Schattenfresser: Jaime von António Reis

Jaime von António Reis

Zum ersten Mal auf 35mm gesehen im Rahmen des Underdox Filmfestivals in München; einer der wenigen Filme, die nicht besser werden können durch das Darüber-Schreiben, man kann eigentlich nur schweigen, verarbeiten und wieder sehen. Ein Film, der einen verfolgt und in Beunruhigung nicht schlafen lässt.

Jaime ist einer von sechs Filmen, die der Poet und Filmlehrer António Reis realisiert hat. In den meisten Fällen und in Jaime zum ersten Mal entstanden die Arbeiten in enger Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin Margarida Cordeiro. Sie arbeitete auch als Psychiaterin und in diesem Beruf kam sie mit dem Leben und Werk des Landarbeiters Jaime Fernandes und in der Folge auch mit António Reis in Verbindung. Fernandes war über 38 Jahre Insasse einer psychiatrischen Klinik in Lissabon. Dort fertigte er in den letzten drei Jahren seines Lebens zig außergewöhnliche, berührende, verstörende und wunderschöne Zeichnungen an. Der Film arbeitet wie ein Porträt des verstorbenen Künstlers, darf aber nicht mit einem solchen verwechselt werden. Statt einer Bloßstellung oder Romantisierung erleben wir die Kunst einer Annäherung, die verstehen will. Statt einer naheliegenden Erzählung von der Engführung einer psychischen Krankheit und schöpferischer Kraft, wählt Jaime die Poesie einer Einsamkeit in der Entstehung von Kunst. Statt dem Zeigen von kranken Menschen löst er die Dichotomie zwischen krank und gesund auf.

Jaime von António Reis

Wie macht man ein solches Leben spürbar? Fernandes litt an Paranoider Schizophrenie und begann nach seinem 60. Geburtstag Bilder zu malen mit einfachen Stiften oder Streichhölzern, die er in Quecksilber eintunkte. Diese wurden später in bedeutenden Orten in Portugal ausgestellt. Reis zeigt mit Ausnahme einer von der Zeit angefressenen Fotografie aus den Internatstagen des Protagonisten zu Beginn und am Ende des Films kein Bild von Fernandes, er versucht nichts zu repräsentieren oder nachzuerzählen. Es gibt keine Gespräche mit Menschen, die sich an Fernandes erinnern. Stattdessen hört er auf die Schatten zwischen den Bildern, die sich von selbst erinnern, lässt Ton und Bild in dissonanten Harmonien auseinander gleiten, traumwandelt durch Fragmente der Bilder und Aufzeichnungen von Fernandes. Er filmt das, was noch da ist, was überlebt und bleibt. Ein materialistischer Ansatz, der ganz offenbar auf etwas aus ist, was nicht materialistisch ist: Wahnsinn und Schönheit; etwas das immer da war, aber so „als würde die Zeit nicht existieren“, wie Manoel de Oliveira, an dessen Acto da Primavera Reis als Assistent arbeitete, es einmal formulierte.

