Duisburger Filmwoche 2022: EIGENTLICH EIGENTLICH JANUAR von Jan Peters

Wenn ein Monat zu dreien wird. Drei Minuten, manchmal zu fünf. Und Alltag plötzlich zum Film. Wie in einem Videotagebuch versucht der Filmemacher Jan Peters seinen persön lichen Januar analog auf Super-8-Film einzufangen. Eine Struktur, die bedarf, gebrochen zu werden. So fügen sich am Ende zwar 31 Filmausschnitte zusammen, jedoch entstehen diese weit über den bedachten Monat hinaus. Wesentlich ist das aber nicht, denn Blick und Linse liegen hierbei genau auf dem vermeintlich Unwesentlichen.


Ein Film bestehend aus vielen kleinen Filmen. Jan Peters nimmt uns mit auf eine Reise durch kleine Alltagsmomente, die sich in ihrer Mischung aus Trivialität und Besonderheit zu einem bunten Mosaik zusammenfügen. Nach seinen zwei Projekten NOVEMBER, 1-30 und DEZEMBER, 1-31 war es für den Filmemacher an der Zeit, erneut den Versuch zu starten, einen Monat lang, jeden Tag eine dreiminütige Filmrolle, wie ein Tagebuch mit Erinnerungen zu füllen.

Der Name ist Programm. Denn Peters „eigentlicher Januar!“ wird erst durch weitere Aufnahmen der Monate Februar und März zum letztlich dokumentierten Januar. Anspielend auf genau dieses Prinzip der Zeitlichkeit eröffnet der Moderator das Gespräch mit der Frage nach dem Regelbruch innerhalb der geplanten Chronologie. Sehr unkompliziert und offen gibt der Filmemacher zu, dass er es sowohl bei diesem als auch bei seinen zwei Vorgänger-Filmen einfach nicht geschafft habe, täglich zu filmen und sich der Dreh deshalb über einen längeren Zeitraum erstrecken musste. Eine authentische Antwort, die im Publikum für Sympathiepunkte sorgt, von denen Peters bereits einige mit seiner im Film zur Schau gestellten und unendlich wachsenden To-do-Liste sammeln konnte. Auf die Frage, warum er es denn trotzdem immer wieder versuchen würde, dieses Format erneut aufzugreifen, antwortete Peters ziemlich schlagfertig mit dem Zitat „a picture a day keeps the doctor away”. Bezüglich seines Spiels mit den 31 Filmrollen, die mitten im flüsternden Voice-Over abbrechen, erklärt er seine Struktur in genauso simpler Manier: „Ich habe 31 verschiedene Rollen und die füge ich am Ende einfach zusammen”.

Wenn man jedoch seinen 100-minütigen Film anschaut, wird einem schnell bewusst, dass sich der Filmemacher an dieser Stelle durchaus zu bescheiden gibt. Denn obwohl die eingefangen Momente relativ willkürlich erscheinen, steckt lange Arbeit hinter den künstlerischen Aufnahmen und ihrem Prozess der Entwicklung.

Ein simples Regelwerk bildet den Rahmen des Filmes, welcher seine Dynamik aber dadurch behält, dass die eigens auferlegten Regeln an vielen Stellen bewusst gebrochen werden und Sequenzen mal länger, mal kürzer andauern. Der Moderator erkennt die Thematik von analogen Fotos als möglichen roten Faden des Filmes. Wir sehen Bilder über Bilder. Darunter sind heimatlose und fremde Fotos, gefunden auf der Straße nach Neujahr, wie auch intime Aufnahmen aus dem eigenen Familienalbum.

Während des Gesprächs erhält Peters einiges an positiver Resonanz. Doch äußerten sich auch ein paar Stimmen, die auf eine gewisse Überforderung durch Reizüberflutung aufmerksam machten, welche sich durch die schnell wechselnden Aufnahmen in Kombination mit der gesteigerten Sprechgeschwindigkeit des Voice-Overs entstand. Demnach fühlten sich manche aus dem Publikum entweder hellwach oder ziemlich ermüdet nach dem Film. Allerdings empfindet Peters beide Reaktionen als völlig legitim. Denn genau diese Einheitlichkeit der Struktur mit den uneinheitlichen Aufnahmen erlaube es einem innerhalb der drei Minuten auch mal „abzudriften!”, um sich dann in einem neuen Januartag wiederzufinden. Die Überforderung des Textes und der Bilderflut würde zudem nur noch mehr dazu einladen, den Film ein zweites oder sogar drittes Mal zu sehen, wie eine Stimme aus dem Publikum feststellt und somit das beklatschte Schlusswort bildet.

