Die Quadratur des Kinos

Was passt in ein Quadrat? Das fragte ich mich nach der Sichtung von Rick Alversons The Mountain in Venedig. Ein Film, der mir emblematisch für gewisse Tendenzen in jener Domäne der zeitgenössischen Laufbildwelt zu sein scheint, die manche „Kunstkino“ titulieren. Kurz nach der Filmpremiere las ich apropos einen Text, der durchaus überzeugend argumentierte, dass die Verwendung von Formulierungen wie „emblematisch für gewisse Tendenzen“ im Rahmen von Filmtexten etwas ausgesprochen Anmaßendes an sich hat. Mag sein. Dennoch bleibe ich in diesem Fall dabei.

The Mountain von Rick Alverson

Lassen Sie mich den Gedanken näher ausführen. The Mountain ist ein Film, der im sogenannten Academy Ratio gedreht wurde, d. h. 1,37:1, manchmal auch „Normalbild“ genannt. Die englische Bezeichnung verweist auf den Hollywood-Ursprung des Formats, das 1932 von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences als technischer Standard für Studioproduktionen festgelegt wurde. Ein Großteil dessen, was man heute „klassisches Hollywoodkino“ nennt, fügte sich in diese Form. Abweichungen fielen auf.

Mittlerweile gilt das Gegenteil. Bildformate von Filmen, die sich an ein breites Publikum richten, sind in der Regel selber breit, namentlich „widescreen“, entfalten sich also irgendwo zwischen 1,77:1 und 2,39:1. Alles, was erheblich schmaler wirkt, macht sich bemerkbar. Ein Superheldenblockbuster im Academy Ratio wäre gegenwärtig nur schwer vorstellbar: Er würde zu wenig „episch“ und „immersiv“ anmuten und einen nicht unbeträchtlichen Teil der intendierten Zuschauerschaft kraft seiner offenkundigen Andersartigkeit irritieren – zumindest temporär.

Inimi cicatrizate von Radu JudeJauja von Lisandro Alonso

Im „Kunstfilm“-Bereich, i. e. in Festival- und Programmkinogefilden, sieht die Sache buchstäblich anders aus. Auch hier fällt die Verwendung schmalerer Formate auf, doch sie wird meist als Stilmittel gewertet – als Teil der formalen Gesamtkonzeption eines Films, und manchmal sogar als subtiler Indikator von „Kunst“-igkeit per se. Die Rechnung geht wie folgt: Schmales Format (oder der Einsatz unterschiedlicher Formate innerhalb eines Films, siehe The Grand Budapest Hotel) = Filmemacher, die sich „was trauen“ bzw. Filmemacher, die sich über die Form ihrer Arbeit Gedanken machen = Kunst.

Ich nehme an, dass jede/r Regisseur/in auf die Frage, ob hinter der Nutzung eines schmalen Formats auch das Kalkül stehen könnte, eine „künstlerische“ Aura zu generieren, antworten würde, dass es sich hier wie bei der Wahl der Kameralinse oder des Speichermediums schlicht um eine ästhetische Technik handelt, mit der sich bestimmte Dinge ausdrücken lassen, die man anders womöglich nicht vermitteln könnte. Und sie/er hätten fraglos Recht. Dennoch habe ich den Eindruck, dass derzeit eine Verbindung besteht zwischen dem Gebrauch des Academy Ratios (oder vergleichbarer Schmalformate) und der Signalisierung einer gewissen Art von Raffinement.