Gleich zu Beginn erscheint die Psychiatrie wie ein Gefängnis. Ein stiller Horror eingesperrter Sehnsüchte, man könnte an Jean Genet denken, nur dass die Provokation von Jaime nicht sexuell sondern humanistisch ist. Schatten lungern an den vertrockneten Wänden im Hof, die Insassen befinden sich in einer Kreisform, die Michel Foucault in Ekstase versetzt hätte. João César Monteiro griff diese Bilder zu Beginn von Jaime in seinem Recordações da Casa Amarela wieder auf. Die Endlosigkeit manifestiert sich hier bereits in einer Ausweglosigkeit. Die Schnitte zwischen den Bildern erscheinen ungemein sanft und vorsichtig. Gleich zu Beginn blicken wir durch einen Cache wie durch ein Schlüsselloch in den Hof der Psychiatrie. Aus den Notizen von Fernandes wurde vorher mit gleicher Strategie ein Zitat entnommen. Ein Cache stellt ein Zitat heraus. Dieser Vorgang wiederholt sich durch den ganzen Film. Man liest hervorgehobene Sätze aus dem Notizbuch: „Jaime ist hier bereits achtmal gestorben.“. Dieser Cache steht zum einen für die Neugier der Filmemacher. Sie nähern sich an, blicken auf das, was von Fernandes bleibt (Bilder, Notizen, Orte, Gedanken; wie die verlorenen Steine, die ein Junge gesammelt hat bevor er verschwand) wie durch eine Lupe, treffen eine Auswahl. Zum andere aber steht er für all das, was sie nicht filmen oder sehen können. Er steht für die Moral einer solchen Annäherung; die Distanz, die man weiterhin wahren muss. Aus dem Off dringen manchmal Stimmen. Sie gehören der klagenden, nach ihrem Mann rufenden Witwe von Fernandes und einem befreundeten Insassen. Niemals würde sich Jaime erlauben etwas über seinen abwesenden Protagonisten zu sagen. In keiner Sekunde des Films vergisst man, dass es eine Distanz zwischen den Blickenden und dem Verstorbenen gibt. In ihrem Film Ana trieben Cordeiro und Reis diese Ethik der poetisch-anthropologischen Annäherung auf eine beeindruckende Spitze. Es geht hier nicht darum, eine Freakshow zu zelebrieren. Vielmehr vermag das Kino zu ehren wie man Menschen ansehen könnte. In einem wunderbaren Interview mit João César Monteiro spricht Reis über seine ersten Erfahrungen mit dem Kino. Er erzählt von der Suche nach einem strategischem Punkt für die Camcorder beim Filmen einer öffentlichen Veranstaltung im Rahmen einer Gruppenarbeit in einem jungen Filmclub in Porto. Dabei betont er die geographische Vermessung und die Wichtigkeit des Nicht-Störens der Öffentlichkeit.

Diese Ethik, die durchaus vergleichbar ist mit jener von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, hat etwas Strenges an sich, etwas Einschüchterndes. Ihr Problem ist nur, dass ihre härtesten Vertreter nichts anders neben sich akzeptieren. So und nicht anders, sagen sie. Die Idee eines einzigen Punktes, von dem aus man ein gerechtes Bild eines Menschen machen könnte, ist verführend. Ist sie aber auch richtig? Es lässt sich wohl mit Sicherheit sagen, dass ein solcher Punkt nicht willkürlich gewählt werden darf. Allerdings scheint mir dieser Punkt im gleichen Maße an den Filmenden zu hängen wie an den Gefilmten. Will heißen, dass es dabei um eine Relation geht, die keinen einen fairen Punkt zulässt, sondern eine unendliche Anzahl an möglichen Gerechtigkeiten. Allerdings nur eine für die Relation zwischen diesem individuellen Filmenden und seinen Protagonisten in ihrer jeweiligen Zeit und vor den jeweiligen Umständen. Das große, an dieser Stelle immer genannte Beispiel ist die Kamerafahrt in Kapò von Gillo Pontecorvo. Jacques Rivette, der das Kino von Cordeiro und Reis sehr schätzte, hatte sich in einem Text für die Cahiers du Cinéma Nr. 120, der seither von Anhängern und Skeptikern gleichermaßen missbraucht wurde, gegen eine Zufahrt auf das Gesicht von Emmanuelle Riva ausgesprochen. Ohne auf die Details eingehen zu wollen, ging es ihm vereinfacht um die Ungerechtigkeit dieser Einstellung. Etwas zwischen Filmenden und seinem Subjekt war für Rivette über eine moralische Grenze getreten. Entscheidend dabei scheint mir aber nicht nur, dass Pontecorvo mit einer Kamera auf eine Schauspielerin zufuhr, die einen Selbstmord in einem Elektrozaun vorspielte, sondern dass Pontecorvo derjenige war, der dies tat. Ihn loszulösen von seiner subjektiven Position und zu behaupten, dass es eine grundsätzlich ungerechte Position gibt, auch wenn ich Rivette Recht gebe (was etwas aus der Mode geraten ist), dass diese Einstellung hochproblematisch ist, ist absurd. Diese Absurdität jedoch ist ambivalent, weil in ihrem Drang nach objektiven Wahrheiten auch ein Funken Wahrheit steckt. Luc Moullet etwa schlug einige Jahre früher bereits vor, dass Moral eine Sache der Kamerafahrten wäre. Tatsächlich spiegeln sich in Kamerabewegungen Modi der Annäherung und Distanz. Entscheidet man sich etwas näher anzusehen oder nicht? Auch existiert ein großer Unterschied, ob man in eine Nahaufnahme schneidet oder in sie fährt.