Von Sina Wohnhaas

Die weiße Wand: Aftersun von Charlotte Wells

»Wozu ins Kino gehen, wenn sich die selben Filme auch zu Hause streamen lassen?« Bei Aftersun handelte es sich um einen Film, der, ausgezeichnet von einigen Festivals, in eher schlecht besuchte Programmkinos wanderte, wo er erst allmählich zu seinem Publikum fand. Nun ist er auf MUBI zu sehen und die Frage, für wen dieser Film ist oder sein könnte, stellt sich nicht mehr wirklich. Denn dort geht er auf, kein anderer Film entspricht womöglich besser dem, was sich MUBI unter Film – nicht Kino – vorstellt. Man sucht nach dem ganz besonderen, einmaligen – aber ständig wiederholbaren – Erlebnis, dessen Ausgang schon zu Beginn klar ist. Mit der glänzenden, selbstverliebten Oberfläche lässt sich zwar in einen Spiegel schauen, aber keine Erfahrung mit etwas Anderem machen.

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Leicht dahingeredet heißt es gelegentlich, ein Film wäre »relatable«. Doch was soll damit gesagt sein? Der Anglizismus gibt sich vermeintlich unverbindlich. Es lässt sich dabei vermuten, man könne etwas nachvollziehen oder sich mit dem Gesehenen identifizieren. Wahrscheinlich bedeutet es aber viel eher, man will etwas auf sich beziehen, womit in aller Regel nicht die ganze Erfahrung gemeint ist, denn genau daran würde es scheitern, sondern ein eklektischer Teil, der sich einigermaßen schmerzfrei ins eigene Gesamtbild fügt. Es wird ein Bild ausgesucht, das schön aussieht, keine Angst macht, – eigentlich ist es leer – und sich mit den eigenen Gefühlen anfüllen lässt. Zu einem Film zu »relaten« klingt mutig, zeigt aber nur eine Feigheit an, zwei widersprüchliche Bilder nebeneinander stehen zu lassen. Das eigene und das des Films. Stattdessen wird jedes Detail aufgeladen, mit dem krampfhaften Versuch, etwas verstehen zu wollen, was sich letztlich nicht verstehen lässt.

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Aftersun begleitet zwei Menschen, den jungen Vater Calum mit seiner Tochter Sophie, die an einem paradiesischen Ort wie Gestrandete landen. Sie passen nicht hinein und fragen sich unausgesprochen, wo und warum sie sich überhaupt hier befinden. Der Film zeigt über einige Tage die vergehende Zeit und Langeweile in einem türkischen Ferienressort. Gerade so scheint das Geld zu reichen. Vater und Mutter leben getrennt, die geteilte Zeit zwischen Tochter und Vater steht also unter einem gewissen Druck. Beide Menschen stehen an einer Schwelle in ihrem Leben. Die Tochter, nicht mehr ganz Kind, trotzdem noch nicht adoleszent. Der Vater, nicht ganz erwachsen, immer noch unzugänglich jungenhaft. Beide finden in der sorglosen Welt des Urlaubsparadieses keinen richtigen Platz. Aber statt anzuecken, aufzubegehren, die Maske herunterzureißen, geht die gemeinsame Zeit dahin. Zwar versucht jeder für sich allein in zwischenmenschlichen Begegnungen davon zu schwimmen, doch am Ende werden sie wieder aufeinander zurückgeworfen.

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Das erste Bild in Aftersun lässt zunächst nicht viel erkennen, es mutet rätselhaft an. Wackelige Camcorder-Aufnahme, schlierig und mosaikhaft. Die Stimmen der beiden Protagonisten sind zu hören. Dann ist Calum vor dem Balkonfenster im Hotelzimmer zu sehen. Im Gespräch dreht es sich um den bevorstehenden Geburtstag des Vaters. Das Bild stoppt und gibt sich als Bildschirm zu erkennen, in dem sich eine Person spiegelt. Durch Vorspulen werden andere Aufnahmen des Urlaubs sichtbar, dazwischen flackern dunkle Bilder einer Tanzfläche auf. Getrennt und verbunden durch zwei Großaufnahmen ist Sophie erst als erwachsene Frau zu sehen und schließlich wieder als zwölfjährige Tochter in einem Reisebus. Schon mit dem Beginn des Films wird hier der Versuch unternommen, Schichten – Materialschichten – ineinander zu verwickeln.

