Hin und wieder, Vergessen im Kino

Wann beginnt man, über einen gesehenen Film nachzudenken? Zumeist legen sich schon während des Abspanns andere Gedanken über die abflachende Konzentration. Weniges stiftet dazu an, unmittelbar nach dem Verlassen des Kinos, etwas zu notieren und festzuhalten. Der Film bleibt an seinem Ort, während ich mich von ihm entferne. Das Gespräch mit einem Freund im Anschluss mag vielleicht eher ein gegenseitiges Versichern sein, dass nun etwas aufgehört hat und etwas anderes beginnt. Oftmals wird dabei gerade das Ende des Films zum Thema gemacht. Etwas persönliches über die verbrachte Zeit mit dem Film zu sagen, fällt in diesem Moment alles andere als leicht. Doch irgendwann kommt der Film zurück, vielleicht aus Schuldbewusstsein, oder weil man erst etwas verstehen musste, bevor die richtigen Worte dafür gefunden waren. Das kann erst in einem anderen Film passieren, vor dem Schlafen oder im Zug nach Hause.

Versucht man sich an etwas Bestimmtes zu erinnern, will es meist nicht gelingen. So beginnt Unutma Biçimleri, Burak Çeviks Film auf der Berlinale 2023. Ein Fischer steht vor einem schmalen Eisloch. Nichts außer das bodenlose Schwarz umringt von schimmerndem Weiß ist zu sehen. Auf der Wasseroberfläche tänzelt eine Pose, an der ein Netz hängt. Fische sollen gefangen werden, doch gemeint sind Träume – die Erinnerung an Träume. Um die Flüchtigkeit des Traums zu bewahren, muss man ihn beredt werden lassen. Man muss Worte wählen, die geeigneter und weniger geeignet erscheinen. So tastet man sich an etwas heran, das man eigentlich nicht wirklich gesehen hat. Einiges ist restlos verloren, aber ein trübes Nachbild – manchmal eher Nachhall – blieb noch haften. Was der Film hier von Beginn an womöglich selbstreflexiv exponiert, entspringt dem Gespräch zwischen Nesrin und Erdem – einem Paar, das versucht sich an seine Beziehung und Trennung zu erinnern. Ihr Austausch wird ungeahnt intim, nicht wegen ausgesprochener Geheimnisse, sondern wegen ihrer Ungereimtheiten. Beide Menschen haben gänzlich verschiedene Erinnerungen an dieselben Begebenheiten. Erst in dem das Paar eine gemeinsame Sprache dafür findet, treten diese gegensätzlichen Erinnerungen zueinander in Beziehung. Vor allem für diese Suche im Dunkeln interessiert sich Çeviks Film. Ebenso könnte sich das Paar über einen Film unterhalten, den sie gesehen haben. Dort, wo ihre Erinnerungen an das Gesehene auseinanderklaffen, würden sie womöglich erkennen, dass beide einen anderen Film gesehen haben. Jeder für sich einen Film im Verborgenen mit anderen verschwiegenen Sehnsüchten und Ängsten. Es wäre nicht weniger intim.

Vielleicht hätte der Film hier stehen bleiben können, doch er zieht weiter und schichtet Material auf Material. Ganz so wie die Stadt – Istanbul, um die Unutma Biçimleri unaufhörlich kreist. Die Kamera verliert sich im Hafen, sucht dort nach der Geschichte des Ortes und findet lediglich Überreste statt Relikte. Es sind kleine Beobachtungen, wie der Rost an einem Schiff oder Arbeiter bei ihrer Pause an der Kaimauer. Alles Bilder, wie leere Hüllen, die nicht für sich selbst sprechen können, sondern erst lebendig werden müssen. Von Marc Augés Vorstellung (Les Formes de l’oubli), Erinnerungen seien wie Pflanzen, die sich immer höher überwuchern und verdecken, will auch der Film etwas über sich selbst erfahren. Kann sich ein Film erinnern oder vergessen? Filme, die mit einer essayistischen Form sprechen, wagen sich gern zu dieser Selbstüberschätzung hinaus. Sie laufen Gefahr, sich mit ihrem eigenen Interesse zu verwechseln. Also ist es Selbstvergessenheit? Weder kann sich ein Film erinnern noch vergessen, eher noch nachahmen beziehungsweise dazu anstiften. Dazu braucht er sein Gegenüber. Das Publikum, das Unutma Biçimleri erst gegen Ende wieder anspricht. Es drängt sich die Frage auf, wem Erinnerungen überhaupt gehören, was umgekehrt auch bedeuten könnte, ob Vergessen notgedrungen ein Verlust sein muss.

