Schattenfresser: Jaime von António Reis

Jaime von António Reis

Zum ersten Mal auf 35mm gesehen im Rahmen des Underdox Filmfestivals in München; einer der wenigen Filme, die nicht besser werden können durch das Darüber-Schreiben, man kann eigentlich nur schweigen, verarbeiten und wieder sehen. Ein Film, der einen verfolgt und in Beunruhigung nicht schlafen lässt.

Jaime ist einer von sechs Filmen, die der Poet und Filmlehrer António Reis realisiert hat. In den meisten Fällen und in Jaime zum ersten Mal entstanden die Arbeiten in enger Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin Margarida Cordeiro. Sie arbeitete auch als Psychiaterin und in diesem Beruf kam sie mit dem Leben und Werk des Landarbeiters Jaime Fernandes und in der Folge auch mit António Reis in Verbindung. Fernandes war über 38 Jahre Insasse einer psychiatrischen Klinik in Lissabon. Dort fertigte er in den letzten drei Jahren seines Lebens zig außergewöhnliche, berührende, verstörende und wunderschöne Zeichnungen an. Der Film arbeitet wie ein Porträt des verstorbenen Künstlers, darf aber nicht mit einem solchen verwechselt werden. Statt einer Bloßstellung oder Romantisierung erleben wir die Kunst einer Annäherung, die verstehen will. Statt einer naheliegenden Erzählung von der Engführung einer psychischen Krankheit und schöpferischer Kraft, wählt Jaime die Poesie einer Einsamkeit in der Entstehung von Kunst. Statt dem Zeigen von kranken Menschen löst er die Dichotomie zwischen krank und gesund auf.

Jaime von António Reis

Wie macht man ein solches Leben spürbar? Fernandes litt an Paranoider Schizophrenie und begann nach seinem 60. Geburtstag Bilder zu malen mit einfachen Stiften oder Streichhölzern, die er in Quecksilber eintunkte. Diese wurden später in bedeutenden Orten in Portugal ausgestellt. Reis zeigt mit Ausnahme einer von der Zeit angefressenen Fotografie aus den Internatstagen des Protagonisten zu Beginn und am Ende des Films kein Bild von Fernandes, er versucht nichts zu repräsentieren oder nachzuerzählen. Es gibt keine Gespräche mit Menschen, die sich an Fernandes erinnern. Stattdessen hört er auf die Schatten zwischen den Bildern, die sich von selbst erinnern, lässt Ton und Bild in dissonanten Harmonien auseinander gleiten, traumwandelt durch Fragmente der Bilder und Aufzeichnungen von Fernandes. Er filmt das, was noch da ist, was überlebt und bleibt. Ein materialistischer Ansatz, der ganz offenbar auf etwas aus ist, was nicht materialistisch ist: Wahnsinn und Schönheit; etwas das immer da war, aber so „als würde die Zeit nicht existieren“, wie Manoel de Oliveira, an dessen Acto da Primavera Reis als Assistent arbeitete, es einmal formulierte.

Gleich zu Beginn erscheint die Psychiatrie wie ein Gefängnis. Ein stiller Horror eingesperrter Sehnsüchte, man könnte an Jean Genet denken, nur dass die Provokation von Jaime nicht sexuell sondern humanistisch ist. Schatten lungern an den vertrockneten Wänden im Hof, die Insassen befinden sich in einer Kreisform, die Michel Foucault in Ekstase versetzt hätte. João César Monteiro griff diese Bilder zu Beginn von Jaime in seinem Recordações da Casa Amarela wieder auf. Die Endlosigkeit manifestiert sich hier bereits in einer Ausweglosigkeit. Die Schnitte zwischen den Bildern erscheinen ungemein sanft und vorsichtig. Gleich zu Beginn blicken wir durch einen Cache wie durch ein Schlüsselloch in den Hof der Psychiatrie. Aus den Notizen von Fernandes wurde vorher mit gleicher Strategie ein Zitat entnommen. Ein Cache stellt ein Zitat heraus. Dieser Vorgang wiederholt sich durch den ganzen Film. Man liest hervorgehobene Sätze aus dem Notizbuch: „Jaime ist hier bereits achtmal gestorben.“. Dieser Cache steht zum einen für die Neugier der Filmemacher. Sie nähern sich an, blicken auf das, was von Fernandes bleibt (Bilder, Notizen, Orte, Gedanken; wie die verlorenen Steine, die ein Junge gesammelt hat bevor er verschwand) wie durch eine Lupe, treffen eine Auswahl. Zum andere aber steht er für all das, was sie nicht filmen oder sehen können. Er steht für die Moral einer solchen Annäherung; die Distanz, die man weiterhin wahren muss. Aus dem Off dringen manchmal Stimmen. Sie gehören der klagenden, nach ihrem Mann rufenden Witwe von Fernandes und einem befreundeten Insassen. Niemals würde sich Jaime erlauben etwas über seinen abwesenden Protagonisten zu sagen. In keiner Sekunde des Films vergisst man, dass es eine Distanz zwischen den Blickenden und dem Verstorbenen gibt. In ihrem Film Ana trieben Cordeiro und Reis diese Ethik der poetisch-anthropologischen Annäherung auf eine beeindruckende Spitze. Es geht hier nicht darum, eine Freakshow zu zelebrieren. Vielmehr vermag das Kino zu ehren wie man Menschen ansehen könnte. In einem wunderbaren Interview mit João César Monteiro spricht Reis über seine ersten Erfahrungen mit dem Kino. Er erzählt von der Suche nach einem strategischem Punkt für die Camcorder beim Filmen einer öffentlichen Veranstaltung im Rahmen einer Gruppenarbeit in einem jungen Filmclub in Porto. Dabei betont er die geographische Vermessung und die Wichtigkeit des Nicht-Störens der Öffentlichkeit.

