestimmte Vorstellung von Heimat). In der Heimat sind wir verwurzelt, der Heimat sind wir verpflichtet, und umso mehr wird Heimat zu einem problematischen Begriff, wenn sie nicht ist. Heimatlosigkeit und fehlende Verwurzelung sind eine Geisel unserer Zeit. Millionen Menschen verlassen ihr Zuhause, um in einer globalisierten Welt an anderer Stelle ihr Glück zu suchen. Mehr schlecht als recht versuchen sie an neuen, fremden Orten an Bräuchen ihrer alten Heimat und Kultur festzuhalten, sind aber gleichzeitig dazu gezwungen eine neue Heimat zu begründen. Manchen gelingt das – sie schaffen sich eine neue Heimat, meist ein Amalgam aus altem und neuem Umfeld – viele scheitern daran und leben fortan im Limbo, in einem kulturellen Vakuum, ohne Identität, ohne Geschichte, ohne Zukunft. Ihre Kinder wachsen in diesem Vakuum auf und fühlen sich nicht heimisch, die ursprüngliche Heimat ihrer Eltern ist ihnen meist ebenso fremd. Wer am lautesten mit dem Versprechen auf Identität und Gemeinschaft um ihre Aufmerksamkeit buhlt, findet willige Anhänger. Wer sich nicht zurecht findet in einer komplexen, verwirrenden Welt ohne Bezugssysteme, der lässt sich leicht von eindeutigen Botschaften ködern.

Auf der anderen Seite jene, die in den Staaten der „Westlichen Welt“ am wenigsten von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten einhundertfünfzig Jahre profitiert haben. Sie fühlen sich ebenfalls bedroht, können nicht mehr mit der Veränderung in der Welt schritthalten und klammern sich deshalb an die Heimat von Gestern und Vorgestern, die sie bedroht sehen. Sie wollen zurück in diese vermeintlich bessere Zeit, oder zumindest die Abwärtsspirale stoppen. Es ist die Heimat, die von rechtsgerichteten Konservativen beschworen wird und sich aus überholten Kategorien wie Nation, Vaterland und Tradition zusammensetzt. Sie lassen außer Acht, dass Heimat prozessualer Natur ist, und uns nur deshalb so stark prägt, weil sie sich immerzu verändert und an unsere Lebensumstände anpasst. Wer mit dieser Veränderung nicht mithalten kann, wird ebenfalls zum Heimatlosen. Auch diese Heimatlosen folgen in ihrer Suche nach einer neuen Heimat den verlockenden Rufen der einfachen Antworten, die es natürlich in einer komplexen Welt nie geben kann und auch nie gegeben hat. In beiden Fällen sind die Suchenden eines neuen Heimatgefühls leichte Opfer für die Rekrutierungspraktiken radikaler Strömungen.

Denkt man über Heimat nach, eröffnet sich also schnell ein unüberschaubares Feld und doch gelingt Dogramaci auf schlanken 180 Seiten der Versuch verschiedene Formen der künstlerischen Aufarbeitung von Heimat nachzuvollziehen und miteinander in Verbindung zu bringen. Es geht ihr dabei weniger um eine erschöpfende Aufzählung, sondern um eine Annäherung anhand einer begrenzten Anzahl von Beispielen, die durch ihre Gegenüberstellung neue Einsichten ins unüberblickbare Bedeutungsfeld „Heimat“ bieten. Verschiedenen Nuancen des Heimat-Begriffs werden Kapitel für Kapitel abgearbeitet. Auf den ersten Blick wirken sie recht isoliert voneinander, doch immer wieder tauchen ähnliche Fragen und Problemstellungen auf. Es ist eine dialektische Herangehensweise; das größte Potenzial des Buchs findet sich in den Leerstellen zwischen den Kapiteln, dort wo sie aufeinander stoßen, zueinander sprechen und tiefere Einsichten entstehen. Eindeutig zu trennen sind die verschiedenen Bedeutungsebenen ohnehin nicht.

An diesem Punkt könnte man zurecht fragen, was das alles mit unserem Blog und unseren sonstigen Texten zu tun hat. Die Antwort dazu findet sich nicht direkt im Buch, sondern im Gedankenkomplex, der sich beim Durchlesen eröffnet. Dabei geht es mir weniger um filmische Beispiele, die Dogramacis Argumentation, die sich größtenteils auf fotografische Arbeiten stützt, untermauern oder ergänzen, sondern um Fragen der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Eines der Themen, das Patrick und mich in unseren Gesprächen regelmäßig beschäftigt ist die Frage nach den ökonomischen Zwängen von Filmemachern und wie diese ihr Filmschaffen prägen beziehungsweise wie sehr die Masse an Filmemachern sozial vorselektiert wird. Film ist eine vergleichsweise teure Beschäftigung. Einen Film zu drehen verlangt nach größerem Einsatz von Mensch und Material als andere Kunstformen. Das führt dazu, dass Filme (vor allem jene, die uns interessieren, die also nicht in einem kommerziellen, industrialisierten System entstehen) in der Regel von denen gedreht werden, die es sich leisten können, von jenen, die jahrelang für wenig oder gar kein Geld an Filmsets Erfahrung sammeln, Filmschulen besuchen, Förderanträge schreiben und auf Förderzusagen warten. Es gibt sehr wenige Filmemacher aus armen Verhältnissen, die ohne zuvor auf anderen Wegen zu Wohlstand gekommen sind (z.B. als Schauspieler: Chaplin, De Sica) Filme drehten und das Leben aus ihrer Perspektive schilderten. Ausnahmen wie Chantal Akerman sind verbissene Kämpfernaturen, die quasi ohne eigene Bedürfnisse ganz für ihre Kunst leben. Ähnlich verhält es sich mit der Perspektive der „Heimatlosen“. Auch sie sind unterrepräsentiert, da für sie der Zugang zu den Produktionsmitteln erschwert ist. Diese beiden Probleme sind natürlich miteinander verschränkt, da gerade in den unteren Einkommensschichten verhältnismäßig viele Menschen mit Migrationshintergrund zu finden sind. Es wäre im Interesse der Entwicklung der Filmsprache, dass sich diese Schieflage verändert, auch wenn es im Moment eher so aussieht als würde sich die soziale Selektion noch verstärken. Der Vielzahl an filmischen Unternehmungen zum Trotz, die sich in Form von anthropologischen Studien oder Traveloges von außen den Problemen der Heimatsuchenden und Mittellosen annehmen, fehlt es am spezifischen zweigeteilten Blick des Heimatsuchenden, der die Innen- und die Außenperspektive, das Verhältnis von Heimat und Fremde in sich vereint.

Rodina von Irina Ruppert

Rodina von Irina Ruppert

Ohne der Kapiteleinteilung Dogramacis zu folgen kann man grob fünf verschiedene, ineinander greifende Bereiche ausmachen, die sich in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Heimat ergeben: Landschaften/Orte, Nationale Identität/Pass, Bevölkerung/Bezugspersonen, Kultur/Sprache/Geschichte, Wohnstätte/Heim.