The Grand Budapest Hotel von Wes Anderson

Oftmals geht der Wechsel zum Quadrat-Format nämlich mit anderen bildsprachlichen Veränderungen Hand in Hand, die ein gesteigertes Gefühl von „Qualität“ erzeugen: Eine kontrolliertere Mise en Scène; eine präzisere, stimmungsvollere Lichtsetzung und Farbgebung; eine angenehmere, samtigere Bildtextur; eine Vorliebe für symmetrische, zentrierte Kompositionen. The Mountain scheint mir im Vergleich zu Rick Alversons Vorgänger Entertainment ein gutes Beispiel für diese Art der Entwicklung zu sein. Ein anderes aus dem Venedig-Wettbewerb wäre Jennifer Kents The Nightingale in Kontrast zu ihrem Breitwand-Langfilmdebut The Babadook. Beide Filme repräsentieren überdies kraft ihrer Uraufführung im kompetitiven Rahmen eines bedeutenden A-Festivals einen symbolischen und prestigetechnischen Aufstieg ihrer Urheber in ein höheres Arthaus-Stockwerk. Ich möchte klarstellen: In beiden Fällen geht es mir nicht um die Unterstellung eines Kalküls, sondern um die Erläuterung einer Wahrnehmung.

Und zwar jene der Herausbildung und Verstetigung einer Ästhetik, die mir im „Kunstkino“-Bereich immer öfter unterkommt und bei mir oft bereits beim Anblick eines Fotogramms zur Kategorisierung des betreffenden Films als „künstlerisch ambitioniert“ führt – mit allen positiven und negativen Untertönen, die bei diesem Wort mitschwingen. Ein positiver ist, dass der Filmemacher seine Arbeit ernst nimmt. Ein eher negativer, dass es ihm ausgesprochen – und vielleicht sogar über alle Maßen – wichtig ist, dass seine Arbeit von einem spezifischen Publikum ernst genommen wird. Das Academy Ratio ist nicht ausschlaggebend für diese Kategorisierung, erhöht ihre Wahrscheinlichkeit aber wesentlich.

A Ghost Story von David Lowery Krizácek von Václav Kadrnka Skhvisi sakhli von Russudan Glurjidze Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

Hier eine unvollständige Liste völlig unterschiedlicher, jüngerer Schmalformat-Filme, die ich nahezu unwillkürlich auf diese Weise kategorisiert habe, manchmal noch bevor ich sie gesehen hatte (oder ohne sie zu sehen): Krizácek von Václav Kadrnka; Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier; A Ghost Story von David Lowery; Jauja von Lisandro Alonso; Classical Period von Ted Fendt; Skhvisi sakhli von Russudan Glurjidze; Der traumhafte Weg von Angela Schanelec; Inimi cicatrizate von Radu Jude; Notes on an Appearance von Ricky D’Ambrose; Post Tenebras Lux von Carlos Reygadas; Zimna wojna von Pawel Pawlikowski; The Assassin von Hou Hsiao-Hsien.

Alle diese Filme ticken anders und hatten, sofern ich sie gesehen habe, eine andere Wirkung auf mich. Bei den meisten von ihnen meine ich triftige künstlerische Gründe zu erkennen, warum sie sich für ihr Format entschieden haben. Doch der eigentümliche Nobilitierungseffekt, den das Schmalformat im Verbund mit einer Reihe von komplementären ästhetischen Markern erzeugt, wirkt unabhängig vom Film selbst. Er beeinflusst die Rezeption schon im Vorfeld oder schiebt sich ungefragt zwischen den Blick und den Gegenstand.

Dies ist weniger ein Vorwurf als eine (selbst-)kritische Notiz. Der Effekt ist zuvorderst eine Folge von Veränderungen im ästhetischen Diskurs des Kinos. Obwohl es vermessen wäre, Filmemachern pauschal eine Anwendung von „Veredelungstricks“ zu unterstellen, lässt sich derzeit die Entstehung diverser Distinktionsstrategien beobachten, die durch den digitalen Wandel aus Vermarktungssicht notwendig geworden sind, um den ästhetischen Mehrwert einzelner Filme deutlich zu kennzeichnen. Das filmische Material, dessen unnachahmliche Textur lange Zeit einiges zur Abgrenzung von „Kino-Qualität“ gegenüber stärker konsumorientierten Einwegbilderflüssen des Fernsehens oder der Schludrigkeit von Amateuraufnahmen beigetragen hat, ist keine produktionstechnische Selbstverständlichkeit mehr (ironischerweise kann sie nun genau aus diesem Grund wieder verstärkt als Alleinstellungsmerkmal fungieren). Jede Kinodomäne signalisiert Qualität auf unterschiedliche Weise. Und inzwischen scheint mir der Einsatz des Academy Ratios, wie gesagt, ein mögliches „Kunstfilm“-Signal in diese Richtung zu sein, vor allem, wenn er mit einer bestimmten Vorstellung visueller Konzentration und Reinheit verkoppelt ist. Wenn die Bilder also den Anschein akribisch gepflegter Bonzai-Bäume erwecken: Jede Einstellung ein „Gemälde“, makellos hergerichtet wie ein rasierter Schambereich.