Diese Ethik, die durchaus vergleichbar ist mit jener von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, hat etwas Strenges an sich, etwas Einschüchterndes. Ihr Problem ist nur, dass ihre härtesten Vertreter nichts anders neben sich akzeptieren. So und nicht anders, sagen sie. Die Idee eines einzigen Punktes, von dem aus man ein gerechtes Bild eines Menschen machen könnte, ist verführend. Ist sie aber auch richtig? Es lässt sich wohl mit Sicherheit sagen, dass ein solcher Punkt nicht willkürlich gewählt werden darf. Allerdings scheint mir dieser Punkt im gleichen Maße an den Filmenden zu hängen wie an den Gefilmten. Will heißen, dass es dabei um eine Relation geht, die keinen einen fairen Punkt zulässt, sondern eine unendliche Anzahl an möglichen Gerechtigkeiten. Allerdings nur eine für die Relation zwischen diesem individuellen Filmenden und seinen Protagonisten in ihrer jeweiligen Zeit und vor den jeweiligen Umständen. Das große, an dieser Stelle immer genannte Beispiel ist die Kamerafahrt in Kapò von Gillo Pontecorvo. Jacques Rivette, der das Kino von Cordeiro und Reis sehr schätzte, hatte sich in einem Text für die Cahiers du Cinéma Nr. 120, der seither von Anhängern und Skeptikern gleichermaßen missbraucht wurde, gegen eine Zufahrt auf das Gesicht von Emmanuelle Riva ausgesprochen. Ohne auf die Details eingehen zu wollen, ging es ihm vereinfacht um die Ungerechtigkeit dieser Einstellung. Etwas zwischen Filmenden und seinem Subjekt war für Rivette über eine moralische Grenze getreten. Entscheidend dabei scheint mir aber nicht nur, dass Pontecorvo mit einer Kamera auf eine Schauspielerin zufuhr, die einen Selbstmord in einem Elektrozaun vorspielte, sondern dass Pontecorvo derjenige war, der dies tat. Ihn loszulösen von seiner subjektiven Position und zu behaupten, dass es eine grundsätzlich ungerechte Position gibt, auch wenn ich Rivette Recht gebe (was etwas aus der Mode geraten ist), dass diese Einstellung hochproblematisch ist, ist absurd. Diese Absurdität jedoch ist ambivalent, weil in ihrem Drang nach objektiven Wahrheiten auch ein Funken Wahrheit steckt. Luc Moullet etwa schlug einige Jahre früher bereits vor, dass Moral eine Sache der Kamerafahrten wäre. Tatsächlich spiegeln sich in Kamerabewegungen Modi der Annäherung und Distanz. Entscheidet man sich etwas näher anzusehen oder nicht? Auch existiert ein großer Unterschied, ob man in eine Nahaufnahme schneidet oder in sie fährt.

Jaime von António Reis

Die Distanz aus der Reis die Insassen zu Beginn des Films beobachtet, mit leichten Schwenks, nie näher kommend, nur registrierend, erzählt tatsächlich von einer enormen Vorsicht. Die Schatten im Hof schützen die Menschen vor der Neugier der Kamera. Vergleicht man diese Bilder zum Beispiel mit jenen von Raymond Depardons San Clemente spürt man einen enormen Unterschied. Depardon wirft sich mitten hinein in die Welt eines Irrenhauses. Jedoch ist sein Ansatz ethisch auf keinen Fall verfehlt. Es kann ja nicht darum gehen, dass man keine Bilder machen darf von etwas. In den vielen Streitereien zwischen Jean-Luc Godard und Claude Lanzmann ging es oft genau darum. Was darf man filmen und was darf man nicht filmen bezüglich des Holocausts? Godard hielt daran fest, dass man niemanden verbieten sollte, etwas zu filmen. Ruth Beckermann sagt in ihrem Voice-Over in Die papierene Brücke, dass man manche Dinge besser nicht filme, weil sie dann Erinnerung blieben. Ein Film wie Saul fia von László Nemes kennt gar keine Skrupel und glaubt, dass er filmisch die Erfahrung eines Konzentrationslagers wiedergeben kann. Allerdings ist eine der wenigen wichtigen Rollen, die das Kino in dieser bilderüberfluteten Zeit noch einnehmen kann, jene, die den Umgang mit Bildern bewusst macht, lehrt und ihm Gewicht verleiht. Eine Ethik im Umgang mit Bildern ist angebracht und notwendig. Ein Kino, das den blinden Durst nach Bildern frönt, hat keine Bedeutung. Ganz anders ist es bei Cordeiro und Reis, die auch deshalb so relevant heute sind. Für Reis war es in der Poesie und auch im Kino immer wichtig, nur das zu sagen und zu zeigen, was wirklich notwendig ist. Die Dialoge, die er für Paulo Rochas Mudar de Vida schrieb, erzählen von dieser Sparsamkeit, die zur Essenz dringen möchte und sich offen hält, zuzuhören.

Jaime baut Kontrapunkte zwischen Bild und Musik (Stockhausen,Telemann und Louis Armstrongs St. James Infirmary Blues). Es kommt zu überraschenden Verschmelzungen der Lebensumstände des Verstorbenen mit dem Kino, der Zeichnungen mit einer surrealistischen Vision der Welt, des Lebens mit dem Versuch es in Bildern zu beschreiben, von Wahnsinn und Schönheit. In gleicher Weise arbeitet auch die Tonebene, die wie ein Ruf aus dem ländlichen Ursprung von Fernandes von Wind und Wasser erzählt. Man spürt wie sich eine Narbe öffnet, die man nicht mehr schließen kann. Was wir sehen, sind die Wunden, die geblieben sind. Wir sehen sie im Fließen des Wassers des Flusses Zêzere in der Heimat von Fernandes, sicherlich ein Bild des Lebens, aber so fern durch die ausgetrockneten Kakteen vor der Psychiatrie. Fernandes wuchs am Fluss auf, fischte viel. Diese Aspekte werden nicht erwähnt vom Film, aber man kann sie später in seinen Bildern sehen: Das Fließen, den Strudel. Wir sehen Menschen, die gleich Skulpturen auf ihre Erlösung warten (Reis arbeitete auch als Skulpteur). Immer wieder Gegensätze wie jenes von Gittern und einer Katze, die einfach durch sie hindurchgeht. Ebenso plötzliche surreale, metaphysische Bilder wie das eines Regenschirms unter dem Getreidekörner liegen oder von drei Äpfeln, die golden glänzend von der Decke baumeln. Die Montage folgt nicht einem kausalem und schon gar nicht einem temporalen Prinzip. Man könnte von einer Aufzählung der Dinge sprechen, dem beinahe tragischen Versuch etwas zu verstehen durch das Sehen. Es ist auch der Versuch die Bilder von ihrer Banalität gegenüber komplexen Vorgängen zu befreien. Bilder treten wie Worte in Gedichten in einen größeren mythologischen Zusammenhang. Die allgegenwärtige Angst vor der kinematographischen Metapher ist Reis unbekannt. Er dynamisiert seine filmischen Räume mit Bedeutungen. Erstaunlicherweise entsteht dadurch der Eindruck eines biographischen, in Ansätzen gar psychologischen Mosaiks. Reis selbst wehrte sich gegen solche Begriffe. Für ihn waren es Erinnerungen, nicht Dokumentationen. Auf diese Weise dokumentiert er Erinnerungen.