Heimat als geographischer Bezugspunkt

Gleich zu Beginn des Buchs merkt Dogramaci an, dass auffallend viele künstlerische Auseinandersetzungen mit Heimat, fern von dieser unternommen wurden. Literaten wie Heinrich Heine oder Max Frisch wurden sich erst im Ausland bewusst, wie stark ihr Denken von ihrer Heimat geprägt ist. Künstler mit wechselhaften Lebensläufen und –geschichten, wie die in jungen Jahren von Kasachstan nach Deutschland emigrierte Fotografin Irina Ruppert setzen sich laut Dogramaci vermehrt mit Heimat auseinander, suchen nach ihrer eigenen Identität, und nach den Spuren, die ihre Familien auf ihrem Weg hinterlassen haben. Immer wieder wird Dogramaci in ihrem Buch auf Künstler rekurrieren, die sich in der Fremde mit Heimat auseinandersetzen, oder in der Heimat dem Fremden auf der Spur sind. Man ist geneigt zu denken, dass Heimat dort ist, wo man herkommt, doch wie ließe sich so ein Ort definieren? Er ist sicherlich mehr als bloß ein Eintrag im Pass, nämlich mit konkreten Bildern und Vorstellungen verbunden. Diese Bilder entstammen nicht nur der persönlichen Erfahrung, sondern einer gemeinschaftlich geteilten Ikonographie. Dogramaci, die in erster Linie die Heimat der Deutschen behandelt, führt an dieser Stelle die Maler der Romantik an, die in ihren Landschaftsgemälden ein idealisiertes Heimatbild schufen, das bis heute Geltung hat. Für die Deutschen seien es die Wälder, die als identitätsstiftende Landschaften fungieren. Diese germanischen Wälder, die schon den Truppen Hermanns im Kampf gegen die Römer Unterschlupf boten und die Fritz Lang für Die Nibelungen im Studio nachbauen ließ, da er mit dem Aussehen der tatsächlich vorhandenen Wälder unzufrieden war. Fotografische Arbeiten wie Peter Bialobrzeskis Heimat orientieren sich an der romantischen Tradition und adaptieren den Mythos des deutschen Walds für die Gegenwart. Selbst in Christoph Hochhäuslers Märchen-Variation à la Berliner Schule Milchwald steckt ein Stückchen Wald. Ohne Zweifel hat diese Selbstwahrnehmung der Deutschen auch die Fremdwahrnehmung des Landes beeinflusst. Der undurchdringliche deutsche Märchenwald ist zum beliebten Sujet von internationalen Großproduktionen geworden – von Terry Gilliams The Brothers Grimm bis zu rezenten Neuinterpretationen von klassischen Märchen wie Snow White and the Huntsman.

Heimat als Kultur und Sprache

Wie eben beschrieben werden Allgemeinplätze (ob sie nun landschaftlich sind oder nicht) durch Kunst vermittelt. Diese Kunstwerke sind Teil einer bestimmten Kultur, die ebenfalls als Heimat verstanden werden kann. Gerade im Falle Deutschlands, das aufgrund der späten Staatsgründung eine Sonderstellung einnimmt, sei das der Fall. Im Gegensatz zu anderen Nationalstaaten definiert sich die deutsche Identität weniger über territoriale Grenzen, sondern über Sprache und Kultur. Besonders deutlich wird das, wenn sich Vertriebene mit der Frage auseinandersetzen, ob an einem anderen Ort wieder so etwas wie Heimat entstehen kann. Bestes Beispiel hierfür ist der oben erwähnte Heinrich Heine, der sich erst im französischen Exil des Einflusses seiner Heimat auf sein Werk bewusst wurde. Dogramaci widmet sich zudem eingehend dem Fall Jean Améry, der nach seiner Flucht aus Österreich ohne Pass, Geld, Vergangenheit und Geschichte dastand und sich ebenfalls mit der Brüchigkeit von Identität und Heimat konfrontiert sah. Seine Identität ging nicht nur aufgrund seines Ortswechsels verloren, sondern vor allem durch den Verlust eines „Wir-Gefühls“, das unentbehrlich sei für die „Ich-Bildung“: „Heimat ist damit mehr als ein Herkunftsland, es ist im Verständnis von Améry eine Prägung durch Sprache, soziale und kulturelle Erfahrung“, und somit etwas, was durch den Kontakt mit anderen entsteht und darin begründet liegt (so wie auch Sprache, wie Wittgenstein gezeigt hat, immer schon eine gemeinschaftliche Komponente enthält). Erwähnenswert auch Amérys Konzeption des Passes, dem in erster Linie die Funktion zukommt „eine Geschichte über seinen Eigner“ zu erzählen, also den bisherigen Lebensweg des Passinhabers festzuhalten, sie ins Verhältnis zur restlichen Gesellschaft zu setzen und sich für ihre Authentizität zu verbürgen. Es zeigt sich, dass verschiedene Konzepte von Heimat miteinander in Konflikt stehen können. Jean Renoir hat diesen Konflikt in Form von La Grande Illusion zu Zelluloid gebracht, wo Pierre Fresnay als Capitaine de Boëldieu mit Jean Gabins Lieutenant Maréchal zwar die Staatszugehörigkeit teilt, ihn mit Erich von Stroheims Rittmeister von Rauffenstein jedoch ein gemeinsamer kultureller Hintergrund verbindet. Schlussendlich gilt Boëldieus Treue seinem Vaterland, doch der Film bezieht einen Großteil seines Konfliktstoffs aus der Ungewissheit, ob Boëldieu sich letzten Endes dem geteilten Gedankengut der intellektuellen Elite des Abendlands, oder einem abstrakten Nationalbegriff stärker verpflichtet fühlt.

Let Us Now Praise Famous Men von James Agee und Walker Evans

Let Us Now Praise Famous Men von James Agee und Walker Evans

Heimat als formale Kategorie

Unter bestimmten Voraussetzungen könne auch ein Nationalstaat als Heimat wahrgenommen werden und wie im Fall von Capitaine de Boëldieu kann er sogar die Zugehörigkeit zu einer kulturellen oder sozialen Klasse übertönen. Nach Jean Améry, sei der Nationalstaat unter anderem dafür zuständig dem Bürger eine Identität in Form eines Ausweises zuzuweisen. Tatsächlich seien es Vertriebene ohne Ausweisdokumente, die sinnbildlich für Heimatlosigkeit stehen. Im Film sind es die vermeintlich über alle Zweifel erhabenen Geheimagenten, die ihre Feinde zu Dutzenden über den Haufen schießen, die beständig ihre Identität wechseln müssen (James Bond, der ikonischste von ihnen, stellt die Ausnahme der Regel dar) und regelmäßig mit der damit verbundenen Verlorenheit des Seins hadern: Matt Damons Jason Bourne als Musterexemplar, der überhaupt auf der Jagd nach seiner ursprünglichen Existenz ist, und gar nicht mehr unabhängig seiner gefälschten Pässe existiert. Der Verlust des Passes komme für Dogramaci auf bürokratischer Ebene dem Verlust der Identität und aller Bürgerrechte gleich. Das zeigt, dass Heimat und Identität nicht zuletzt auch durch Fremdzuschreibungen gebildet werden. Heimat entstehe auch als Abgrenzung gegenüber einem „Anderen“/„Fremden“, nicht nur durch ein inneres Selbstverständnis, sondern auch durch Zuweisungen von außen. Durch die Abgrenzung gegenüber einem Außen identifiziere man sich automatisch mit einer Gruppen von Gleichen oder Ähnlichen. Diese Identifikation könne auf der Ebene einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamer Traditionen und Bräuche oder dem Leben im gleichen Staat oder dem Besitz des gleichen Ausweisdokuments basieren.