Letztlich liegt es aber am Zuschauer selbst, so ein Signal auszudeuten. Eine apodiktische Abwehrhaltung gegenüber bestimmten ästhetischen Mustern ist bei der kritischen Auseinandersetzung mit Filmen oft ebenso kontraproduktiv wie ihre willfährige Anbetung. Ich war mir etwa schon nach ein paar Einstellungen von The Mountain sicher, dass einer der Vorwürfe gegen Rick Alverson lauten würde, seine neue Arbeit sei ein Paradebeispiel für zynisches Kunstgewerbe. Doch dieser Vorwurf kann, reflexartig vorgebracht, selbst etwas Kunstgewerbliches annehmen. Ohne hier näher auf Alversons Film einzugehen, möchte ich festhalten, dass seine ästhetische Konzeption zumindest eines vorweisen kann, was vielen nicht minder “kunstigen” Arbeiten abgeht: Konsistenz und Stimmigkeit. Und der bereits erwähnte Fokus auf Reinheit und visuelle Konzentration, der seinen Bildern anhaftet, ist bei ihm jedenfalls nicht reiner Selbstzweck, sondern dient periodisch der Herstellung eindringlicher Kontrast-Momente und Brüche.

Fazit? Fehlanzeige. Nur zwei Dinge: Nicht alles, was quadratisch ist, ist automatisch gut. Und wer zu sehr aufs Format schaut, kriegt irgendwann viereckige Augen.

Notes on an Appearance von Ricky D'Ambrose

Rainer on the Road: Mit Tizian im Museum

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Wir befinden uns in einer aufregenden Zeit, vor allem was die Veränderungen der Kino- und Filmlandschaft betrifft. Abseits der obligatorischen Totsagungen wird innerhalb des filmischen Diskurses wild diskutiert: Wie soll man auf die Umstellung des Kinobetriebs von analog auf digital reagieren? Was machen mit den abertausenden Filmrollen in den Archiven, die nun kaum mehr gezeigt werden können? Wie lässt sich der Politik und der Öffentlichkeit klarmachen, dass es mit der Digitalisierung des Filmbestands nicht getan ist? Lassen sich Digitalisate überhaupt sinnvoll langzeitarchivieren? Welche Eingriffe sind bei der digitalen Restaurierung eines Films ethisch vertretbar? Was tun mit der unüberschaubaren Masse an Bewegtbildern, die tagtäglich von Smartphones und Digitalkameras aufgenommen und ins Netz gestellt werden (oder auf Festplatten schlummern)?

Präsentation der Jungfrau im Tempel von Tizian

Präsentation der Jungfrau im Tempel von Tizian

Fragen über Fragen also, denen allzu oft mit kaum mehr als halbgaren Ideen und Spekulationen gegenübergetreten wird. Die Filmwelt sieht sich einschneidenden Veränderungen gegenüber, denn anders als noch vor 15 oder 20 Jahren ist es heute nicht mehr so klar, was „Film“ überhaupt bedeutet. Was mich immer wieder erstaunt ist jedoch, wie sehr man sich im filmischen Diskurs in einer Ausnahmestellung wähnt, wie wenig man sich öffnet, um Erfahrungen anderer Disziplinen und Bereiche aufzunehmen und daran zu wachsen. Die digitale Wende betrifft, so viel ist klar, nicht nur das filmische Erbe und das Kino. Mehr noch, es gibt andere Bereiche, die ähnliche Umbrüche in den vergangenen Jahrhunderten schon in ähnlicher Form durchlebt (und überlebt) haben.