Jaime von António Reis

Die Distanz aus der Reis die Insassen zu Beginn des Films beobachtet, mit leichten Schwenks, nie näher kommend, nur registrierend, erzählt tatsächlich von einer enormen Vorsicht. Die Schatten im Hof schützen die Menschen vor der Neugier der Kamera. Vergleicht man diese Bilder zum Beispiel mit jenen von Raymond Depardons San Clemente spürt man einen enormen Unterschied. Depardon wirft sich mitten hinein in die Welt eines Irrenhauses. Jedoch ist sein Ansatz ethisch auf keinen Fall verfehlt. Es kann ja nicht darum gehen, dass man keine Bilder machen darf von etwas. In den vielen Streitereien zwischen Jean-Luc Godard und Claude Lanzmann ging es oft genau darum. Was darf man filmen und was darf man nicht filmen bezüglich des Holocausts? Godard hielt daran fest, dass man niemanden verbieten sollte, etwas zu filmen. Ruth Beckermann sagt in ihrem Voice-Over in Die papierene Brücke, dass man manche Dinge besser nicht filme, weil sie dann Erinnerung blieben. Ein Film wie Saul fia von László Nemes kennt gar keine Skrupel und glaubt, dass er filmisch die Erfahrung eines Konzentrationslagers wiedergeben kann. Allerdings ist eine der wenigen wichtigen Rollen, die das Kino in dieser bilderüberfluteten Zeit noch einnehmen kann, jene, die den Umgang mit Bildern bewusst macht, lehrt und ihm Gewicht verleiht. Eine Ethik im Umgang mit Bildern ist angebracht und notwendig. Ein Kino, das den blinden Durst nach Bildern frönt, hat keine Bedeutung. Ganz anders ist es bei Cordeiro und Reis, die auch deshalb so relevant heute sind. Für Reis war es in der Poesie und auch im Kino immer wichtig, nur das zu sagen und zu zeigen, was wirklich notwendig ist. Die Dialoge, die er für Paulo Rochas Mudar de Vida schrieb, erzählen von dieser Sparsamkeit, die zur Essenz dringen möchte und sich offen hält, zuzuhören.