Heimat als Miteinander

„Nationen basieren maßgeblich auf einem kollektiven historischen Bewusstsein, das retrospektiv formuliert ist und seinen Ausgangspunkt in der Gegenwart hat.“ Es sind also, in Dogramacis Fall, nicht zuletzt die Deutschen selbst, die ihre deutsche Heimat ausmachen (Edgar Reitz hatte wohl ähnliche Gedanken). René Burris Fotobuch Die Deutschen oder die Fotografien von Stefan Moses stehen dabei stellvertretend für fotografisch-anthropologische Bevölkerungsquerschnitte, die den Versuch unternehmen Heimat als Gruppe von Mitmenschen oder Mitbürgern zu begreifen. Sie versuchen eine kritische Masse an Menschen abzulichten, die in ihrer Querschnittsmenge so etwas wie die Essenz des Deutschen ausmachen. Ein ähnlicher Wunsch treibt höchst unterschiedliche Filmemacher an, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine möglichst ungeschönte Form von Leben aufzuzeichnen. In Umfang und Form unterscheiden sich diese Versuche sehr stark. Sie reichen vom nationalen Prestigeprojekt der Up Series, dass der britische TV-Sender ITV seit nunmehr über fünfzig Jahren als Langzeitquerschnittsstudie fortführt, bis zu Pedro Costas Fontainhas-Trilogie, die mit bescheidenen Mitteln entstanden ist und in der er sich im Lissaboner Einwanderungsviertel Fontainhas der lokalen Bevölkerung annähert. Candida Höfer widmet sich in ihren Fotografien ebenfalls Familien mit Migrationshintergrund, unternimmt dabei, anders als Costa, nicht den Versuch sich ihrem Interessenssubjekt weitestgehend anzunähern, sondern behält einen Blick von außen. Höfer ist weder daran interessiert den „Durchschnittsdeutschen“ und seine autochthone Kultur zu zeigen, noch eine migrantische Parallelgesellschaft, sondern Konzeptionen und Möglichkeitsräume neuer Heimat zu schaffen, sowie zu zeigen wie sich Heimat in Abgrenzung zum Fremden konstituiert. Abermals haben wir es also mit verschiedenen Verfahrensweisen zu tun, dem Blick nach innen, der die Essenz der Heimat sucht, und einem Blick, der Fremdkörper in Kontrast zur bekannten Heimat setzt.

Heimat als Heim

Nicht zuletzt verbindet man mit Heimat auch eine spezifische Wohnstätte, ein Heim, das über die geographische Zuordnung eines Herkunftslands hinausgeht. Ein Blick in die Wohnzimmer eines Landes lässt verschiedene Künstler Einblicke in die Volksseele geben. Fotografische Streifzüge dieser Art können also ebenfalls eine bestimmte Auffassung von Heimat herausarbeiten. Tausendsassa James Agee hat zusammen mit dem Fotografen Walker Evans einen solchen Streifzug für ihr Buch Let Us Now Praise Famous Men unternommen und darin die amerikanischen Südstaaten porträtiert. Herlinde Koelbl versuchte ähnliches in Deutschland mit ihrem Fotobuch Das deutsche Wohnzimmer. Die Wohnung als Mikrokosmos lasse Schlüsse auf größere Fragestellungen zu. Form und Gestaltung des Heims seien geprägt von Wohnbaupolitik, von der Mode eines bestimmten Zeitgeists und von den Bewohnern, die durch die Ausgestaltung des Wohnraums tief in ihre Seele blicken lassen. Es werde deutlich, dass die vertraute Umgebung einer Wohnstätte, die Anordnung der Zimmer und des Hausrats ebenfalls ein Gefühl von Heimat vermitteln können. Ein Gefühl, wie es Manoel de Oliveiras Visita ou Memórias e Confissões vermittelt, in dem er sein eigenes Heim (das er aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben muss) durchstreift. Ulrich Seidl pervertierte dieses Gefühl mit seinem Hybrid-Bastard Im Keller. Darin interessiert er sich weniger für das repräsentative Wohnzimmer, in dem Besuch empfangen wird, sondern für die verborgenen Kellerräumlichkeiten, die sich der öffentlichen Preisgabe gemeinhin widersetzen. Seidls Inszenierung macht deutlich, dass diese Heime nicht unabhängig von ihren Besitzern existieren und ordnet die Bewohner in ihren Kellern als Teil des Einrichtungsverbunds an. Die klaustrophobe Dimension von Heim, wird in Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles deutlich. Die spießbürgerliche Wohnung der Protagonistin Jeanne ist ein Gefängnis – halb selbstgewählt, halb durch gesellschaftliche Zwänge auferlegt – das die Bewohnerin überdeterminiert. Wer sein Heim und seine Heimat aber verlassen muss, der versuche laut Dogramaci notdürftig das wichtigste Hab und Gut in einem Koffer unterzubringen. Menschen mit Koffern seien ebenfalls Sinnbilder für Flucht und Vertreibung. Marcel Duchamp hat darauf 1941, bei seiner Abreise aus Frankreich, reagiert und im Boîte-en-Valise seine Schlüsselwerke in Miniaturform in einem Koffer untergebracht – ein Werksverzeichnis im Geiste des Zeitalters der Massenmigration.

Dogramacis Buch ist ein gelungenes Projekt. Wer letztgültige Antworten sucht, wird enttäuscht sein, doch wer mehr an Fragen interessiert ist und sich diverse neue Diskursfelder erschließen möchte, der ist mit Heimat. Eine künstlerische Spurensuche gut bedient. Dogramaci bietet eine Ausgangsbasis für weiterführende Überlegungen, die sich nicht in der der überschaubaren Zahl an Fallbeispielen erschöpft, die sie anführt, sondern Raum lässt für eigene Konzepte und Gedanken.

Coughs When You Would Kiss: Spare Time von Humphrey Jennings

‘In the burrows of the Nightmare
Where Justice naked is,
Time watches from the shadow
And coughs when you would kiss.

(aus W.H. Auden - As I Walked Out One Evening)

Die Struktur von Spare Time von Humphrey Jennings ist in sich ein kleines Wunder einfacher Poesie. Jennings filmt in drei Städten mit drei unterschiedlichen industriellen Schwerpunkten: Stahl, Baumwolle, Kohle. In diesen Städten portraitiert er das Freizeitverhalten der englischen Arbeiterklasse der Vorkriegszeit. Zunächst ist da aber eine Verlorenheit. Zwar entsteht durch die Auftaktmusik und den nüchternen Ton der Erzählstimme, die sich dennoch darüber zu freuen scheint, dass es Freizeit gibt, eine Art lockerer Enthusiasmus, aber die Bilder sprechen eine andere Sprache. Etwas hilflose Schwenks über Städte mit rauchenden Schornsteinen, leere Straßen, es sind fast apokalyptische Bilder. Erst nach einigen Schitten füllen die Menschen diese kalten Straßen. Jennings filmt sie in der ersten Stadt durchgehend in Bewegung und lässt sie fast in jedem Bild auf uns zugehen. Dadurch entsteht eine Dynamik und eine Harmonie als gesellschaftliche Utopie. Gesteigert wird dieses Schwimmen im gleichen Rhythmus durch die, sich über mehrere Bilder forsetzende, innerdiegetische Musik. Wir hören sie bereits bei einem verkrampften Dartspiel und sehen sie dann in Form eines Orchesters. Die Blasmusik wechselt sich in der Folge in Form einer Parallelmontage immer wieder ab mit dem Rauch und den Mauern der Stadt. Es ist bemerkenswert, dass Jennings hier nicht auf andere Tätigkeiten schneidet, sondern auf eine Leere. So entsteht der Eindruck, dass die Freizeit und die Musik das karge Leben füllen statt nur als eine kurzzeitige Flucht zu entstehen. Gegen Ende des Films wiederholt der Filmemacher dieses Vorgehen, als er das Abfahren in den Kohleschacht im gleichen Stil,mit der gleichen Musikalität und fröhlichen Stimmung festhält, wie die Freizeit zuvor. In der Folge wird ein Western-Comic gelesen und es wird gebacken. Wie es sich gehört für einen braven Engländer wird das Heft sofort weggelegt, als das Essen auf den Tisch kommt. Es ist dies ein durchgehendes Motiv im Film. Der Ausbruch, der zurück zur Normalität führt, eine Normalität, die sich dann friedlicher anfühlt. Das gilt neben dem jungen mit dem Comic beispielsweise für einen von der Leine gelassenen Hund, der in einer für die Kamera kaum fassbaren Geschwindigkeit aus dem Bild springt, um wenige Sekunden später, zurück zu seinem Herrchen zu kehren.