Jaime von António Reis

Woraus entstehen diese Bilder? Jene von Fernandes und jene des Films? Die Bilder beginnen die Welt zu bevölkern. Dämonen und Mischwesen sind darauf zu sehen, ihre starrenden Gesichter existieren mit einem Mal nicht in einem Vakuum, sondern im direkten Dialog mit der Welt, in der Fernandes lebte, in der Reis es später tat und in der wir es heute tun können. So filmt er zum Beispiel eine Ziege. Fernandes arbeitete als Ziegenhirte. Diese Ziege ist eingesperrt in einem dunklen Raum, wirkt etwas verloren. Sie beginnt ihren eigenen Schatten zu fressen. Monteiro bezeichnet sie in besagtem Interview, in gewohnt provokanter Manier, als die schönste Schauspielerin des portugiesischen Kinos. Reis selbst äußerte, dass die Menschen, die wir im Film sehen, jene, die geblieben sind, auch jene sind, die Fernandes malte. Das System von Reis knabbert an den Grenzen der Wahrnehmung. Die getrennten Bereiche zwischen scheinbar entgegensetzten Phänomenen wie eben Schönheit und Wahnsinn, aber auch Abstraktion und Natur werden durch die Gleichzeitigkeit von einer materialistischen Bildabfolge und einem beständigen Gegeneinander von Bild und Ton verknüpft. In dieser Hinsicht wird Jaime zu einem der größten Filme über Kunst und wie sie entsteht. Reis sammelt akribisch alles, was in ein Kunstwerk einfließen kann. Es ging ihm auch darum, die Kunstwerke selbst zu sammeln, da viele der Bilder von Fernandes zerstört wurden. Jeder Faden wird demütig aufgehoben und in feinsten Bewegungen präsentiert. So existieren die Bilder in der Natur, die Natur im Menschen und all das im Raum einer spürbaren Ungerechtigkeit und Einsamkeit.

Nach der Arbeit an diesem Film machten sich Cordeiro und Reis auf ihre für das portugiesische Kino von heute so entscheidende Hymne an die Vertriebenen, Trás-os-Montes zu realisieren. Ein Film, der wie ein schnell verloren gegangenes Gewissen der Nelkenrevolution den Blick abwendet von der intellektuellen Elite und stattdessen die Kehrseite ästhetischen Wohlstands beleuchtet in einer der ärmsten Regionen Europas. Jaime lässt sich in dieser Hinsicht als erster Klageruf verstehen. Aus den Tiefen einer als wahnsinnig erklärten Seele hört man Stimmen rufen und sie sind nicht einverstanden. Sie sind nicht einverstanden und machen einen anständigen Film.

Dedo de Dios: Le Livre d’Image von Jean-Luc Godard

Le livre d'image von Jean-Luc Godard

Zur Eröffnung des 13. Underdox-Filmfestivals in München wurde Jean-Luc Godards neuer Film Le Livre d’image gezeigt. Es war eine fehlerhafte Vorführung, denn das Münchner Filmmuseum ist nicht für die Vorführung (eine Dolby 7.1. Anlage wird benötigt) ausgerüstet. Der Film verwendet ein äußerst ausgeklügeltes Tonsystem, in dem etwa die Stimme von Godard einmal göttergleich aus allen Ecken schallt und mal wie aus einer Reihe weiter hinten flüsternd ertönt. Bild und Ton sind so heftig getrennt, dass man beinahe den Schmerz darin spürt. Es kam zu Aussetzern im Ton, die man durchaus für gewollt halten konnte. Sie waren es aber nicht, sodass ich nun über meine Kinoerfahrung mit dem Film aus einer beschränkten Position schreibe.

Ein wenig bittere Ironie liegt darin, denn wie das Publikum vor dem Beginn des Films informiert wurde, hatte der kürzlich verstorbene Enno Patalas die Soundanlage im Filmmuseum vor Jahrzehnten für einen Godard-Film, nämlich Allemagne 90 neuf zéro einbauen lassen. Dass sie nun ausgerechnet für einen Godard-Film nicht gut genug war, schmerzt. Letztlich hat es dem dekonstruktivistischen Denken der Bilder wenig Abbruch getan. Vielmehr hat es dem Bilderbuch noch eine weitere Ebene – wenn auch ungewollt – hinzugefügt. Dieses Fragmentieren der Tonebene ergab an mancher Stelle sogar eine wunderbare Verbindung mit Godards äußerst kritischem Umgang mit Untertiteln. Wie bereits in seinem Film socialisme wird lange nicht alles übersetzt; manchmal werden einem nur Schlagwörter zugeworfen. Das ist Absicht, denn der Filmemacher sucht den Dialog zwischen Bild und Ton als Text, nicht zwischen Text und Ton im Bild. Ein großer Fehler ist es trotzdem, dass dieser Film in diesem Kino so gezeigt wurde und die Tatsache, dass sich viele Zuseher (mich eingeschlossen) nicht sicher waren, ob das gewollt war oder nicht, ändert nichts daran, dass man einen Film so zeigen sollte wie intendiert.