Spürbar wird das Erinnerte oder Vergessene erst, wenn es sein Gegenüber findet, beziehungsweise verfehlt. Vielleicht lässt sich das nur im Kino begreifen, und doch reicht es auch darüber hinaus. In Tatsunari Otas Film Ishi ga aru begegnen sich eine Frau und ein Mann ohne Namen in einem Flussbett. Ohne dass etwas Wichtiges passiert oder viele Worte gewechselt werden, wirkt es, als seien beide plötzlich aufeinander angewiesen. Das Warum muss nicht beantwortet werden, es genügt die Gewissheit des anwesenden Gegenübers. Sie teilen einen Nachmittag bis zur Dämmerung, während sie gemeinsam die karge Landschaft auf eine spielerische, naive Weise erkunden und immer wieder flussaufwärts oder -abwärts wandern. So selbstlos aber doch selbstzweckhaft, wie diese Beziehung zweier fremder Menschen entsteht, geht sie auch wieder auseinander. Irgendetwas bleibt, denn ihre Trennung, wenngleich ohne Abschiedsworte, fällt nicht leicht. Einige Momente später zeigt der Film den Mann in seinem Haus am Schreibtisch; er versucht, das Erlebte in seinem Tagebuch festzuhalten und zögert lang. So lang, als könnte man in dieser Pause seine eigenen Erinnerungen und Wünsche verstecken. Im gleichen Moment findet die Frau ohne Namen einen Ort, an dem sie den Akku ihres leeren Telefons aufladen kann. (Kaum etwas könnte gegenwärtig greifbarer beschreiben, wie man in einer Welt verlorengehen kann, die selbiges nicht mehr zulässt.) Die Frau schläft ein und erwacht am nächsten Morgen. Aus dem Zug zurück nach Tokio erhascht sie mit einem flüchtigen Blick den Mann erneut im Flussbett, wo er nach einem verlorenen Stein vom Vortag sucht. Was danach passiert, bleibt der Sehnsucht überlassen.

Beide Filme handeln von zwei Menschen, die sich begegnen und zurückschauen. Sowohl Ishi ga aru als auch Unutma Biçimleri wollen zwar vom Altern nicht viel wissen, doch es lässt sich unaufhörlich in ihnen wiederfinden. Unaufgeregt, in regelmäßigen Rhythmen reihen sich Bilder aneinander, so als blieben sie vom Lauf der Zeit außerhalb des Kinos unberührt. Doch anstatt weiterzugehen, besinnen sie sich vielmehr darauf, an einen verlassenen Ort zurückzukehren, um dort etwas Verlorenes aufzusuchen. So als würde man zum zweiten Mal in ein Gesicht blicken und erkennen, es hätte vorher anders ausgesehen. Dabei besteht die Intimität des Alterns vielleicht weniger darin, die Spuren der Veränderung zu entdecken, sondern etwas zu erahnen, das eigentlich dahinter liegt. Erkennt man, um was es sich handelt, gerät die Suche ins Stocken. Es breitet sich eine seltsame Beklemmung aus, über das Gesehene zu sprechen. So steht man nach Ende eines Films wieder vor dem Kino und stellt sich für einen Augenblick die absurde Frage: Was habe ich überhaupt gesehen? Aber ich schweige oder spreche von etwas Unbedeutendem.

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Neulich begegnete ich auf einer Straße einer Frau, die für eine Umfrage von mir wissen wollte, ab wann man alt und wie lang man jung sei. Erst musste ich schmunzeln, da ich mir diese Frage selbst hin und wieder stelle, mich also ertappt fühlte. Meine Antwort schien sie wohl ebenfalls zu amüsieren, vielleicht nicht, weil es ihr ähnlich erging, sondern weil wir wohl gänzlich unterschiedlicher Auffassung waren. Im Kino kann man etwas sehen, das nicht der eigenen Wahrnehmung oder Erfahrung entspricht. Trotzdem ist es möglich, sie für eine bestimmte Zeit verstehen zu lernen. Auch wenn sich das Kino mit seinem Publikum immer wieder erneuern und Zurückliegendes vergessen will, gehört das Altern – also Suchen – dazu.