Spare Time2

Es ist erstaunlich wie ernst die Laien sind. Kaum ein Lachen, kaum eine Verunsicherung. Mit den versteinerten Mienen einer Härte erleben sie Freude. Tauben werden gefüttert, Fahrräder repariert. Dann doch das kurze Lächeln eines Jungen, die Bewegung geht weiter. Pro Szene erlaubt sich Jennings maximal drei oder vier Einstellungen, dann treibt er weiter in der Gleichzeitigkeit dieser Freizeit. Es ist in dieser Montage, in der sich ein Stimmungsportrait vollzieht, das nicht unnötig narrativiert wird wie in Menschen am Sonntag. Spare Time ist ein tatsächliches Portrait der Menschen in der freien Zeit. Daher sind die Einstellungen auf die Fassaden der Arbeit, die diese durchdringen auch konsequent. Statt um eine eskapistische Freizeit Idee geht es um das Material der Zeit, in der man nicht arbeitet. Daher ist der Film auch durchaus ambivalent. Man stelle sich einen solchen Film heute von Ulrich Seidl oder bis vor kurzem von Chantal Akerman vor. Sind nicht Im Keller oder La chambre Auswüchse dieser Freizeit, die Jennings bereits vor dem 2. Weltkrieg in der propagandistischen Grundtendenz der GPO Film Unit versteckt?

Ein Geheimnis von Spare Time ist auch die Präsenz des einzelnen Freizeit-Augenblicks. Damit ist die fotografische Qualität des Films gemeint, der unheimlich lebendige, wenn auch ikonographische Bilder findet, in denen man Menschen erkennen kann, die trotz oder gerade wegen dieser konzeptuellen Idee eine große Freiheit bekommen. Jennings schreckt nicht davor zurück, den Wind oder den kleinen Unfall (ein Schal rutscht vom Klavier) in seiner Montage zu inkludieren, man spürt eine extreme Menschlichkeit in den Gesichtern. Sie werden mit großem Respekt und einem enormen Gespür für die richtige Distanz gefilmt. Von den einzelnen Gestalten in der Schornsteinwüste zu Beginn des Films bewegt sich Jennings in der Folge immer mehr zur Masse, was in England natürlich Fußball und Wettbüros bedeutet. Einmal filmt er dabei einen Mann durch ein Gitter, wobei die Schärfe auf dem Gitter liegt. Es ist ein nachdenkliches Bild am Ende des ersten Teils des Films, der mit eine Blende endet, als ein Fußballspieler zur Eckfahne läuft. Später im Film gibt es einen Tiger hinter einem Käfig und immer wieder gibt es die Mauern dieser Industrie. Der Film bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Befreiung nicht aus, sondern in diesen Mauern durch die Freizeit und der Gefangenschaft der Freizeit in diesen Mauern.

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In der Industrie der Baumwolle organisiert sich die Freizeit ähnlich, wenn auch in anderen Zeitrhythmen. Wieder beginnt Jennings in einer kurzen Verlorenheit, die er diesmal über den Ton vermittelt, da sich dieser zu Beginn sehr weit weg vom Geschehen befindet (ähnlich der Kamera, bei Jennings darf man bezweifeln, dass es sich um Direktton handelt, aber wer weiß…) Er filmt eine Jazzband und schneidet dann wieder in einer Parallelmontage durch den Ort, in dem Kinder mit Kreide auf dem Boden malen, eine Mutter ihr Kind herzt und in der Gartenarbeit verrichtet wird. Ein Gefühl für die Poesie der Alltäglichkeit offenbart sich praktisch in jedem Bild. Dieses hängt nicht nur mit der GPO Film Unit zusammen, sondern auch mit Jennings Arbeit im Rahmen der anthropologischen Bewegung Mass Observation. Doch strebt der Filmemacher hier eine Verbesserung der Zustände an oder portraitiert er lediglich diesselben? Er etabliert ein subtiles Gefühl der Unzufriedenheit durch die geschilderten Ambivalenzen, Zwischentöne und das Beständige Füllen der Leere und Leeren der Fülle. Sein straubesquer Schwenk über die Kohlestadt ist Ausdruck einer dokumentarischen Wahrheitssuche, die keine einfachen Lösungen kennt. Jennings legt sie jedoch in die Poesie seiner Bilder und Töne statt in den Kommentar. Während er schwenkt beginnt ein Feueralarm, der auch ein Fliegeralarm sein könnte. Hier etabliert sich ein weiteres Mal jenes apokalyptische Gefühl des Beginns, das womöglich bereits wie ein Schatten über England 1939 hängt. Schnell hastet der Film durch den Jahrmarkt, um dort anzukommen, wo Jennings wirklich in der Lage ist, etwas zu erkennen: Der Morgen dannach, die Stille, in der das erste Sonnenlicht die leeren Straßen küsst und das Potenzial einer anderen, freieren Zeit atmet. In solchen Momenten klingt der freudige Lärm der Volksfeste auch nur mehr wie ein Echo und die stotternden Klavierübungen, die darauf folgen betonen erneut eine gewisse Unmöglichkeit und Isolation. Menschen füllen das Bild, der Ton bleibt asynchron.

Im anschließenden Chorgesang erscheinen die Gesichter der Freizeit gleich den Silhouetten eines Film Noir. Eine merkwürdig düstere Stimmung legt sich über die Bilder. Sie kommt auch aus dem geistlichen Gesang. Jennings gibt sich der Bewegung der unteren Schichten seiner Bilder hin, eine Traurigkeit überkommt einen, aber weshalb? Weil die Freizeit irgendwann enden muss? Weil die Freizeit so schön ist? Weil sie nicht wirklich gelebt werden kann? Man kann sie auch als Wahrnehmung dieser Menschen fern einer dokumentarischen Idee verstehen, als etwas, dass sich in Jennings regte, eine Erzählstimme des Schwermuts, die im Angesicht dieser ausgezerrten, warmen, ernsten Arbeiter erzittert und sich nicht mehr anders artikulieren kann. So gibt es gegen Ende eines der der bewegendsten Bilder des Films. Eine Frau schenkt einem Mann einen heißen Tee ein. Beide wirken sehr konzentriert und förmlich, aber die Falten, die auf dem Hemd der Frau sichtbar sind, die sich erwärmende Durchgefrorenheit des Mannes und die blasse Licht, das nur die Haut der beiden zu berühren scheint, erhöht diesen eigentlich sehr alltäglichen Moment. Es ist ein Bild, das an Sharunas Bartas oder Diego Velázquez erinnert. Dazu walisische Hymnen. Wenn die Erzählstimme am Anfang verkündet, dass „This is a film about how people spend their spare time..“ liegt die Betonung auf „people“ und „film“.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: FEDERN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel warten nach dem letzten Tag des Festivals darauf, dass sich die Eindrücke niederlegen, aufklaren oder tiefere Wahrheiten offenbaren. Bis dahin (und wir werden kommende Woche unsere Highlights präsentieren) bleiben die Fetzen der Viennale, die wie Federn nach einer Kissenschlacht in der Luft stehen.

Mehr von uns zur Viennale

Post Tenebras Lux6

Ioana

  • Ohhh! What a beauty! Oh I’ve never seen one as big as that before
  • Tierische Liebe ist sicher der gefährlichste Seidl Film, den ich bislang gesehen habe. Ein Eingriff [eine Invasion] in und eine Parade von Einsamkeit und Bedürfnissen, bei der die Vorstellung von seiner Arbeitsweise genau so insidiös wie seine zu vermutende Auffassung von Menschen ist. Oder andersherum. Du hast natürlich Recht jedes mal, wenn du mir mit Puius “Es ist nicht so einfach” antwortest.
  • Um mich von Perfidia zu befreien, versuche ich Jeanne Balibars Pearl so oft wie möglich zu hören.
  • Die sehr gute Fussballszene in Kes schließt sich zusammen an einer Reihe von wunderbaren  Fussballszenen in Film (eigentlich Rugby, ich unterscheide nur zwischen Sport auf dem Boden und Sport im Wasser, so wie mein Mitchum zwischen zwei Arten von Schauspiel unterscheidet: with and without a horse)  und plötzlich steht Ken Loach in meinem Kopf aus diesem einzigen Grund und für kurze Zeit neben Lindsay Anderson und Carlos Reygadas.