Es ist mir ein Rätsel, weshalb Filmarchivare und -kuratoren sich so selten an den Kustoden der Kunstmuseen und den Archivaren der naturwissenschaftlichen Sammlungen orientieren, die über Jahrhunderte Maßnahmenkataloge erarbeitet haben, wie mit ihren Werken angesichts eines wandelnden medialen Umfelds umgegangen werden soll. Ebenfalls erstaunlich, wie wenig man in Fragen der Werktreue, oder in kniffligen Konflikten, wie dem zwischen Original und Faksimile auf die Kunstgeschichte rekurriert.

Museum und Kirche

Eine lange Vorrede für einen Reisebericht aus Venedig. Vor rund 500 Jahren war die Lagunenstadt in Norditalien der Nabel der Kunstwelt. Die Venezianischen Meister der Renaissance zählen zu den höchstgepriesenen Künstlern der Geschichte. Ihre Werke haben sich in den letzten Jahrhunderten über den ganzen Erdball verstreut, doch ein Gutteil davon ist in der Stadt verblieben. Von diesem künstlerischen Erbe zeugt die absurd hohe Dichte an Kunstmuseen und Galerien, die in der Stadt zu finden sind, wie auch die unüberschaubare Masse an Kirchen.

Die Gallerie dell’Accademia (kurz: Accademia) ist Venedigs erste Anlaufstelle für Kunstliebhaber. Das Museum beherbergt die weltweite größte Sammlung venezianischer Malerei, darunter Werke namhafter Künstler wie Canaletto, Giovanni Bellini, Paolo Veronese, Jacopo Tintoretto oder Tizian. Der Kernbestand der Sammlung stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, als für die Studenten der Kunstakademie eine Galerie geschaffen wurde. Die Bilder, die dafür notwendig waren, wurden zu großen Teilen aus aufgelassenen Kirchen und Klöstern entnommen. Bilder, die zuvor Altare schmückten, wurden auf kahle Steinmauern gehängt. Statt Buntglasfenstern und Kerzenschein sorgten von nun an großflächige Oberlichter für ausreichende Beleuchtung.

Heute mag es natürlich scheinen diese Werke in einem hohen, weißgestrichenen Museumsraum zu sehen, heute stört sich kaum jemand daran (vorausgesetzt Hängung und Lichtverhältnisse sind zufriedenstellend), dass diese Werke an einem solchen Platz eigentlich nicht heimisch sind. Man könnte sagen, die Fresken und Gemälde sind ihrem ursprünglichem „working system“ entnommen, sind approbiert worden und haben sich im Museumsraum neu etabliert. Jahrzehnte der Kunstbetrachtung in Galerien und Ausstellungsräumen haben uns daran gewöhnt Kunst auf diese Art und Weise wahrzunehmen. Regelmäßig brandet Kritik auf, dass der White Cube womöglich nicht die beste Form der Kunstpräsentation ist, aber niemand würde dagegen ernsthaft ins Feld führen, all diese Bilder wieder zurück in Kirchen oder Kloster zu hängen, um dort ihr künstlerisches Potenzial zur Entfaltung zu bringen.