Verschwundene Notizen zu Wolfgang Staudte

Wenn ich ins Kino gehe, ist das Notizbuch in der Regel ein treuer Begleiter. Vor allem dann, wenn ich mehr als einen Film sehe. Gelegentlich sammeln sich darin Tickets, die beim Aufschlagen immer aus den Seiten herauszufallen drohen. Die meiste Zeit ruht es anteilnahmslos in der Tasche unter dem Sitzplatz. Sein schwarzer Einband macht sich im Dunkel des Saals unsichtbar. Oft denke ich beim Schauen daran, woran ich mich später noch einmal erinnern will. Man könnte denken, es liegt wohl deshalb nahe, sich während des Films Notizen zu machen. Aber selbst wenn ich es tue, stößt diese merkwürdig akademisch geprägte Disziplin im gleichen Moment auf ein gewisses Unbehagen – als wolle man den Film mit einem voreiligen Urteil bezwingen. Meist sind diese unleserlichen Bemerkungen im Nachhinein sowieso nutzlos und dienen höchstens dazu, die Eindrücke bloß in der richtigen Chronologie zu ordnen. Dann doch besser direkt nach Verlassen des Saals? Auch dann ist selten der richtige Zeitpunkt. Entweder ist es Erschöpfung oder die Suche nach Ablenkung, die sich auf einmal in den Weg stellt. Als würde man versuchen, mit Aufblenden des Saallichts, die angespannte Aufmerksamkeit zu verteiben, fällt es mir schwer direkt im Anschluss einen klaren Gedanken zu fassen. Meist denke ich erst einige Stunden oder Tage später wieder an den Film, der nun allerdings ein ganz anderer ist. Manchmal halte ich diese Gedanken fest, oft vergesse ich sie wieder. Lose Wortfetzen, die zunehmend ihre Bedeutung verlieren, niederzuschreiben, wird so mehr und mehr zum Zwang. Noch nie habe ich mich jedoch gefragt, weshalb ich diese Notizen wirklich sammle.

Einige Tage sind jetzt vergangen nachdem ich vier Filme von Wolfgang Staudte beim diesjährigen Il Cinema Ritrovato sah. Das nachleuchtende Bild in meinem Gedächtnis hat sich mittlerweile vernebelt. Meine Notizen sind spärlich bis gar nicht vorhanden – die Gründe sind bekannt. Seltsam fließen die Filme jetzt ineinander. Schon beim Sehen suchte ich nach verbindenden Elementen. Nach etwas, das Orientierung schafft in Wolfgang Staudtes so umfassend wie unübersichtlichem Œuvre. Bis ich die Filme sah, war mir seine Bedeutung kaum bewusst. Ein paar seiner Filme kannte ich aus der Kindheit. Seine sonderbare Stellung als Grenzgänger im geteilten Deutschland in doppelter Hinsicht spielte damals aber keine Rolle. Auch wenn die Filme, die ich sah, unterschiedlicher nicht hätten sein können, schienen sie alle zur Beschreibung einer fragilen, unwirklichen Gestalt, der eines Grenzgängers, hin zu drängen.

Das Lamm, ein DEFA-Film gedreht im Schatten der Metallwerke des Ruhrgebiets, verfolgt einen eigenbrötlerischen Jungen auf Abwegen durch eine Nacht gemeinsam mit seinem Tier. Die Erfahrungen, mit denen er konfrontiert wird, bilden das ganze Spektrum einer Nachkriegsgesellschaft ab, die sich eigentlich auf dem Weg zum Wirtschaftswunder befindet. Das ist für Staudte aber zweitrangig. Wichtiger ist offenbar, dass sich der eigensinnige Junge gleich seinem Tier am Ende in das Kollektiv – also in die Gemeinschaft und nicht vorangig die Gesellschaft – einreiht. Die Rebellion greift diesen Impuls auf, aber wendet ihn augenblicklich ins Gegenteil. Gerade noch, wenn der Kriegsinvalide Andreas Pum integriert zu sein und seine Rolle gefunden glaubt, stößt ihn die Gesellschaft ab wie einen Fremdkörper. Zu Unrecht sitzt er im Gefängnis und verliert alles was ihm blieb. Sein unausgefülltes Leben endet schließlich an seinem untröstlichen Arbeitsplatz – von Versöhnung keine Spur. Der Film Zwischengleis beschreibt das Leben einer Person mit einer ähnlichen Biografie: Eine Frau die mit ihrem Trauma aus Kriegszeiten ringt, wird tot unter einer Brücke aufgefunden. Ihr Selbstmord stellt die Ermittler vor ein Rätsel. Allmählich rollt der Film vergangene Episoden auf, als wären sie Erinnerungen eines Lebens, das immer nur am Rand aber nie im Mittelpunkt gelebt wurde. Der Film versucht so, dem Trauma in all seinen widersprüchlichen Facetten ein Gesicht zu geben und doch bleibt er in bestimmten Weise undefiniert. Wie eine Antwort darauf verschwindet auch im Film Heimlichkeiten eine Frau auf bis zuletzt ungewisse Weise. Wie in den Filmen zuvor verkörpert der Film einen untergründigen diffusen Zustand, der die Menschen und das zeitgeschichtliche Geschehen zusammenhält. So spielt die Handlung am Goldstrand, also gerade dort, wo der politische Osten mit dem Westen gemeinsam während des Kalten Krieges seine Ferien verbringt.