Ken Loach Kes

Patrick

  • Deutsche Schlager klingen eigentlich wie chinesische Kinderlieder. Nur leider versteht man den Text.
  • Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke ist ein Film über das verschwundene Lächeln. Es ist natürlich mehr, aber bei mir bleibt das verschwundene Lächeln. (Wolken vor der Sonne)
  • Ein Man stand gestern vor dem The Birds-Plakat vor dem Filmmuseum. Er nahm seine Frau an der Hand und zeigte ihr zielsicher: Das ist Tippi Hedren in Marnie.
  • Das Fußballspiel in Kes von Ken Loach ist unvergesslich. Alleine der Establishing-Shot des “Bobby Charlton”-Trainers, der, wie ein Raubtier gefilmt, alleine über das Fußballfeld rennt, war den Film wert. Loach berührt da auch die wahre Absurdität von Sportstunden in der Schule, in denen der Ehrgeiz einiger auf die Lustlosigkeit anderer trifft.
  • John Ford liebt Katharine Hepburn in einem roten Sonnenball. In seiner Whiskeyflasche sieht er für einen Moment seine Reflektion und dann dreht er einen Film, um zu vergessen. Letztes Jahr war die John Ford-Retrospektive, aber dieses Jahr habe ich die Reflektion von Ford gesehen. Es ist schon wieder ein Jahr vergangen, seitdem wir über eine seiner Einstellungen nachgedacht haben. Wir müssen Apichatpong fragen wie wir mehrere Leben haben können, um mehr Ford zu sehen.

 

Interview mit Jan Soldat: Kontrolliertes Einlassen

Still aus Jan Soldats 'Hotel Straussberg'

Jan Soldat gehört zu den interessantesten deutschen Dokumentaristen der Gegenwart. Er porträtiert Menschen, die sich sexuell abseits gesellschaftlicher Normen verorten, auf Augenhöhe und in gegenseitigem Einverständnis. Seine Filme verstellen ebensowenig wie sie ausstellen, lassen die Porträtierten für sich sprechen und ermöglichen so ein unbefangenes Kennenlernen – es ist eine empathische Distanz, die letztlich auf Nähe hinaus will. Eine zweitägige Präsentation von Filmen des 31-jährigen Regisseurs im Wiener Stadtkino bot die Gelegneheit zum Gespräch über Soldats künstlerischen Werdegang, seine permanente Arbeit an der eigenen Methode und die Frage nach Verantwortung im Dokumentarfilm. Das Interview wurde am 14. April auf der Wiese des Heldenplatzes geführt.

Still aus Jan Soldats 'Hotel Straussberg'

Still aus Jan Soldats ‚Hotel Straussberg‘

Andrey Arnold: Mir ist gestern aufgefallen, dass du beim Q&A nach den Screenings ein Metal-Bandshirt anhattest. Der Schriftzug war kaum zu entziffern, welche Band war das?

Jan Soldat: Wolves in the Throne Room.

Bist du selbst Metal-Fan?

Nicht wirklich, aber ich komme aus der Richtung – meine Kumpels haben von Grindcore über Black und Death alles gehört. Doom fand ich auch noch cool!

War das in deiner Jugendzeit?

Schon auch noch Anfang 20. Ich habe mir das live immer reingezogen, war jeden Freitag bei einem Metal-Konzert. Speed, Thrash, alles Mögliche, es war immer eine Band am Start. In meinem Freundeskreis waren viele Metaller, und zum Weggehen fand ich das gut, zuhause habe ich es aber nie gehört, außer vielleicht mal ein bisschen Burzum oder Dimmu Borgir. Wolves in the Throne Room höre ich erst seit einem Jahr, ich finde die einfach krass. Inhaltlich und formal ist das völlig untypisch für Black Metal, wie ein Exorzismus der Genre-Floskeln. Im Vergleich zu etwas wie Burzum ist ihre Musik total bejahend, sie hat eine geile positive Energie. Ich wusste anfangs gar nicht, worüber die singen, aber man spürt, ohne es zu wissen, dass es etwas ganz Naturverbundenes ist. Das sind ja Biobauern, die am Rand der Gesellschaft leben und dort diese Mucke machen. Das merkst du auch in den Bildern, die sie besingen, das sind vorwiegend mystische Naturbilder. Ich fand es spannend, dass es so positiv ist.

Warst du früher eher an Musik interessiert als an Film?

Nein, das war einfach nur mein Umfeld, als ich aufgewachsen bin. Ich kann dir auch nicht sagen, warum, aber in Chemnitz, im Erzgebirge, gibt es eine extrem krasse Metalszene. Ich selbst war eher Gruftie, habe Gothic und Industrial gehört, aber wir waren alle immer auf Konzerten. Das hat aber nichts mit meinem filmischen Werdegang zu tun. Ich habe ja früher auch Mathematik studiert, später Maschinenbau, und dann habe ich mir irgendwann gedacht, ich mache jetzt einen Kurzfilm.

War Film in deinem Umfeld zu der Zeit stärker präsent?

Immer, aber nicht als Kunst. Ich hab mir hauptsächlich Mainstream-Scheiß angeguckt, viel Männer-Actionkino.

Hast du dir da schon ausgemalt, dass du später mal Filme machen wirst?

Nein, das hat keine Herleitung. 2006 wollte ich einfach Kamera machen und etwas filmen. Und seitdem habe ich Filme gemacht.

War deine Bewerbung an der Filmhochschule in Potsdam auch eher Zufall?

Ich habe den Kurzfilm damals ja mit einem Kumpel zusammen gemacht, das war eher so Splatter-Zeug. Aufschneiden und so, das fanden wir irgendwie cool. Viel Kotzen auch, Kotze fressen. (lacht) Und das hätte ich wohl auch weitergemacht, aber dann kam das Arbeitsamt und hat gesagt, ich muss mich bewerben. Ich habe mich also für irgendwelchen Scheiß beworben, eine Mediengestalter-Ausbildung, Medientechnik – das war irgendwie greifbar, ich wusste noch gar nicht, dass es Filmhochschulen gibt. Dann hat man mich da abgelehnt, und mein Kumpel meinte: Du bist doch gut genug für die Filmhochschule! Dann habe ich mich halt dort beworben, und die haben mich genommen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nur: Ich habe jetzt schon zwei Studienrichtungen abgebrochen und will jetzt etwas machen, das mir Spaß macht. Geplant war es aber nicht.

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„Die sechste Jahreszeit“

War der Zugang zu Film an der Hochschule für dich erstmal ein Schock, also etwas ganz anderes als das, was du davor gewohnt warst?

Als Jugendlicher habe ich ja nur Actionkino geschaut, aber bis zur Aufnahme an die Filmhochschule habe ich schon sehr viel Arthaus- und Weltkino gesehen und war dann eigentlich ein bisschen entsetzt, dass das dort viele nicht kannten, auch Professoren. Und man muss ja nicht alles geil finden, aber über ein bestimmtes deutsches Kino wurde dann immer gelacht, was ich schon seltsam fand.

Über welches Kino?

Wenn man jetzt die Kategorie Berliner Schule haben will: Ist ja egal, wie man dazu steht, aber das ist ja trotzdem wichtiges zeitgenössisches deutsches Kino gewesen. Da haben die so verächtlich drauf geguckt, und ich dachte mir, das ist ja noch mit das stärkste deutsche Kino, das du hast! Oder thailändisches, philippinisches Kino, das kannten die nicht, und ich dachte, da bin ja erst im Arthaus-Mainstream, das ist ja noch nichts total Absurdes.

Hast du Spielfilm oder Dokumentarfilm studiert?

Es gibt dort ein Grundstudium: Ein Jahr Dokumentarfilm, ein Jahr Spielfilm, und die letzten drei Jahre kannst du machen, was du willst – eigentlich kannst du schon in den ersten beiden Jahren machen, was du willst, aber die Richtungen sind vorgegeben. Ich hatte bis dahin vielleicht zwei Dokumentarfilme gesehen in meinem Leben, und ich wusste nicht, was das sein soll, wenn man da so Leuten zuguckt. Anscheinend war mir das richtig fremd, ich bin immer eingepennt, weil ich das so langweilig fand. (lacht)

Hast du dir aus dem heraus gedacht, du machst das jetzt anders und besser? Wann kam für dich der Punkt, an dem Dokumentarfilm für dich wichtiger wurde als Spielfilm?