Le livre d'image von Jean-Luc Godard

In Cannes, wo der Film seine Uraufführung erlebte und mit einem Spezialpreis bedacht wurde, äußerten sich bereits viele Schreibende über die Schwierigkeit, einem Godard-Film mit Worten zu begegnen. Beschreibungen entzieht sich sein Kino seit vielen Jahren und ein langsames Verstehen stellt sich oft erst nach mehreren Sichtungen ein. Daher wage ich einen Versuch, der als fortlaufend zu verstehen ist. Die folgenden Notizen werde ich in den kommenden Wochen immer wieder ergänzen:

Es ist wieder so bei Godard, dass man am Ende des Films auf neue Weise erfahren hat, was das Kino war, ist und sein könnte.

Am Anfang ein schriller Frequenz-Ton. Er ist ein Weckruf oder ein Signal für den eingetretenen Tod. Wo beginnt der Film? Im Schwellenbereich zwischen einem Ende und einem Anfang. Es folgt ein schwarzes Bild. Es scheint, als wäre es das gewesen, schon bevor es beginnt. Dann erscheint ein Zeigefinger, der gleich dem Dedo de Dios bei Puerto de las Nieves auf Gran Canaria wie eine Warnung oder ein Hinweis aus dem Schwarz des Kinomeeres zu uns spricht. Wir müssen aufpassen, wir sind gefragt.

Bei seiner Veröffentlichung hatte ich Alexander Horwaths Text „Das Versprechen des Kinos“ auf Perlentaucher, ob seines kulturpessimistischen und in meiner Wahrnehmung konstruiert hoffnungsvollen Ton nicht ganz verstanden. Nach dem Sehen von Le Livre d’Image ist mir der Text näher. Ich habe das Gefühl, dass es gleichermaßen um eine Rückversicherung geht, wie um eine Korrektur der Erwartungen. Der Text liest sich wie eine Ergänzung zu Godard. Vieles ist anders, aber manches überschneidet sich. Das Kino bewegt sich gefühlt seit Jahrzehnten auf ein Ende zu, vor allem auf sein eigenes. Die einen springen auf diesen Zug auf, die anderen leugnen ihn. Die Wahrheit könnte irgendwo in der Mitte liegen. Kein Ende, aber auch kein Anfang. Nostalgie einer Utopie.

Die Zersetzung der Bilder wird gefeiert, bedauert und dokumentiert. Godard kennt keine Grenzen im Umgang mit Fremdmaterial. Statt der weiterverbreiteten, von Filmarchiven, Online-Zensoren und Rechtsinhabern propagierten Dominanz des intellektuellen Besitzes vertritt er eine Politik der Aneignung. Bilder und Zitate sind Teil eines kollektiven Denkens. Sie auf Autoren und Autorinnen zu reduzieren, hält den möglichen Fortschritt auf, den wir aus ihnen gewinnen könnten.

Der Film besteht aus fünf Kapiteln. Fünf Kapitel wie Finger an der Hand. Godard nimmt dieses Motiv der Hand wieder auf. Es spiegelt sich in den Kapiteln, dem warnenden Finger zu Beginn und dem Halten eines Filmstreifens als durchgehendes Motiv im Film. Die Hand, die baut, die Hand, die zerstört.
1. Remakes
2. Les Soirées de St. Pétersbourg
3. Ces fleurs entre dans les rails, dans le vent confus des voyages.
4. L’esprit des lois
5. La région centrale

Zitat des ägyptischen Kritikers Joseph Fahim in einem Text von Bilge Ebiri: “The last chapter of The Image Book transpires as a deconstruction not only of the Arab narrative imparted by the West since the invention of cinema, but of the occidental control of cinema history. Arab cinema has always been ignored by Western historians and academics. The images introduced by Godard in here are unknown to most Western critics who waxed poetic about the film.”

Le livre d'image von Jean-Luc Godard

Der Film gleicht einer verzweifelten, virtuosen Suche nach einer womöglich verloren gegangenen Verbindung zwischen Bildern und der Realität. Es ist das alte Thema von André Bazin und der Nouvelle Vague. Was haben die Bilder mit der Welt zu tun? Godard montiert ganz bewusst Bilder aus westlichen Filmen mit „realen“ Bildern von Terrorakten. Mehr noch als die Art und Weise zu hinterfragen, in der Bilder gemacht werden, wird offengelegt wie Bilder gesehen werden. Es wirkt ein wenig so, als würde der Film rückblickend untersuchen, welche Fehler wir als westliche (Kino-) Welt in dieser Verbindung zwischen Repräsentation und Realität gemacht haben. Das letzte Kapitel, benannt nach Michael Snows Film, beschäftigt sich dann mit der arabischen Welt und den Bildern, die wir davon haben und nicht haben in unserem kulturellen Gedächtnis. Es ist der Vorschlag einer Korrektur oder zumindest die Recherche einer möglichen Korrektur.

Da Godard auch Bilder seiner eigenen Filme verwendet und manches fragiles Seufzen und wütendes Befragen aus dem Hintergrund an seine Histoire(s) du cinéma erinnert, entsteht der Eindruck einer notwendigen Redundanz. Sie ist notwendig, weil der Film in seiner collageartigen Anordnung von Bildern (zum Beispiel mit den politischen/kinematographischen/poetischen Themen Zugfahren oder Wasser) von der Wiederholung der Geschichte erzählt. Den gleichen Fehlern, den gleichen Denkweisen zwischen Kolonialisierung und Krieg. Selten hat man diese Fehler so präzise anhand und in und durch Bilder gesehen.

An einer Stelle geht es um den sich öffnenden Krater zwischen dem gewaltvollen Akt der Repräsentation und der Ruhe der Repräsentation selbst. Die Kamera, die ruhig und friedlich filmt wie die Erde erschüttert wird. Nicht nur darin regt sich ein immenser Zweifel an Bildern. Gleichzeitig also gibt es hier ein Denken, das abhängig ist von Bildern, die die Geschichte von mindestens einem Jahrhundert in sich tragen und zum anderen ein Gefangensein in diesen Bildern und dem, was sie von der Welt vermitteln können. Was wäre denn ein aufgeregtes, echauffiertes, engagiertes Bild? Würden wir dieses Bild akzeptieren?