Tizian bleibt Tizian

Sofern man sich in den gewundenen Gassen nicht verläuft, braucht man der Accademia rund zwanzig Minuten zur Santa Maria Gloriosa dei Frari (kurz Frari). Die Frari ist eine der größten gotischen Kirchen Venedigs und sticht selbst aus der Masse der prachtvollen Kirchen Venedigs heraus. Seit fast genau 500 Jahren, seit dem 19. April 1518 um genau zu sein, ist über dem Hochaltar der Frari Tizians monumentale Mariä Himmelfahrt angebracht (über hundert Jahre, von 1817 bis 1921 war das Gemälde jedoch in der Accademia ausgestellt). Neben diesem Hauptwerk Tizians finden sich auch Werke anderer venezianischer Meister wie Giovanni Bellini, Paolo Veneziano und Bartolomeo Vivarini in der Kirche. Obwohl Hängung und Lichtgebung in der Accademia vorbildlich sind, die Präsentation der Bilder dort mitdenkt, auf welche Weise diese Bilder ihre Betrachter adressieren, so bietet der direkte Kontrast zu den Bildern innerhalb des „working systems“ katholische Kirche einen Vergleich, was beide Formen der Kunstpräsentation voneinander unterscheidet. (Auch außerhalb sakraler Räumlichkeiten kann es natürlich solche „working systems“ geben. Ein Beispiel dafür ist das monumentale Wandgemälde im Dogenpalast, über das ich im Text zu meiner letzten Venedig-Reise vor zwei Jahren geschrieben habe.)

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Es geht mir ganz und gar nicht darum zu sagen, dass sich diese Art von Kunst nur in der sakralen Umgebung entfalten kann, für die sie konzipiert wurde. Das Gegenteil ist der Fall: die Gemälde Tizians in der Accademia sind ebenso brillant wie die Gemälde Tizians in der Frari. Man sieht die Bilder in unterschiedlichen Kontexten auf andere Weise und es lässt sich darüber reflektieren, wo die Unterschiede liegen, aber im Kern bleiben die Werke davon unberührt. Man kann womöglich darüber rätseln, wo und wie ein Gemälde besser (oder weniger wertend, anders) an diesem oder jenem Ort zur Geltung kommt, aber es verliert auf keinen Fall seine Wirkung dadurch. Eine solche Behauptung würde das Werk selbst schmälern.

An diesem Punkt lässt sich offensichtlich mit Betrachtungen zu Film und Kino anschließen. Nicht ohne Grund habe ich oben dem filmischen Diskurs den Begriff „working system“ entlehnt, mit dem das Verhältnis von Film im Kino beschrieben werden kann: Die Filmkopie wird in der Projektion als performativer Akt zur Aufführung vor einem Publikum gebracht. Ähnlich wie im Fall der Gemälde Tizians haben sich im Laufe der Filmgeschichte jedoch alternative Wege etabliert, Film außerhalb dieses „working systems“ zu rezipieren (der Vergleich ist natürlich nicht perfekt – der Film als reproduzierbares Kunstwerk, wie auch als zeitbasierte Kunstform, was mit ihrer spezifischen Aufführungspraxis zusammenhängt, hat seine Eigenheiten – dennoch finde ich, dass die fruchtbaren Anknüpfungspunkte eines solchen Vergleichs die partikularen Kritikpunkte überwiegen). Ohne das Kino als primären Ort filmischer Wahrnehmung in Frage zu stellen, lässt sich , wie ein Blick in die Kunstwelt zeigt, womöglich dennoch einiges aus dem Vergleich des Kinofilms als „working system“ und seinen diversen Faksimilierungen gewinnen.