Ich glaube, der kam erst im Hauptstudium, als ich gemerkt habe, dass meine Spielfilme extrem gewollt sind und auch nicht die Kraft haben von meinen Dokumentarfilmen. Das hat übrigens nichts mit meinem Geschmack zu tun. Ich gucke zuhause trotzdem noch hauptsächlich Spielfilme, Dokumentarfilme viel mehr auf Festivals. Aber mein Machen ist davon erstmal unabhängig, ich habe einfach gemerkt, dass mir das selbst mehr zu liegen scheint. Manche Leute mögen ein, zwei Kurzspielfilme von mir und sagen: Du kannst doch gut inszenieren! Das hat mich aber nicht interessiert. Schauspielarbeit hat mich nicht interessiert, Drehbuchschreiben hat mich auch nicht interessiert.

Warum nicht?

Ich glaube, das hat etwas mit Kalkül zu tun, dass man etwas herstellt. Im Rückschluss auf den Dokumentarfilm hatte ich das Gefühl: Das ist doch reicher! Ich erfahre etwas, ich kann mehr teilen, ich kann jemanden kennenlernen, überrascht werden. Beim Spielfilm habe ich die Abstraktion nicht verstanden, und da ist immer eine Abstraktion, egal, wie offen ein Regisseur ist und wie sehr er mit dokumentarischen Mitteln arbeitet – was auch immer das heißen soll. Dass ich da jetzt eine Geschichte erzähle, habe ich irgendwann über die Jahre nicht mehr begriffen. Dramaturgie ist ja etwas, das irgendwas voranbringt, und das fand ich eklig. Das Dokumentarische war freier. Dass man da einen Menschen hat wie Klaus in Der Unfertige – da funktioniert es am besten von meinen bisherigen Filmen, finde ich – dass dieser Mensch da ist und sich einfach öffnet und greifbar wird: Das will ich machen, da will ich weiter daran arbeiten.

„Der Unfertige“

Jetzt könnte man natürlich den Einwand bringen, Dokumentarfilm ist auch nur eine Konstruktion. Der Unberechenbarkeitsgrad ist höher, aber du musst ja trotzdem dein Material zusammenfügen, da triffst du Entscheidungen, du triffst die Entscheidung, was du drehst und was nicht. Bei deinen Filmen spüre ich einerseits, dass es zwar immer eine Suchbewegung ist, du lotest etwas aus und es entsteht etwas in der Zusammenarbeit mit den Figuren, die auch mitbestimmen, wie der Film am Ende aussieht, aber gleichzeitig scheinst du eine sehr feste Haltung zu haben, oder zumindest eine klare Vorstellung davon, wie ein Dokumentarfilm nicht auszusehen hat. Hat sich das bei dir erst langsam entwickelt oder hast du dich auch theoretisch damit auseinandergesetzt?

Nein, das entwickelte sich immer in der Rückschau auf die Filme. Ich habe mir den fertigen Film angesehen und mich gefragt: War mir das jetzt zu eng, habe ich die Menschen begrenzt? Ich habe mich oft schlecht gefühlt – es stellt sich ja immer die Frage, was nehme ich denen, wie sehr enge ich sie ein? Wie du sagst: Die Konstruktion findet auch statt, sie findet aber weniger statt als im Spielfilm. Ich würde das gar nicht formal unterscheiden, oder von der Methode her. Nach dem Film Geliebt habe ich mir zum Beispiel gedacht, Interviews sind falsch und feige.

Warum?

Das habe ich damals auch nicht verstanden. Ich kann es nicht genau sagen, jedenfalls habe ich das abgespeichert. Vielleicht, weil mir Interviews extrem leicht gefallen sind, weil ich mich viel mit Kommunikation auseinandergesetzt habe. Irgendwie hatte ich das in mir drin. Rückwirkend finde ich das auch Quatsch. Ich habe dann nur noch beobachtet, habe aber bald gemerkt, dass die Begrenzung aufs Beobachtende auch Schwachsinn ist, weil ich den Personen ganz viel von der Vergangenheit nehme, die du ja auch benennen kannst, wenn du möchtest. Die Situation mit Manfred und Jürgen aus Ein Wochenende in Deutschland finde ich an sich auch ok so, da hat man ja auch einen kurzen Moment, wo über die Vergangenheit gesprochen wird. Das ist wie ein Pendeln, mal gehe ich zu weit weg, mal wieder näher ran. Bei Der Unfertige passt die Balance ganz gut, finde ich, wenn es darum geht, wie man sich über ein beobachtendes Gespräch, das kein Interview ist, einen Menschen nähern kann. Das mit dem Abstand der Kamera, was du konkrete Haltung nennst, hat sich über die Jahre entwickelt, damit fühle ich mich wohl, damit ist der Film für mich stimmig. Cinema Verité oder Direct Cinema, das habe ich hingegen nie so richtig gepeilt.

Du hast also einen ganz praktischen Zugang.

Ich wollte einfach erfahren, was für mich ok ist. Aber den Ulrich-Seidl-Einfluss sieht man durch, das ist klar. Bei Geliebt hatte ich Tierische Liebe kurz davor gesehen. Egal was man davon hält, irgendwas daran hat mich interessiert. Ich finde auch entgegen dem, was alle sagen, dass das, was er macht, etwas sehr Würdevolles hat. Gerade seine frühen Dokumentarfilme sind noch ganz humanistische Filme, bei den späteren Spielfilmen ist es was anderes. Es gab auch immer wieder andere Filmemacher, die mich beeinflusst haben. Romuald Karmakar zum Beispiel, der über das Erfahren zeigt, was ihm wichtig ist, gerade in Land der Vernichtung. Er weiß, was er will, ohne zu wissen, was inhaltlich passiert, das fand ich spannend. Oder Thomas Heise – wir sind inhaltlich schon unterschiedlich, aber mit ihm fühle ich mich auch sehr verbunden, etwa über seinem Film Stau mit den Neonazis. Da hast du das Gefühl, der nimmt die trotz seines Unverständnisses ernst. Das fand ich ganz toll, auch dass die dann so rot werden vor der Kamera, als er fragt: „Hast du eine Freundin?“ Von da her habe ich geguckt und Bücher gelesen, etwa Sündenfall: Die Grenzüberschreitungen des Filmemachers Ulrich Seidl, oder das Karmakar-Buch von Olaf Möller. Darüber lerne ich ja auch, zu analysieren oder mich in ein Verhältnis zu setzen. Manchmal versuche ich dann auch, Sachen methodisch ähnlich zu machen. Im Fuhrwerk-Verlag gibt es von Eva Hohenberger diese ganzen Wirklichkeitstheorie-Schriften, das habe ich auch zu lesen versucht, aber da komme ich nicht dahinter, das ist mir zu gedacht, da tut mir der Kopf weh. Da heißt es dann, der Film hat sowieso nichts mehr mit der Realität zu tun, das ist alles nur eine Konstruktion meiner subjektiv erfahrenen Realität. Wenn ich nur noch darüber nachdenken würde, würde ich wahrscheinlich gar keinen Film machen.

Aber Verantwortung spielt bei dir eine große Rolle, oder? Bei dir stehen ja immer Menschen im Mittelpunkt und nicht irgendwelche gesellschaftlichen Zusammenhänge oder Orte. Weil bei dir auch Nacktheit und Körperlichkeit immer präsent ist, hast du das Gefühl, dass du anders herangehen musst, eine andere, größere Verantwortung hast?