Jaime baut Kontrapunkte zwischen Bild und Musik (Stockhausen,Telemann und Louis Armstrongs St. James Infirmary Blues). Es kommt zu überraschenden Verschmelzungen der Lebensumstände des Verstorbenen mit dem Kino, der Zeichnungen mit einer surrealistischen Vision der Welt, des Lebens mit dem Versuch es in Bildern zu beschreiben, von Wahnsinn und Schönheit. In gleicher Weise arbeitet auch die Tonebene, die wie ein Ruf aus dem ländlichen Ursprung von Fernandes von Wind und Wasser erzählt. Man spürt wie sich eine Narbe öffnet, die man nicht mehr schließen kann. Was wir sehen, sind die Wunden, die geblieben sind. Wir sehen sie im Fließen des Wassers des Flusses Zêzere in der Heimat von Fernandes, sicherlich ein Bild des Lebens, aber so fern durch die ausgetrockneten Kakteen vor der Psychiatrie. Fernandes wuchs am Fluss auf, fischte viel. Diese Aspekte werden nicht erwähnt vom Film, aber man kann sie später in seinen Bildern sehen: Das Fließen, den Strudel. Wir sehen Menschen, die gleich Skulpturen auf ihre Erlösung warten (Reis arbeitete auch als Skulpteur). Immer wieder Gegensätze wie jenes von Gittern und einer Katze, die einfach durch sie hindurchgeht. Ebenso plötzliche surreale, metaphysische Bilder wie das eines Regenschirms unter dem Getreidekörner liegen oder von drei Äpfeln, die golden glänzend von der Decke baumeln. Die Montage folgt nicht einem kausalem und schon gar nicht einem temporalen Prinzip. Man könnte von einer Aufzählung der Dinge sprechen, dem beinahe tragischen Versuch etwas zu verstehen durch das Sehen. Es ist auch der Versuch die Bilder von ihrer Banalität gegenüber komplexen Vorgängen zu befreien. Bilder treten wie Worte in Gedichten in einen größeren mythologischen Zusammenhang. Die allgegenwärtige Angst vor der kinematographischen Metapher ist Reis unbekannt. Er dynamisiert seine filmischen Räume mit Bedeutungen. Erstaunlicherweise entsteht dadurch der Eindruck eines biographischen, in Ansätzen gar psychologischen Mosaiks. Reis selbst wehrte sich gegen solche Begriffe. Für ihn waren es Erinnerungen, nicht Dokumentationen. Auf diese Weise dokumentiert er Erinnerungen.

Jaime von António Reis

Woraus entstehen diese Bilder? Jene von Fernandes und jene des Films? Die Bilder beginnen die Welt zu bevölkern. Dämonen und Mischwesen sind darauf zu sehen, ihre starrenden Gesichter existieren mit einem Mal nicht in einem Vakuum, sondern im direkten Dialog mit der Welt, in der Fernandes lebte, in der Reis es später tat und in der wir es heute tun können. So filmt er zum Beispiel eine Ziege. Fernandes arbeitete als Ziegenhirte. Diese Ziege ist eingesperrt in einem dunklen Raum, wirkt etwas verloren. Sie beginnt ihren eigenen Schatten zu fressen. Monteiro bezeichnet sie in besagtem Interview, in gewohnt provokanter Manier, als die schönste Schauspielerin des portugiesischen Kinos. Reis selbst äußerte, dass die Menschen, die wir im Film sehen, jene, die geblieben sind, auch jene sind, die Fernandes malte. Das System von Reis knabbert an den Grenzen der Wahrnehmung. Die getrennten Bereiche zwischen scheinbar entgegensetzten Phänomenen wie eben Schönheit und Wahnsinn, aber auch Abstraktion und Natur werden durch die Gleichzeitigkeit von einer materialistischen Bildabfolge und einem beständigen Gegeneinander von Bild und Ton verknüpft. In dieser Hinsicht wird Jaime zu einem der größten Filme über Kunst und wie sie entsteht. Reis sammelt akribisch alles, was in ein Kunstwerk einfließen kann. Es ging ihm auch darum, die Kunstwerke selbst zu sammeln, da viele der Bilder von Fernandes zerstört wurden. Jeder Faden wird demütig aufgehoben und in feinsten Bewegungen präsentiert. So existieren die Bilder in der Natur, die Natur im Menschen und all das im Raum einer spürbaren Ungerechtigkeit und Einsamkeit.