Godards Lösung sind Fragmente. Le Livre d’Image besteht aus unzähligen Fragmenten aus Literatur, Kunst und Film. Jean Vigo, Victor Hugo, Bertolt Brecht, Nicholas Ray, Hollis Frampton, Max Ophüls (das Ende des Films, ein Todestanz aus Le plaisir, erzählt von jenem Tanz zwischen Schönheit und Tod, die den ganzen Film heimsucht), Dziga Vertov, Edward Saïd, Honoré de Balzac, Rainer Maria Rilke, Arthur Rimbaud, Nicholas de Staël, André Derain, Albert Cossery oder Masaccio. Er findet im Detail, in der kleinen Sekunde Wahrheiten, die sich nur dann zusammenfügen, wenn man dem eigenen Impuls widersteht, alles zusammenfügen zu wollen. Nicht die Zuordnung ist erfordert (denn der Film trifft seine eigenen, subjektiven Zuordnungen), sondern ein Sich-Einlassen, ein Neu-Schreiben von Bildern. Dennoch glaubt man – und hier liegt durchaus ein Problem des Films – dass man mehr erfahren würde, wenn man sämtliche Anspielungen und Bilder richtig einordnen könnte, wenn man alles verstehen würde. Ist das aber so?

Man spürt durchgehend, wer einem diese Bilder zeigt. Noch mehr sogar, mit wem man diese Bilder sieht. Le Livre d’Image ist eine Schule des Sehens, wobei bereits für einen mit anderen Augen gesehen wurde. Man muss also nur noch die Augen öffnen und mit den gleichen geöffneten Augen andere Bilder, als jene des Films sehen. Diese Vermischung aus passiver Betörung, die der Film, ob seiner beinahe hypnotisierenden Qualitäten durchaus versprüht und sinnlicher Aktivierung hängt zusammen mit dem fundamentalen Konflikt im Kino von Godard. Jenem zwischen der Liebe zum Kino und dessen Ende. In dieser Hinsicht ist der Film auch eine Erinnerung an die Utopie einer Cinephilie. The Thoughts That Once We Had von Thom Andersen ist ein Verwandter des Films.

Es gibt zugleich eine Relevanz der Bilder und deren Flüchtigkeit; Bilder sind wie Geschichte, sie schreiben sich, sie werden geschrieben, sie existieren, aber nicht immer. Sie müssen projiziert werden, noch mehr, sie müssen gedacht werden. Wenn Godard Bilder zurück in unser Gedächtnis bringt, dann erinnert er uns auch an das Vergessen und die Bedrohung, die davon ausgeht.

Underdox Tag 3: Werkstattkino

Mein erster Ausflug ins Werkstattkino, im Regen. Blutige Underdox-Plakate tropfen vom Eingang, der geheimnisvoll, verlockend in den Keller führt. Einige Gestalten lungern rauchend dort unten an den Treppen, Fahrräder im Hof wirken so, als wären sie immer dort gewesen. Es ist gemaltes Bild, das trotzdem gefährlich wirkt. Ich habe das Gefühl, dass ich durch einige dicke Vorhänge gehen muss, um ins Kino zu kommen, aber das ist eine Täuschung. Diese Vorhänge sind in der Luft, sie sind die Schwelle in eine andere Welt. Schon den Hof erreicht man durch eine große Tür von der Frauenhoferstraße, die in alles führen könnte. Sie führt in einen Hof im Regen, man sieht ein Schild, einen Eingang in den Keller. Es wirkt handgemacht. Jemand raucht, sieht mich an, ich habe ihn am Vortag gesehen. Wir sprechen nicht. Da sitzt auch jemand und liest im Regen. Ich hatte ihn zuerst nicht gesehen. Er schaut mich nicht an. Und zwei Frauen unterhalten sich durch ein Fenster. Sie scheinen an diesem Fenster zu leben, nur dort. Es ist diese Art von Dialog, die man nicht hören kann in der Erinnerung. Sie sind wie eine Kulisse, gefrorene Frauen aus Duras, Statuen. Ich gehe also in den Keller, die Stufen hinab, schaue die Plakate an. Sie ergeben ein Muster, ich erkenne nicht welches. Dort sitzen junge Fassbinder-Männer mit Lederjacken, sie rauchen an der Treppe, dort kann man auch sitzen. Vor und doch schon im Kino. Sie werden ihre Jacken im Kino nicht ausziehen. Die Jacken reflektieren rot, weil die Wände rot sind. Ich gehe durch die Vorhänge und lande im Vorraum. Man zögert dort, weil es so direkt ist. Vor mir die Kasse und neben ihr das Kino. Das ist es, man sieht, für was man bezahlt, ein Mann sitzt dort wie neben einer Attraktion im Prater. Du kannst ihn bezahlen und ihn dann passieren, es ist eine Pforte. Hier ist das Kino, hier ist der Eingang. Du kannst es dir noch überlegen, es sieht gefährlich aus, die Männer draußen rauchen, die Wände sind rot. Ich gehe noch mal hinaus in den kalten Regen. Nicht, weil ich nicht hinein will, sondern weil ich noch Zeit habe. Zeit für diese Treppen, diese Poster. Es ist ein Kino, denke ich mir und frage mich, warum man immer dieses Gefühl von „Kino“ hat, wenn es ein Gefühl des Untergrunds gibt, etwas Verbotenes, Freies. Ich gehe auch gerne in institutionelle Kinos, in große Kinos. Aber die wirklichen Schätze, das wirklich Verborgene, das meine ich immer dort finden zu können. Es ist nur ein Eindruck, keine Statistik.