Rainer on the Road: Venezia

Das Paradies von Jacopo Tintoretto

Im größten Saal des Dogenpalasts in Venedig, dem Sala del Maggior Consiglio, in dem in früheren Jahrhunderten die aristokratische Führungsriege der Lagunenstadt tagte, nimmt ein riesiges Ölgemälde die gesamte Stirnseite des Saals ein. Zur Zeit seiner Fertigstellung war Das Paradies das größte Ölgemälde der Welt. Mehrere Jahre arbeiteten zunächst Paolo Veronese, und nach dessen Tod Jacopo Tintoretto, beide große Meister der venezianischen Malerei, an der Fertigstellung des Bildes. Der überwältigende Eindruck dieses riesigen Tafelbilds wird weder durch die Dimension des Saals, noch durch die Pracht der vorhergehenden Räume abgeschwächt. Körper über Körper sammeln sich in diesem Paradies und was aus der Nähe wie ein verwirrendes Konvolut aus Gliedmaßen, Köpfen und anderen Körperteilen aussieht, wirkt aus einigen Schritten Entfernung üppig, majestätisch und seinem Titel höchst angemessen. Meine Begleitung konnte sich jedoch nicht ganz mit dem Gemälde anfreunden und fand die Körper im Hintergrund zu verworren, irritierend, ja gespenstisch. Diese Einwände führten dazu, dass ich eingehender darüber nachdachte, was es mit diesem Bild auf sich hatte. Tatsächlich wirkte eine Sache etwas befremdlich auf mich und zwar, dass die Figuren im Vordergrund dunkler gehalten sind, als die Massen im Hintergrund. Ein Geniestreich Tintorettos wie mir scheint, denn anders als gewöhnlich die hinteren Bereiche im Schatten zu belassen, strahlt das himmelblaue Paradies scheinbar aus der Tiefe des Bildes. Die Hauptfiguren im Vordergrund werden also von hinten erleuchtet und so von der Menge abgehoben (ähnlich wie durch ein back light im Film), während die dutzenden, verworrenen Körper im Hintergrund noch erkennbar und identifizierbar bleiben.

 Das Paradies von Jacopo Tintoretto

Keine große Erkenntnis für einen Kunsthistoriker, aber sehr wohl für mich, der die bildende Kunst nur aus der Sicht eines Laien betrachten und beschreiben kann. Normalerweise begeistere ich mich eher für modernere und abstraktere Kunst, aber dieser Venedig-Besuch letzte Woche hat mir in mancher Hinsicht die Augen geöffnet. Mir war es als bis dato leichter gefallen die Besonderheiten abstrakterer Kunstströmungen zu erkennen und zu wertschätzen, als die Arbeit der Alten Meister, die durch ihre handwerkliche Brillanz erst jene Konventionen schufen, denen sich spätere Strömungen schließlich widersetzen konnten. Erst die Bilder der Venezianischen Renaissancemaler machten mir bewusst, dass es in ihren Werken vor allem um Licht geht, beziehungsweise um die (gedachten) Lichtquellen, die die Figuren in Szene setzen, um Komposition, die verschiedene Figuren in Verhältnis zueinander setzt und dabei sehr viel subtilere Nuancen zulässt als schnöde Symbolik. In mancherlei Hinsicht haben mich diese Überlegungen wieder zu einigen Gedanken zurückgebracht, die ich mir in letzter Zeit auch zum Film gemacht habe. Auch hier haben sich (sehr viel schneller und einheitlicher als in der Malerei) Konventionen gebildet, die von verschiedenen Strömungen späterer Jahrzehnte angefochten wurden. Diese Konventionen nennt man heute das klassische Hollywoodkino, ergänzt durch einige Sedimente, die ein paar der bedeutenderen Neuen Wellen der Filmgeschichte hinterlassen haben (auch das, eine Parallele zur Bildenden Kunst).

Das bringt mich zurück ins Kino, wo es zurzeit einiges an Konventionen, in Form der Technicolor Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums zu sehen gibt. Dort ertappe ich mich dabei immer mehr Gefallen an Musicals zu finden, aus heiterem Himmel einen Fred-Astaire-Fetisch zu entwickeln und mir Gedanken über Bombastik und Spektakel im Film zu machen. So sehr ich mich für das Kunstkino begeistern kann, und so sehr mich die Bildgewalt der großen Autorenfilmer in ihren Bann zieht, so sehr kann und will ich nicht den puren Spektakelwert des Films vernachlässigen, der es erlaubt Feuerwerke zu zünden, die statt weit entfernt am Nachthimmel, direkt vor unseren Augen im Kinosaal explodieren. Spektakulär ist die Lichtsetzung in Cavalo Dinheiro ebenfalls, aber ich meine Spektakel im Sinne von Attraktion in Eisenstein’schen Vokabular (wenngleich die Attraktion in diesen Filmen in gar nicht Eisenstein’schen Sinne zum Zwecke des Eskapismus eingesetzt wird), eine sensorische Macht, die audiovisuelle Fessel, die den Verstand erstarren lässt und über jeden Anspruch von Authentizität und Wahrscheinlichkeit erhaben ist.