Nach der Arbeit an diesem Film machten sich Cordeiro und Reis auf ihre für das portugiesische Kino von heute so entscheidende Hymne an die Vertriebenen, Trás-os-Montes zu realisieren. Ein Film, der wie ein schnell verloren gegangenes Gewissen der Nelkenrevolution den Blick abwendet von der intellektuellen Elite und stattdessen die Kehrseite ästhetischen Wohlstands beleuchtet in einer der ärmsten Regionen Europas. Jaime lässt sich in dieser Hinsicht als erster Klageruf verstehen. Aus den Tiefen einer als wahnsinnig erklärten Seele hört man Stimmen rufen und sie sind nicht einverstanden. Sie sind nicht einverstanden und machen einen anständigen Film.

Dedo de Dios: Le Livre d’Image von Jean-Luc Godard

Le livre d'image von Jean-Luc Godard

Zur Eröffnung des 13. Underdox-Filmfestivals in München wurde Jean-Luc Godards neuer Film Le Livre d’image gezeigt. Es war eine fehlerhafte Vorführung, denn das Münchner Filmmuseum ist nicht für die Vorführung (eine Dolby 7.1. Anlage wird benötigt) ausgerüstet. Der Film verwendet ein äußerst ausgeklügeltes Tonsystem, in dem etwa die Stimme von Godard einmal göttergleich aus allen Ecken schallt und mal wie aus einer Reihe weiter hinten flüsternd ertönt. Bild und Ton sind so heftig getrennt, dass man beinahe den Schmerz darin spürt. Es kam zu Aussetzern im Ton, die man durchaus für gewollt halten konnte. Sie waren es aber nicht, sodass ich nun über meine Kinoerfahrung mit dem Film aus einer beschränkten Position schreibe.

Ein wenig bittere Ironie liegt darin, denn wie das Publikum vor dem Beginn des Films informiert wurde, hatte der kürzlich verstorbene Enno Patalas die Soundanlage im Filmmuseum vor Jahrzehnten für einen Godard-Film, nämlich Allemagne 90 neuf zéro einbauen lassen. Dass sie nun ausgerechnet für einen Godard-Film nicht gut genug war, schmerzt. Letztlich hat es dem dekonstruktivistischen Denken der Bilder wenig Abbruch getan. Vielmehr hat es dem Bilderbuch noch eine weitere Ebene – wenn auch ungewollt – hinzugefügt. Dieses Fragmentieren der Tonebene ergab an mancher Stelle sogar eine wunderbare Verbindung mit Godards äußerst kritischem Umgang mit Untertiteln. Wie bereits in seinem Film socialisme wird lange nicht alles übersetzt; manchmal werden einem nur Schlagwörter zugeworfen. Das ist Absicht, denn der Filmemacher sucht den Dialog zwischen Bild und Ton als Text, nicht zwischen Text und Ton im Bild. Ein großer Fehler ist es trotzdem, dass dieser Film in diesem Kino so gezeigt wurde und die Tatsache, dass sich viele Zuseher (mich eingeschlossen) nicht sicher waren, ob das gewollt war oder nicht, ändert nichts daran, dass man einen Film so zeigen sollte wie intendiert.

Le livre d'image von Jean-Luc Godard

In Cannes, wo der Film seine Uraufführung erlebte und mit einem Spezialpreis bedacht wurde, äußerten sich bereits viele Schreibende über die Schwierigkeit, einem Godard-Film mit Worten zu begegnen. Beschreibungen entzieht sich sein Kino seit vielen Jahren und ein langsames Verstehen stellt sich oft erst nach mehreren Sichtungen ein. Daher wage ich einen Versuch, der als fortlaufend zu verstehen ist. Die folgenden Notizen werde ich in den kommenden Wochen immer wieder ergänzen:

Es ist wieder so bei Godard, dass man am Ende des Films auf neue Weise erfahren hat, was das Kino war, ist und sein könnte.

Am Anfang ein schriller Frequenz-Ton. Er ist ein Weckruf oder ein Signal für den eingetretenen Tod. Wo beginnt der Film? Im Schwellenbereich zwischen einem Ende und einem Anfang. Es folgt ein schwarzes Bild. Es scheint, als wäre es das gewesen, schon bevor es beginnt. Dann erscheint ein Zeigefinger, der gleich dem Dedo de Dios bei Puerto de las Nieves auf Gran Canaria wie eine Warnung oder ein Hinweis aus dem Schwarz des Kinomeeres zu uns spricht. Wir müssen aufpassen, wir sind gefragt.