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@ Heimat-Film

Es fühlt sich besonders an, dort zu sein. Wenn einen ab einem gewissen Alter die Größe der Leinwand kühl lässt, sind es diese Augenblicke, die zeigen, dass Kino weniger mit Festlichkeit zu tun hat, als mit Verdorbenheit. Mit dieser Vorstellung davon, dass man etwas mit anderen alleine entdeckt. Hier ist noch nichts entdeckt worden, hier wird noch entdeckt. Das Werkstattkino also, eine Widerstandsbewegung nahe an der Isar, dieser Fluss, der schon so viele Filme hat ertrinken sehen. Die Männer dort sehen sich an. Ich stelle mir vor wie sie auf Motorrädern angekommen sind, aus dem München einer anderen Zeit. Sie leben immer in der Nacht. Ich stelle mir vor, dass die Hände des Projektionisten voll mit roter Farbe sind, er hat gestrichen. Er berührt den Film, der dreckiger flimmert und echter. Ich stelle mir das nur vor, denn gezeigt wird ein digitaler Film. Die Toilette ist nicht mehr als drei Meter von den Kinositzen entfernt. Eine dünne Tür trennt sie vom Kino. Wenn es auf der Leinwand tropft, könnte es auch täuschen. Ich gehe wieder hinein. Einige Gestalten sitzen dort stumm. Man sieht nur ihre Augen in schwarzen Gesichtern. Sie sitzen dort und aus ihren Augenecken sehe ich diese cinephile Neugier, diese nach Zugehörigkeit suchende Sehnsucht. Der Kinosaal ist wie die schwarze Seele, die nach der roten Zunge dieser Treppen und des Vorraums kommt. Eine schwarze Seele, die nur vom Weiß der Leinwand erleuchtet wird. Man verfällt in diese Beschreibungen, wenn man in einem Kino ist. Es gibt Kinos, in denen spürt man die Geschichte durch eine Art Aura, die von Erhabenheit und Größe erzählt. Wenn ein Kino nach Debussy benannt ist, dann wird man das fühlen, die Größe des Theaters auch, die Menschen, die dort waren. Im Werkstattkino mit den Fassbinder-Jungs ist das nicht so, dort ist die Geschichte etwas anderes. Sie ist eine Sache der Zuseher, ihrer Spuren, ihrer Bewegungen, ihrer Geräusche, ihres Geruchs. Eine Werkstatt eben.  Ein Ort, an dem Menschen gearbeitet, gelitten und gelacht haben, an dem sie frei waren und mit einem Gegenstand, den man Kino genannt hat. Nicht dass, was auf der Leinwand passiert, ist in einem solchen Kino entscheidend, sondern dass es passiert. Da ist dann wirklich ein schwarzer Vorhang, er trennt bei Beginn der Vorführung den Vorraum vom Kino. Man wird allein gelassen, die Fahrt beginnt. Ab und zu huscht ein Lichtstück durch die offene Stelle am Vorhang und man wird durch dieses Licht erinnert, dass es eine andere Welt gegeben hat, draußen im Hof mit den beiden starren Frauen, den Fahrrädern, dem Regen. Die Menschen sitzen so, dass sie sich nicht behindern, denn die Blickfreiheit ist nicht automatisch gegeben. Es ist sicher kein perfekter Ort für das Kino, es ist die Energie, die man spürt, um es trotzdem zu machen, die einen so berühren kann. Diese Augen sind dort zusammen, weil der Ort es erlaubt. Es gibt Orte, an denen wird das Kino verkauft, an diesem Ort wird Kino gemacht oder auch: Man lässt das Kino machen.

Underdox Tag 2: Feuerhelden

Im vom Wind bedrohten Feuerlicht von Wang Bings Ta‘ang sammeln sich die großen Helden des Kinos. Es sind Jimmy Stewarts und Gene Tierneys 2016, es sind Flüchtlinge aus Myanmar, die über die chinesische Grenze gekommen sind oder kommen. Bing folgt den Figuren in seinem bekannten Direct Cinema Modus und offenbart die vielschichtige Fähigkeit des Kinos zu Zeigen, zu Beobachten. Gleichzeitig erzählt er aber von wirklichen Helden, Helden, die es so im Kino nicht mehr gibt, denn ein Kinoheld muss heute gebrochen werden. Diese Helden sind schon gebrochen und wenn Bing sie durch das Feuer kadriert, im orangefarbenen Licht und dieses Licht im Stil von Pedro Costa schützend vor sie hält, bekommen sie für einige Momente das Kino geschenkt, das Kino als gelungene Flucht in die Realität. Und das Kino bekommt echte Helden geschenkt, solche die ganz sie selbst sind und sich jederzeit übersteigen.

Was ist ein Held auf dem Underdox? Es ist eine ernst gemeinte Frage auf einem Festival, dass sich experimentellen und dokumentarischen Formen des Kinos widmet. Sind die Helden, diejenigen, die solche Filme zeigen? Sind es die, die sie besuchen? Die, die diese Filme machen? Ist es der geteilte Moment, in dem diese Filme möglich sind, in dem das Licht (das Feuer) im Kino entzündet wird, kurz vor dem Erlöschen wie in einer bemerkenswerten Szene in Ta‘ang, in der eine stumme Person sich nur im Licht artikulieren kann, Licht, das von einer Kerze kommt, die immer beinahe erlischt im Wind, die irgendwie am Leben gehalten wird wie alles in diesem Stimmungsbild einer Welt, die wir verdrängen und in sich gegenseitig ausschlachtenden Klischees ordnen? Das Festival ist besser besucht, als ich erwartet habe. Auch wenn man nie von gefüllten Kinos sprechen kann. Egal was man denkt, diese Zeit, um diese Dinge wirklich zu betrachten, gibt es immer noch nur im Kino. Diese Zeit ist also wirklich ein Held. Vor allem, weil sie auch, wie diese Flüchtenden, wie die Helden des modernen Kinos, gebrochen wird. Die gebrochene Zeit, zum Beispiel in Daïchi Saïtos Trees of Syntax, Leaves of Axis Variations- und Wiederholungssystem, dem mathematisch den Raum penetrierenden Modus einer Martin-Arnold-Fantasie in Farben. Der Held hier ist die Wahrnehmung, die dieses System transzendiert. Ein Film, der den Spruch „Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht“ zu einem Montageprinzip erhebt. Der Single-Frame ist einer der wichtigsten Techniken dieses Films, er hat schon lange wieder Hochkonjunktur, er ist ein Held des Kinos. Vielleicht auch, weil er etwas mit der Zeit macht, der Zeit des Kinos, der Zeit im Kino.