The Band Wagon von Vincente Minnelli

In solchen Momenten kommen mir die Welt und das Kino sehr simpel vor und frage mich, wie es mit der vielbeschworenen indexikalischen Beziehung zwischen der „echten“ Welt vor der Kamera und der kinematischen Projektion tatsächlich aussieht, denn wo sehe ich in The Band Wagon etwas von der echten Welt? Diese Filme können nicht dadurch irritieren, dass ihre Gesangs- und Tanznummern mit der Logik ihrer Welt brechen, denn die Logik ihrer Welt sind ebenjene Revuenummern. Fred Astaires Beine sind der Inbegriff der Balazs’schen Geste! Natürlich ist Film mehr als The Band Wagon und auch mehr als Fred Astaires Beine (schade eigentlich), aber wenn man dem Kern des Mediums näherkommen will, der Essenz dessen, was Film und Kino ausmacht, dann empfiehlt sich eine intersubjektive Betrachtungsweise, die diesen Spektakelwert (und Fred Astaires Beine) zumindest nicht aus den Überlegungen ausschließt, ohne ihn dabei so strikt zu trennen, wie manche Fehlinterpretation von Tom Gunnings Text Cinema of Attraction es vorschlägt. Furchtbar konsensual eigentlich, aber die beiden Ebenen des Natürlichen und Konstruierten, des Schauwerts und des Erzählwerts sind wohl nicht zu trennen, und wenn sich eine Ausnahme finden lässt, dann bedeutet das nicht, dass es sich dabei um den Film handelt, der die eine Theorie bestätigt und der vielbeschworenen Essenz des Films am nächsten kommt, sondern wiederum um eine Reaktion und Kritik gegen die propagierte Unmöglichkeit der Trennung der beiden Ebenen. Ein furchtbar relativierender Ansatz, der sich schließlich im Kreis dreht. Warum ich mich trotzdem weiter mit diesen Fragen beschäftige? Weil es die Fragen sind, die der Nachforschung wert sind, nicht ihre Antworten (eine Binsenweisheit).

Palazzo Ducale / Dogenpalast

Eine kleine Nachrede zu Patricks Bemerkung über Kategorien in Ist die Vergangenheit des Kinos seine Zukunft?

Kategorisierungen sind an und für sich keine schlechte Sache. Sie erlauben es schnell und halbwegs effizient Informationen zu kommunizieren. Filme in ein bestimmtes Genre einzuordnen, oder sie der Form nach als dokumentarisch oder fiktional zu kategorisieren macht meines Erachtens so weit Sinn, so lange nicht mehr über die Kategorisierung nachgedacht wird als über den Film selbst. Denn wenn der Film schwierig zuzuordnen ist, macht es meist mehr Sinn zu fragen warum es denn so schwer fällt eine Entscheidung zu treffen, als partout eine Lösung zu finden. Kategorien sind für mich offene, dynamische Gebilde, deren Grenzen im Dialog immer neu festgesetzt werden, aber die auf einer unbestimmten geteilten Wissensbasis beruhen.

Ich denke, so in etwa meint Patrick das auch, wenn er Schubladendenken kritisiert, dem es scheinbar nur darum geht möglichst suchmaschinenoptimierte Tags zu generieren oder Meta-Diskurse, die sich mehr um ihre Eitelkeit drehen als um die Sache (die Filme) an sich.