Bei seiner Veröffentlichung hatte ich Alexander Horwaths Text „Das Versprechen des Kinos“ auf Perlentaucher, ob seines kulturpessimistischen und in meiner Wahrnehmung konstruiert hoffnungsvollen Ton nicht ganz verstanden. Nach dem Sehen von Le Livre d’Image ist mir der Text näher. Ich habe das Gefühl, dass es gleichermaßen um eine Rückversicherung geht, wie um eine Korrektur der Erwartungen. Der Text liest sich wie eine Ergänzung zu Godard. Vieles ist anders, aber manches überschneidet sich. Das Kino bewegt sich gefühlt seit Jahrzehnten auf ein Ende zu, vor allem auf sein eigenes. Die einen springen auf diesen Zug auf, die anderen leugnen ihn. Die Wahrheit könnte irgendwo in der Mitte liegen. Kein Ende, aber auch kein Anfang. Nostalgie einer Utopie.

Die Zersetzung der Bilder wird gefeiert, bedauert und dokumentiert. Godard kennt keine Grenzen im Umgang mit Fremdmaterial. Statt der weiterverbreiteten, von Filmarchiven, Online-Zensoren und Rechtsinhabern propagierten Dominanz des intellektuellen Besitzes vertritt er eine Politik der Aneignung. Bilder und Zitate sind Teil eines kollektiven Denkens. Sie auf Autoren und Autorinnen zu reduzieren, hält den möglichen Fortschritt auf, den wir aus ihnen gewinnen könnten.

Der Film besteht aus fünf Kapiteln. Fünf Kapitel wie Finger an der Hand. Godard nimmt dieses Motiv der Hand wieder auf. Es spiegelt sich in den Kapiteln, dem warnenden Finger zu Beginn und dem Halten eines Filmstreifens als durchgehendes Motiv im Film. Die Hand, die baut, die Hand, die zerstört.
1. Remakes
2. Les Soirées de St. Pétersbourg
3. Ces fleurs entre dans les rails, dans le vent confus des voyages.
4. L’esprit des lois
5. La région centrale

Zitat des ägyptischen Kritikers Joseph Fahim in einem Text von Bilge Ebiri: “The last chapter of The Image Book transpires as a deconstruction not only of the Arab narrative imparted by the West since the invention of cinema, but of the occidental control of cinema history. Arab cinema has always been ignored by Western historians and academics. The images introduced by Godard in here are unknown to most Western critics who waxed poetic about the film.”

Le livre d'image von Jean-Luc Godard

Der Film gleicht einer verzweifelten, virtuosen Suche nach einer womöglich verloren gegangenen Verbindung zwischen Bildern und der Realität. Es ist das alte Thema von André Bazin und der Nouvelle Vague. Was haben die Bilder mit der Welt zu tun? Godard montiert ganz bewusst Bilder aus westlichen Filmen mit „realen“ Bildern von Terrorakten. Mehr noch als die Art und Weise zu hinterfragen, in der Bilder gemacht werden, wird offengelegt wie Bilder gesehen werden. Es wirkt ein wenig so, als würde der Film rückblickend untersuchen, welche Fehler wir als westliche (Kino-) Welt in dieser Verbindung zwischen Repräsentation und Realität gemacht haben. Das letzte Kapitel, benannt nach Michael Snows Film, beschäftigt sich dann mit der arabischen Welt und den Bildern, die wir davon haben und nicht haben in unserem kulturellen Gedächtnis. Es ist der Vorschlag einer Korrektur oder zumindest die Recherche einer möglichen Korrektur.