Es gibt schon Unterschiede in der Intimität, wo ich sagen würde: Diesen Film kannst du überall zeigen, den kannst du auch ins Netz setzten, einen anderen nicht. Aber das hat nichts mit der Nacktheit an sich zu tun, sondern damit, wie die Leute, die in den Filmen vorkommen, dazu stehen. Deshalb kommen die Filme ja auch nur im Kino, die kommen nicht auf DVD heraus und sind nicht im Internet zu sehen. Dass man noch einen Schutzraum hat, dass diese Bilder den Menschen nicht weggenommen werden, ist wichtig. Das ist immer wieder eine bewusste Entscheidung von mir, aber auch im Einvernehmen mit den Leuten, die ich filme. Ob sich die Verantwortung grundsätzlich unterscheidet zu Filmen mit anderen Themen, bezweifle ich. Ich finde es ja auch schon grenzwertig, wenn dir jemand etwas erzählt in einem Film, das ist immer intim. Da habe ich auch meine Probleme damit, aber wahrscheinlich würde ich es eher öffentlich machen und mich wohler fühlen, weil damit keine Stigmatisierung in dem Sinne verbunden ist, wie wenn man Geliebt auf DVD rausbringt. Dann ist klar, das werden einfach irgendwelche Leute sehen, die werden das auch umkehren, zerschneiden und als Gegenpropaganda benutzen, und die Menschen aus dem Film vielleicht noch auf der Straße zusammenhauen. Da gibt es schon Grenzen. Du hast ja auch gesehen: Meistens sind keine Namen im Abspann, manchmal schon, aber das hat immer etwas mit den Menschen zu tun, ob sie das wollen oder nicht. Das alles ist aber nicht immer Thema – es wird benannt, und dann ist es auch meistens klar, das merkst du schon im Vorhinein. Meine Hauptverantwortung liegt glaube ich darin, dass ich mir Leute suche, die auch wirklich drehen wollen, dann kann erstmal nichts schiefgehen. Der Klaus hatte zum Beispiel ein sehr starkes Bedürfnis, sich zu zeigen und sich über den Film als Sklave zu produzieren, und da war dann relativ klar, das kann gar nicht kippen. Das habe ich einfach gespürt, weil wir das beide zusammen gemacht haben. Aber bei Hotel Straussberg war es schwieriger, den Film gemeinsam zu tragen: Das hat man es mit einer Gruppe von Menschen zu tun, und alle sind unterschiedlich. Manche schwanken oder wollen ihr Gesicht nicht in Deutschland zeigen. Da wird’s dann kritischer. Man merkt es ja auch in dem Film, die Kamera arbeitet ganz anders, weil ich mich einer Gruppe natürlich auch in einem anderen Tempo annähern muss.

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„Geliebt“

Wie viele Filme hast du eigentlich schon gemacht?

Vierzig oder so, ich weiß nicht genau. Das sind einfach ganz viele Fünf-Minuten-Sachen dabei.

Dass man sich in so kurzer Zeit ein so unüberschaubares Oeuvre erarbeitet, impliziert einen ganz eigenen Arbeitsprozess. Bisher hast du vornehmlich kürzere Filme gedreht, mittlerweile sind auch mittellange dabei. Woher rührt diese Arbeitsweise? Wolltest du auch mal einen längeren Film, einen 90-Minüter machen, oder ist es für dich ganz normal, eher episodisch zu arbeiten? Teilweise hat dein Schaffen auch etwas Serielles, weil du immer wieder dieselben Leute aufsuchst, neue Perspektiven auf sie eröffnest, auf gewisse Aspekte näher eingehst.

Ganz banal gesagt: Es war immer schon so, das da etwas war, was ich filmen wollte. Die Länge hat sich immer an die Situation gebunden. Wenn ich wusste, ein bestimmtes Event geht nur zwei oder zweieinhalb Tage, war klar: Das wird maximal ein Dreißigminutenfilm, und kein Langfilm. Ginge zwar auch, da gibt es bestimmt auch Beispiele dafür, aber im Prinzip hat sich die Länge bei mir daran orientiert. Ich dachte mir, wenn ein Langfilm rauskommt, kommt eben ein Langfilm raus, und wenn’s fünf Minuten werden, werden es eben fünf Minuten. Aber klar: Die Filme werden jetzt tatsächlich immer länger, weil ich mich auch immer mehr auf die Leute einzustellen versuche. Dann wird das natürlich reicher. Bei Geliebt war ja erstmal ein ökonomischer Fokus da durch die Schule. Ich hatte nur 50 Minuten 16mm-Material, also 5 Rollen, und da war klar, im Verhältnis zum Rohmaterial werden das am Ende maximal 20 Minuten. Deshalb musste ich mich auch konzentrieren, deshalb ist der Film auch so auf die Beziehung fokussiert, was ich gut finde, aber wenn ich das jetzt bearbeiten würde, würde ich offener herangehen, weil dann mehr Themen, mehr Situationen und mehr Räume erschlossen werden können.

Der Unfertige war dein Abschlussfilm an der Filmhochschule. Du hast also einen Großteil deiner Filme im Hochschulkontext gedreht?

Nein – die meisten meiner bisherigen Filme sind währen der Hochschulzeit entstanden, haben aber nichts mit der Schule zu tun. Ich habe die Filme immer gemacht, weil ich sie machen wollte, und habe sie auch mehrheitlich alleine umgesetzt. Ich habe studiert, die Filme aber nebenher für mich gemacht. Ich hatte auch keine Beratung an der Schule. Der Unfertige ist nur ein Diplomfilm, weil ich ihn mir habe anrechnen lassen, damit ich den Abschluss bekomme.

Wie wurden deine Filme an der Hochschule aufgenommen?

Geliebt natürlich grenzwertig, weil jeder an seine eigene Grenze gekommen ist mit dem Thema. Da habe ich gemerkt, dass viele ziemlich überfordert waren – aber ich auch, weil ich gar nicht wusste, wie verhalte ich mich in so einem Hochschulkontext? Ich glaube, da waren dann relativ viele ruhig, als der Film auf der Berlinale lief und sich ein Erfolg eingestellt hat, aber hintenrum habe ich schon gemerkt, viele halten mich für ein bisschen bescheuert. Es gab auch immer wieder Leute, die mich sehr unterstützt haben, aber im Großen und Ganzen habe ich eher gelitten, weil ich das Gefühl hatte, alle gucken mich komisch an. Ich glaube, von vielen Filmen wissen sowohl meine Mitstudenten als auch meine Dozenten nichts. Obwohl: Spätestens, als ich für meine Diplomarbeit meine dokumentarische Methode erläutert habe, die ich dafür „kontrolliertes Einlassen“ genannt habe – diesen Zwiespalt, wie weit gehe ich rein, wie offen bin ich, dieses Nähe-Distanz-Ding – spätestens dann haben sie sich die Filme angesehen. Ich glaube, Der Unfertige fanden sie auch alle ganz gut – also stimmig, sich selbst entsprechend. Man kann die einzelnen Filme von mir ja nicht wirklich vergleichen, ich finde die auch alle unterschiedlich. Natürlich hat jeder für sich eine andere Kraft, und da kann man dann noch schauen, ist er jetzt ok als das, was er sein will? Es gibt ein Kino, wo ich hin will, und manche Filme von mir finde ich schlechter als andere.

Viele deiner Filme sind entweder im Alleingang produziert oder mit sehr kleinen Teams. Resultiert das aus deinem Zugang, oder könntest du dir auch mal eine Produktion in einem größeren Team vorstellen?