Viennale 2014: Court von Chaitanya Tamhane

Vira Sathidar in "Court"

Chaitanya Tamhane ist offensichtlich nicht sehr zufrieden mit einigen Vorgängen in seinem Land. Court, der Debütlangfilm des erst 27-jährigen Inders aus Mumbai, setzt sich unter anderem mit dem indischen Rechtssystem auseinander. Diese Auseinandersetzung exerziert Tamhane am Beispiel des fiktiven Volkssängers und Poeten Narayan Kamble durch. Neben seinen Auftritten als politisches Sprachrohr der indischen Unterschicht, unterrichtet der halbgreise Narayan Kamble an einer Schule. In dieser Funktion bekommen wir ihn auch zum ersten zu Gesicht und folgen ihm schließlich von seinem Arbeitsplatz zu einer Demoveranstaltung, wo er auftritt. Während des Auftritts wird Narayan Kamble jedoch von der Polizei verhaftet. Bis zu diesem Zeitpunkt stand der Musiker im Mittelpunkt des Geschehens und Tamhanes Kamera folgte ihm auf Schritt und Tritt. Kaum im Gefängnis verschwindet Narayan Kamble nicht nur aus der diegetischen Öffentlichkeit, auch sein Platz als Protagonist wird von seinem Anwalt Vinay Vora (großartig gespielt von Vivek Gomber, der auch als Produzent tätig war) übernommen. Vinay Vora stammt aus wohlhabender Familie, ist schick gekleidet und lebt in einer austauschbaren, westlich-geprägten Parallelwelt, die mit dem gängigen Bild des „armen Indiens“, also der Lebenswelt seines Klienten, wenig gemeinsam hat. Auffallend scheint zu sein, dass Vinay Vora den Narayan Kamble eher aus philanthropischen Motiven, als aus finanzieller Notwendigkeit vertritt (später stellt er sogar dessen Kaution). Als er später bei einer Veranstaltung über die Probleme und Willkür im indischen Rechtssystem referiert wird diese Vermutung bestätigt. So erinnert Vinay Vora ein wenig an klassische Jimmy-Stewart-Charaktere (wenngleich auf einer anderen gesellschaftlichen Ebene), der in Josef-K.-Manier einen Spießrutenlauf von Anhörung und Anhörung über sich ergehen lassen muss und sich mehr und mehr im Paragrafendschungel verliert.

Der namensgebende Gerichtssaal in Die Frage nach Vinay Voras Antrieben bleibt aber offen. Er unterstützt jene Menschen, die in bester gesellschaftskämpferischer Manier gegen jenes Establishment ankämpfen, dem er selbst angehört. Vinay Vora wirkt jedoch keineswegs wie ein edler Ritter in glänzender Rüstung, der bereit ist sein Vermögen oder seinen Lebensstil für soziale Gerechtigkeit aufzugeben. Andererseits, scheint er sein gemütliches Leben auch nicht wirklich zu genießen – das Verhältnis zu seiner Familie ist schlecht, Frauen und Freunde scheinen ebenfalls keine große Rolle in seinem Leben zu spielen. Was ihn antreibt ist ein vager Wille für eine gerechtere Rechtsprechung und weniger Korruption, ein Wille der von den Mühlen der Justiz langsam zermürbt wird, denn das Leben als Anwalt in Indien ist Sisyphusarbeit – als Narayan Kamble schließlich gegen Kaution wieder freikommt, wird er sogleich wieder verhaftet und wieder ist die Anklage ein bloßer Vorwand, den die Polizei mit Hilfe der Staatsanwaltschaft aus der Luft gegriffen hat, um den Dissidenten und ein für alle Mal hinter Gitter zu bringen und endlich Ruhe zu haben vor der bürokratischen Mühsal der Durchsuchungsbefehle, Gerichtstermine und Zeugenaussagen.

Vivek Gomber in Schlussendlich wird man das Gefühl nicht los, dass die indische Mentalität und das von den Briten vor mehreren Jahrhunderten eingesetzte Rechtssystem nicht so recht zusammenpassen. So ist Court nicht bloß ein Aufschrei gegen juristische Willkür, sondern auch ein gewichtiges post-koloniales Statement.