Da Godard auch Bilder seiner eigenen Filme verwendet und manches fragiles Seufzen und wütendes Befragen aus dem Hintergrund an seine Histoire(s) du cinéma erinnert, entsteht der Eindruck einer notwendigen Redundanz. Sie ist notwendig, weil der Film in seiner collageartigen Anordnung von Bildern (zum Beispiel mit den politischen/kinematographischen/poetischen Themen Zugfahren oder Wasser) von der Wiederholung der Geschichte erzählt. Den gleichen Fehlern, den gleichen Denkweisen zwischen Kolonialisierung und Krieg. Selten hat man diese Fehler so präzise anhand und in und durch Bilder gesehen.

An einer Stelle geht es um den sich öffnenden Krater zwischen dem gewaltvollen Akt der Repräsentation und der Ruhe der Repräsentation selbst. Die Kamera, die ruhig und friedlich filmt wie die Erde erschüttert wird. Nicht nur darin regt sich ein immenser Zweifel an Bildern. Gleichzeitig also gibt es hier ein Denken, das abhängig ist von Bildern, die die Geschichte von mindestens einem Jahrhundert in sich tragen und zum anderen ein Gefangensein in diesen Bildern und dem, was sie von der Welt vermitteln können. Was wäre denn ein aufgeregtes, echauffiertes, engagiertes Bild? Würden wir dieses Bild akzeptieren?

Godards Lösung sind Fragmente. Le Livre d’Image besteht aus unzähligen Fragmenten aus Literatur, Kunst und Film. Jean Vigo, Victor Hugo, Bertolt Brecht, Nicholas Ray, Hollis Frampton, Max Ophüls (das Ende des Films, ein Todestanz aus Le plaisir, erzählt von jenem Tanz zwischen Schönheit und Tod, die den ganzen Film heimsucht), Dziga Vertov, Edward Saïd, Honoré de Balzac, Rainer Maria Rilke, Arthur Rimbaud, Nicholas de Staël, André Derain, Albert Cossery oder Masaccio. Er findet im Detail, in der kleinen Sekunde Wahrheiten, die sich nur dann zusammenfügen, wenn man dem eigenen Impuls widersteht, alles zusammenfügen zu wollen. Nicht die Zuordnung ist erfordert (denn der Film trifft seine eigenen, subjektiven Zuordnungen), sondern ein Sich-Einlassen, ein Neu-Schreiben von Bildern. Dennoch glaubt man – und hier liegt durchaus ein Problem des Films – dass man mehr erfahren würde, wenn man sämtliche Anspielungen und Bilder richtig einordnen könnte, wenn man alles verstehen würde. Ist das aber so?

Man spürt durchgehend, wer einem diese Bilder zeigt. Noch mehr sogar, mit wem man diese Bilder sieht. Le Livre d’Image ist eine Schule des Sehens, wobei bereits für einen mit anderen Augen gesehen wurde. Man muss also nur noch die Augen öffnen und mit den gleichen geöffneten Augen andere Bilder, als jene des Films sehen. Diese Vermischung aus passiver Betörung, die der Film, ob seiner beinahe hypnotisierenden Qualitäten durchaus versprüht und sinnlicher Aktivierung hängt zusammen mit dem fundamentalen Konflikt im Kino von Godard. Jenem zwischen der Liebe zum Kino und dessen Ende. In dieser Hinsicht ist der Film auch eine Erinnerung an die Utopie einer Cinephilie. The Thoughts That Once We Had von Thom Andersen ist ein Verwandter des Films.

Es gibt zugleich eine Relevanz der Bilder und deren Flüchtigkeit; Bilder sind wie Geschichte, sie schreiben sich, sie werden geschrieben, sie existieren, aber nicht immer. Sie müssen projiziert werden, noch mehr, sie müssen gedacht werden. Wenn Godard Bilder zurück in unser Gedächtnis bringt, dann erinnert er uns auch an das Vergessen und die Bedrohung, die davon ausgeht.