Geliebt wurde ja mit einem größeren Team gedreht, und auch meine Kurzspielfilme waren immer 7 bis 12 Leute, was für mich schon viel zu viel ist. Was mich gestresst hat, ist auch die Behäbigkeit von so einem Apparat. Mich hat das Machen interessiert, dass ich nicht warten und mich auch nicht erklären muss. Daher hatte ich irgendwann keinen Bock mehr, beim Dreh mit jemandem zusammenzuarbeiten, weil die meisten dann doch ihre Meinung sagen – das soll nicht heißen, dass meine Meinung die bessere ist, aber gerade bei Geliebt war es für mich anstrengend, dass da Beklemmungen auf der anderen Seite spürbar waren, wo ich mir dachte, das will ich jetzt nicht wissen, wir gehen da jetzt hin und Filmen mit den Leuten. Da will ich mich auch nicht psychologisieren müssen oder erklären, warum ich den Film mache. Vor „Ein Wochenende in Deutschland“ habe ich zudem geschaut, dass es noch direkter meine Erfahrung wird, wie ich das bei Karmakar zu beschreiben versucht habe. Dass ich persönlich etwas erfahre und es noch direkter in der Kamera landet, das fand ich spannend, und ich habe nicht verstanden, warum ich dafür noch jemanden mitnehmen muss. Beim Klaus war es einfach unnötig. Wenn die Kamera da steht, er auf dem Bett sitzt mit mir davor und wir reden, wieso muss da jetzt ein Tonmann oder ein Kameramann dabei sein, der uns vielleicht ablenkt oder die Konzentration der Beziehung verschiebt?

Aber wenn es die Situation hergibt, könnte es für dich auch funktionieren?

Ich weiß nicht, ich merke, ich bin da übervorsichtig, weil mir das zu intim ist. Ich fühle mich selbst immer extrem offen, und mir wird das dann auch schnell zu viel, da muss man wirklich auf einer Wellenlänge sein. Bei den Themen, die ich behandle, ist das immer schwierig gewesen. Ich habe schon Leute getroffen, die offen waren und interessiert, aber trotzdem war dann immer irgendwas, wo ich mich eingeengt fühlte, da bin ich sensibel, glaube ich. Wenn der dann immer da ist, kann ich trotzdem nicht abschalten, wenn ich weiß, er denkt insgeheim, dass die Leute, die wir filmen, komisch sind. Da will ich, dass der weg ist (lacht).

Deine Filme laufen hauptsächlich auf Festivals und du sagst, dass du sie in den meisten Fällen auch nicht auf DVD herausbringen willst. Wie steht es dann eigentlich mit der Finanzierung und Auswertung?

Gute Frage. Gerade bei Geliebt habe ich Angebote bekommen für DVD-Veröffentlichung und Weltvertrieb, wo Geld für mich rauskommen würde, wo ich dann aber merke, ich muss das jetzt aus prinzipiellen Gründen fallen lassen. Ich habe letztes Jahr einen langen Dokumentarfilm geschnitten und dafür Geld bekommen, zudem bekomme ich immer wieder mal Vorführgebühren, was aber relativ wenig ist. Dann habe ich auch Geld verdient, weil ich an Hochschulen war, etwa bei Thomas Heise, in seiner Klasse in Wien. Dort habe ich in verschiedenen Kontexten über meine Arbeit geredet – Produktionsbedingungen oder Sexualität im Film. Aber das Verkaufen ist schon schwierig, vor allem, wenn nicht von Vorneherein klar ist, was mit dem Film passiert. Wenn ich von Anfang an weiß, ich mache jetzt mit Arte einen Film, dann sieht er auch anders aus. Nicht wegen Arte, sondern wegen mir, weil ich weiß, der Film kommt ins Fernsehen – dann werde ich ihn anders bauen und den Klaus manche Sachen nicht sagen lassen. Ich meine jetzt nicht einmal die Sache mit der Nacktheit, damit hat Klaus ja keine Probleme, aber in anderer Hinsicht würde ich anders entscheiden. Ich könnte auch um Filmförderung ansuchen, und vielleicht würde das auch klappen, weil ich inzwischen viele Referenzen habe, aber ich habe es bisher nicht getan, weil es einfach so ewig lange dauert. Bei Hotel Straussberg haben mir die Leute ja einen Monat vorher gesagt, du kannst kommen, und da war noch nicht einmal klar, ob ich überhaupt drehen darf. Unter diesen Bedingungen einen Antrag zu stellen, und dann kippt das vielleicht… Bis das Geld da ist, habe ich schon längst den Film fertig.

Diagonale 2015: Was bleibt von einem Festival?

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Was bleibt von einem Festival und seinen Filmen, wenn man zu spät kommt und zu früh wieder fährt, wenn man mit den Gedanken immer wieder woanders ist und sich nie voll und ganz konzentrieren kann auf den Moment, wenn man mehr schlecht als recht seinem eigenen Sichtungsplan hinterherhechelt? Es sind eher Eindrücke als Filme, eher Szenen als Sequenzen, eher Bilder als Atmosphären.

Das Gesicht Zakaria Mohamed Alis, frontal und zentral auf der viel zu nahen Leinwand des Schubertkinos, der mit traurigem Blick in die Kamera von der Unmöglichkeit spricht, die Gesellschaft zu ändern, in Peter Schreiners unverkennbar glänzendem, digitalem Schwarzweiß. Die Frage, zu wem er das sagt.

Die seltsame Trance eines späten Publikumsgesprächs mit einer dispersen Gruppe von FilmemacherInnen nach der gestaffelten Projektion ihrer kurzen Arbeiten in der Sektion „Innovatives Kino“, das absurde Frage-Antwort-Spiel, das mir plötzlich vorkommt wie eine improvisierte Performance und ihren Höhepunkt erreicht, als jemand eine Erkundigung mit den Worten beschließt: „Why does it hurt so much?“

Der Anblick des dementen Vaters aus Albert Meisls schonungslos-voyeuristisch-liebevoller Familiendokumentation Vaterfilm, der am Esstisch sitzend wirkt, als hätte man den Heiligen Jeremias aus dem Caravaggio-Gemälde in das Setting eines provinziellen Einfamilienhauses verpflanzt und auf Video aufgenommen, die Tragik, die Natürlichkeit, das Nicht-Wegschauen-Können.

Die endgültige Erkenntnis, dass es völlig absurd ist, das Kino-Dispositiv mit irgendeinem anderen zu vergleichen, als ich im Festivalzentrum an einer Sichtungsstation sitze und die bespielten Bildschirme links und rechts von mir nicht ausblenden kann, ohne meine Nase gegen das LCD zu drücken, aus dem Augenwinkel wahrnehmend, wie sich Kollegen fahrig durch ihre Filme klicken, auf der Suche nach ich weiß nicht was, dem Money Shot vielleicht?

Die widersprüchliche Erkenntnis, dass es dennoch funktioniert, wenn es funktioniert, als ich an der gleichen Sichtungsstation von der unheimlichen Montage-Musik, dem Sirenengesang der Studiologos in Johann Lurfs großartigem Twelve Tales Told gebannt werde, trotz Ramschqualität und Kleinbild im Kleinbild.

Die belebende Wirkung von Michael Glawoggers Haiku und Die Stadt der Anderen, zwei strahlende, zuckende, überschäumende Kurzfilme, die ihr Ziel in dem Augenblick vergessen, als sie darüber hinausschießen, die alles, alles, alles vom Kino wollen, das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, aber auch die Melancholie und die Sehnsucht und die Trauer, am besten hier und jetzt sofort.

Der Anfang von Constantin Wulffs Ulrich-Seidl-Porträt, wo der Regisseur sich dem Blitzlichtgewitter der Fotografenmauer in Berlin stellt, bombardiert von unablässigen Signalrufen: „Hier! Ulrich! Herr Seidl! Herr Seidl!“ – eine Szene aus dem A-Festival-Alltag, die einem seiner eigenen Filme entstammen könnte.

Der Punkt in Ludwig Wüsts (Ohne Titel), an dem sich alles in konturlose Farbkleckse auflöst und Licht aus der Leinwand hervorzuquellen beginnt wie weißes Blut, womit es der Film nach zwei, drei misslungenen Versuchen doch noch schafft, mich zu überraschen und zu berühren.

Die schöne Heimfahrt, die im Halbdunkel beginnt und im Dunkel endet. Erst als ich zuhause in Wien bin, habe ich das beruhigende Gefühl, wirklich in Graz angekommen zu sein.