axis

Trees of Syntax, Leaves of Axis

In Karl Lemieux‘ (ein spannender Filmemacher aus den zwei wunderbaren Programmen zum Experimentalkino in Québec, die leider nicht komplett analog projiziert wurden, was dem Publikum zumindest sehr transparent kommuniziert wurde, aber trotzdem wehtut) Quiet Zone sagt eine Stimme, dass sie die Menschen in den Bergen fühlen könne. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Berge selbst, die Bäume. Dieser Held, der der von diesem Kino evoziert wird, ist die Wahrnehmung. Der größte Held des Kinos. Die Kanadier  auf dem Underdox arbeiten oft ziemlich direkt damit, sie benutzen Verformungen des Materials als Metaphern für Wahrnehmungen und ihre Verunklarungen. Das betrifft zum Beispiel Müdigkeit, Rauscherfahrungen oder das Verschwimmen der Erinnerung. Häufig arbeiten die Künstler dabei für meinen Geschmack etwas zu nah an der Logik von Musikvideos, sie machen auch Musikvideos. Dadurch werden zwar bestimmte Wahrnehmungswelten ausgedrückt, aber letztlich fehlt es an der kinematographischen Strenge und Arbeit mit dem Kino, die es eben zum Beispiel bei Daïchi Saïto gibt. In den besten Momenten ist es ein Kino des materiellen und sinnlichen Verfalls im Stil eines Bill Morrison, im schlechteren Fall sind es visuelle Untermalungen für gute Musik. Das gilt beispielsweise für Charles-André Coderre und dessen Arbeit mit Jerusalem in My Heart.

Die Wahrnehmung spielt auch eine besondere Rolle in den beiden kurzen, konzeptuell angehauchten und gewohnt hipsterfreundlichen Arbeiten von Denis Côté, die im zweiten Programm gezeigt wurden. In Tennesse ist es die nahe, fast dreckige Bildsprache und das extrem aufgesetzte Tondesign, das eine Geschichte der vergangenen Nacht erzählt, die es vielleicht gar nicht gab, als eine Hotelangestellte ein Zimmer reinigt. Auch wenn dieser Film nicht ganz in sich aufgeht, so erzählt er dich von einer Sehnsucht in der Diskrepanz zwischen der Erwartung an das, was Geschichten (und damit auch Helden) sind und das, was das Kino damit machen kann.  Dass diese Wahrnehmung des Kinos ist, zeigt zum Beispiel Alexandre Larose in seinem Le corps humain (introduction: la génération), in dem er Familienbilder in wackelnden Frames übereinander, ineinander oder doch nacheinander legt, sodass sie verschwimmen. Im Zentrum steht dabei immer seine Nichte, wobei ein Kommentar aus dem Off das Vorgehen erläutert. Es gäbe sicherlich noch mehr zu schreiben über die reiche Avantgarde-Szene in Québec. Gerade im Vergleich zur österreichischen Avantgarde fällt auf, dass den Filmemachern dieser Szene oft eine gewisse Strenge und tatsächlich avantgardistische Arbeit mit der Form fehlt. Allerdings ist das etwas, was man in der jüngeren Generation in Österreich auch bemerken kann. Statt dieser formalen Kraft gibt es oft eher ein Spiel mit Material und Stimmung, Musik und Wahrnehmung. Daher wirken manche der Arbeiten nicht notwendigerweise für das Kinodispositiv gemacht. Es ist ein Kino, das weniger die Wahrnehmung im Sinn eines Apparats thematisiert und hinterfragt, sondern sich direkt mit dieser identifiziert, in sie eindringt, weil sie der Held dieses Kinos ist: Verbrannte Filmkörper, deformierte Filmkörper, fliehende Filmkörper, rauschhafte Filmkörper nicht durch das Feuer, sondern im Projektor.

Underdox Tag 1: Meta-Surrealismus

Bei der Eröffnung des 11. Underdox Filmfestivals in München, das ich zum ersten Mal besuche, musste ich, wie häufiger in den letzten Wochen, an Serge Daneys Feststellung denken: Das Theater ist eine Gesellschaft, das Kino ist die Welt. Ich musste daran denken, weil ich mich wie in einer Gesellschaft fühlte. Vielleicht liegt es daran, dass ich als so etwas wie ein Fremder an diesen Ort kam. Ich kannte dort niemanden, aber hatte das Gefühl, dass sich alle anderen kannten. Herzliche Umarmungen, lachende, kennende Gesichter. man wusste, wo man war, keine Neugier, nur Verständnis. Das ist schon erschreckend, schließlich kenne ich das Filmmuseum in München. Aber dort wird eine andere Sprache gesprochen. Das ist normal, werden manche sagen, aber ich habe Kinos gesehen, in denen man sofort zu Hause ist. Wie so oft war München für mich sofort eine Gesellschaft, nicht die Welt. Vielleicht lag es auch daran, dass es eine Eröffnung war. Mit dem üblichen Gestus kultureller Feierlichkeit: Das Underdox, so so, ja und wie geht es der Mutter? Obwohl ich selten eine derart lockere, sympathische Einführung gesehen habe wie jene von Dunja Bialas und Bernd Brehmer, die das Festival leiten und kuratieren, wurde dieser Gestus nie ganz abgeschüttelt, der Kulturrat-Gestus, der die Festivalwelt beherrscht. Dann ist das Kino eine Gesellschaft, irgendein elitärer Haufen, der sich am Abend versammelt. Vielleicht aber ist es auch ein Freundeskreis und mir bekommt der Übergang eines industriellen Festivals wie in Hamburg zu einem viel wertvolleren wie jenem in München nicht.