An die Grenze zu gehen, bedeutet bei all diesen Filmen wohl kaum, die Extreme auszuloten, sondern sie zu verstehen und lernen mit ihnen umzugehen. Es gibt immer wieder diese Momente in Staudtes Filmen, die sich gerade nicht auf ein dezidiertes politisches, historisches oder ästhetisches Bewusstsein stützen. Diese klandestinen Augenblicke beschreiben eine unentschlossene, zögerliche Haltung. Sie drücken sich dabei in einer ebenso verspielten wie schwelgerischen Form aus. Das kann ein erotischer Tanz sein, den das frühreife Mädchen auf einer Hochzeit mit einer flüchtigen Bekanntschaft führt (Das Lamm). Zwei Augenpaare blicken tief einander an, während alles um sie herum verschwindet. Alles das, was zuvor als mühselig und ungewiss erschien. Wenige Augenblicke später sind beide tot. Vom Unfall ist nichts zu sehen, nur zwei leblose Körper liegen im feuchten nächtlichen Gras. Dieses Bild scheint genauso ein Verweis zu sein, auf die tote Frau zu Beginn des Films Zwischengleis. Sie ist unversehrt, nichts deutet auf die Gewalt eines Sturzes hin. Erst die letzten Einstellung offenbart dieses Geheimnis. Sanft, wie ein Laubblatt sinkt die Kamera kreiselnd von der Brücke zu Boden. Schließlich überblendet das Bild in die schier endlose Pirouette einer Eiskunstläuferin. Watteweicher Traum und steinharte Realität sind bei Staudte nie weit von einander entfernt. Es handelt sich dabei immer um Momente des Ausbruches. Plötzlich kann sich mittels eines Traums das gutbürgerliche Etablissement in einen surrealistisch überhöhten Gerichtssaal verwandeln (Die Rebellion). Staudtes Filme werden in diesen Momenten unvermittelt moralisch. Wo Verzweiflung herrscht, bleibt immer noch eine Spur Hoffnung erhalten. Leichtfertig ließe sich dies als Verkitschung hinstellen, jedoch in jedem dieser raren Bilder scheint sich für einen Wimpernschlag das Schicksal von den Figuren zu trennen und ihnen einen anderen Ausblick zu ermöglichen. Es wirkt fast so, als wolle sich Staudte gegen etwas auflehnen, das er anders nicht zu beschreiben weiß.

Immer wieder, wenn ich an diese verträumten, selbstvergessenen Bilder denke, merke ich, dass sie sich leicht verschieben und sich mir ihr Kontext nicht mehr ganz erschließt. Ich wünschte, ich hätte mir genauer notiert, was ich in ihnen gesehen habe. Allerdings frage ich mich, ob sich diese Bilder dann überhaupt so benennen oder beschreiben ließen. Oder würden sie nicht eher Gefahr laufen, zwischen analytischen Stichworten zu verschwinden, wie es den Menschen in den Filmen letztlich erging? Staudtes Film Heimlichkeiten handelt von dieser merkwürdigen Ungewissheit im Besonderen. Die Bilder ergeben zwar das ansehnliche Panorama eines Urlaubsparadieses, aber sie scheinen nicht recht zueinander gehören zu wollen. Jede Spur verliert sich im Sand. So konventionell Heimlichkeiten daherkommen mag, ist es vielleicht Staudtes radikalster Film, weil sich eine trügerische Normalität zu erkennen gibt. Das rätselhafte Verschwinden greift um sich, als würde jemand ein Stück der Wirklichkeit dem Zusammenhang entreißen und verstecken wollen. Jedes Bild wird damit automatisch zu einer Frage. Vom Verschwinden lässt sich so nicht absehen. Man könnte denken, Wolfgang Staudte versucht in diesen Filmen das Verschwundene zu bewahren.