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Gut, dass es dann immer noch das Kino gibt. Und da ist das Festival nicht erst dieses Jahr sehr, sehr gut aufgestellt. Gezeigt wurde nach einem kanadischen Film über schwere Augenlieder und ein Verschwinden der Bilder in Beirut, die ein analog bearbeitetes Spiel der Farben und Materialität etablieren, Granular Film – Beirut von Charles-André Coderre, im Rahmen des Quebec-Schwerpunkts auf dem Festival. Dazu werde ich wohl nach weiteren Programmen mehr schreiben können. Der eigentliche Eröffnungswerk des Festivals war Sixty-Six von Lewis Klahr, der auch anwesend war und sich sowohl filmisch als auch rhetorisch als eine Art Meta-Surrealist entpuppte. Klahr arbeitet mit Cut-Out Animationscollagen und es war meine erste Begegnung mit dieser faszinierenden Technik. Sein Film mischt griechische Mythologien mit amerikanischen Erinnerungsbildern der 1960er Jahre. Klahr gab den Zuseher vor Beginn der Vorführung eine Art Anleitung zum Sehen: Das solle man tun und das nicht. Sein Film wäre wie Musik, man dürfe nicht denken. Bei allem Respekt vor den zum Teil wunderbaren Dingen, die er sonst sagte: Ich schaue einen Film so wie ich möchte.

Die Erklärungen waren bei Sixty-Six auch gar nicht nötig, denn die Traumlandschaft zwischen Erinnerung und Vergessen entfaltet sich durch die andauernde Wiederkehr von Objekten, „Figuren“, Farben und Formen wie von selbst mit Leonhard Cohen, Claude Debussy und Gustav Mahler als Unterstützung. Der Film besteht aus zwölf rhythmisch atemberaubend montierten Kurzfilmen, die zusammen eine Art Mosaik ergeben, in dem sich die Sehnsucht nach dem Verlust der Erinnerung ausdrückt, eine Melancholie der Präsenz, ein Vergessen, das dann wieder auf den ersten Film des Abends zurück verwies. Zwischen den Filmen gibt es ein längeres schwarzes Bild, dann beginnt ein neuer Satz. Dabei kann man in Klahrs Film Geschichten erkennen und eine große Liebe zu bestimmten Hollywood-Filmen (der Film ist auch in Los Angeles angesiedelt, obwohl ich eher sagen würde, dass er in der Bildstimmung von Los Angeles angesiedelt ist), man kann aber auch einfach treiben in den Farben, dem Licht, dem wechselnden Licht und eine Erinnerung wandern sehen wie die auf- und untergehende Sonne. Statt die Erinnerung filmisch festzuhalten, bearbeitet Klahr ihr Entgleiten. Aber warum schreibe ich von Erinnerungen? Vielleicht weil Klahr darüber gesprochen hat, so wie Klahr über alles gesprochen hat und damit seinen eigenen Surrealismus, seine eigene Magie erklärte. Bei genauerer Betrachtung geschieht das aber bereits im Film. Das beste Beispiel sind die vielen runden Formen, Kreise und Knöpfe im Film. Sie tauchen immer wieder auf wie eine Sonnenfinsternis. Klahr sagte dazu, dass sie für ihn etwas abgeschlossenes seien, gleichzeitig fröhlich und traurig, eine Art Faden durch den Film. Nun erklärt ein solcher Satz zwar nicht vollkommen, was es mit dieser Sensation der Knöpfe auf sich hat, jedoch gibt er vor lesbar zu sein. Im Film selbst kommen diese Formen mit solcher Beständigkeit, Zügellosigkeit ins Bild, dass man sie (und hier ist die doppelte Bedeutung bewusst gesetzt) nicht vergessen kann. So eröffnet Sixty-Six auch konsequent mit einem übersetzten Zitat von Eluard und Breton:“Let the dreams you have forgotten equal the value of what you do not know.” Die Kreise erklären also wie das Zitat, dass wir etwas Surreales sehen, etwas aus dem Reich des Unbewussten.

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Diese Träume bestehen aus den reichen Texturen aus der Welt von Comic-Pulps, die oft mit Krankheiten, Infusionen und den Übergangswelten der 60er Jahre konfrontiert werden vor dem Hintergrund schwarz-weißer Fotografien stylisher 60s-Architektur. Ein sehnsüchtiger Traum einer Erinnerung an einen Noir-Film, der gleichzeitig von einer sinnlichen Mystik durchzogen wird; man denkt durchaus an Kiss Me Deadly von Robert Aldrich dabei, selbst wenn Klahr sich nie auf diese vernichtende Trockenheit einlassen würde. Ein einmaliges Sehen kann hier gar nicht genügen, da Sixty-Six voller spannender visueller Ideen steckt, äußerst versiert mit On- und Offscreen arbeitet und enorm dicht erzählt. Am eindrücklichsten ein Moment, in dem Klahr das gerade noch lebendige direkt auf seine Collagen legt: Ein echte sterbende Mücke, die über den Gesichter der Comicfiguren ihre letzten Atemzüge tut. Ein Bild, in dem das Gerade noch Lebende auf das wieder Lebende trifft so wie allgemein vieles im Film aus dieser Spannung und Entspannung zwischen Bewegung und Stillstand lebt, es ist wirklich Stop und Motion, nicht nur als Technik, sondern als mentale Zuckung.

Nun denn, das Kino als Welt, das Kino als Gesellschaft. Ein junger Mann saß auch im Kino, er war ganz aufgeregt. Er saß eine Reihe vor mir und zappelte während des gesamten Q&As nach dem Film aufgeregt herum. Er schien begeistert. Schließlich meldete er sich mit dem Hauch einer Frage, die eigentlich nur Begeisterung ausdrückte. Klahr sprang darauf an und bat daraufhin allen einen Dialog an. Entweder im Lauf des Abends, im Lauf des Festivals oder – und da wurde das Kino wieder die Welt, nicht nur für den Mann in der Reihe vor mir – in dem man ihm eine Mail schreiben solle und er dann gerne Links zu seinen Filmen verschicken würde, in einen Dialog treten wolle, weil er gemerkt habe, dass diese Art des Underdox-Kino, das experimentelle Kino oftmals wenige, aber diese dafür um so stärker ansprechen würde. Irgendwie wären diese Dinge auch alle ohne Erklärung gut, aber vielleicht ist das nur die Sehnsucht nach einem Verschwinden von Rahmen von jemanden, der glaubt, dass das Kino in der Welt wohnt statt die Welt im Kino.