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Filmbildern lebt eine besondere Strenge inne. Mit ihnen wird nicht nur eine Erzählung – der einmalige Lichteindruck – transportiert, sondern auch Tradition. Formprinzipien, die sich auf das handwerkliche Können beziehen. Es mag befreiend sein, die Regeln hinter sich zu lassen und zu vergessen, um eine eigene Sprache zu kreieren. Das könnte heißen, es ist vielleicht gar nicht notwendig, die Regeln zu kennen, um erzählen zu können. Man muss sich eigentlich nur einverstanden zeigen, sich einlassen. Einverstanden mit dem, was erzählt wird. Trotzdem entscheidet schon die Wahl der Mittel und Materialien die Frage, was gezeigt werden kann und was nicht. Oft wird in Hinblick darauf Material und Materialität verwechselt. Wie etwas aussieht, lässt sich zwangloser beschreiben, als das, was zu sehen ist. Entscheidend ist jedoch, dass für einen Film beides bedeutsam ist.

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Im Laufe des Films entsteht eine Spannung zwischen den unterschiedlichen Materialschichten. Die Videobilder entsprechen Erinnerungen an die zurückliegende Zeit der Beziehung zwischen Vater und Tochter. Die zwölfjährige Tochter ist als Beobachterin der Bilder erwachsen geworden. Womöglich steht sie auf derselben Schwelle in ihrem Leben, an der sich ihr Vater im Urlaub einst befand. Verrätselt drängt sich die Frage in den Vordergrund, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Es blitzt eine Begegnung zwischen dem erwachsenen Vater und der erwachsenen Tochter auf einer Tanzfläche auf, gehüllt in Stroboskop und Schwarz. Die Tochter begibt sich mit den Aufnahmen der Videokamera durch die Welt der Erinnerungen, hin an einen unmöglichen Ort, an dem ein unmögliches Wiedersehen stattfindet. Der schwebende Zustand des von Sonnenbrand gezeichnetem Gleichlaufs verdichteet sich zu einem ekstatischen Moment. Alles soll sich aufklären, rein werden. Von der monotonen Dunkelheit ins grelle Licht, dort wo jedoch keine Sonne mehr scheint. Irgendwas muss hervorgebracht werden, zu dem das einzelne Filmbild offenbar nicht im Stande ist.

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Aftersun ist ein nahezu unbewegter Film. Zwar gibt es eine diffuse Anziehungskraft und etwas Abstoßendes an ihm, doch der Film entzieht sich und will sich vorerst nicht verständlich machen. Also etwas, dem man nur die schönen und schlechten Seiten aufzeigen muss, damit man eine Kritik schreiben kann. Vieles verliert sich in Andeutungen. Zeitweise verschwindet Calum. Er geht nachts ins Meer oder balanciert auf der Brüstung des Hotelbalkons. Immer wieder findet sich Sophie mit ihrem Vater so in merkwürdigen Situationen wieder. Doch der Grund oder Anlass seines Verhaltens bleibt unbenannt. Eigentlich lässt sich mit dem Film nicht abrechnen. Zum Glück, will man sagen bis zuletzt, denn man glaubte, dass es der Film genau darauf absieht. Doch der Film verspielt das gewonnene Vertrauen in die Unsprachlichkeit des Konflikts zwischen Vater und Tochter. Was unklar blieb, muss nun benannt werden. In einer erregenden Montage schwingt sich der Film mit dem Ende zur Lösung seines zum Anfang gestellten Rätsels auf, gleichzeitig wird damit jeder selbstgesetzte Sinn mit einer triumphalen Geste im Gefühlsbad ertränkt.

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Von der Regisseurin heißt es, für die letzte Szene habe sie sich von Chantal Akermans Film ‌La Chambre inspirieren, ja vielleicht sogar leiten lassen. Was man sieht, ist jedoch keine Referenz, keine Auseinandersetzung, sondern allenfalls schlechte Mimikry. Es wird das Video einer Verabschiedung am Flughafen gezeigt. Erneut sind die Stimmen der jungen Tochter und des Vaters, der die Kamera hält, zu hören. Das Video stoppt. Eine Verzögerung schleicht sich in den Lauf des Films. Dann gerät die Kamera in Bewegung, die bislang den Bildschirm filmte. Aus der Bewegung wird nun ein Schwenk. Mit einer vollen Umdrehung wird der ganze Raum, der bislang im Verborgenen blieb, durchmessen. Der objektive und anonyme Blick ähnelt dabei mehr dem Licht eines Leuchtturms, als dem blinden Tasten in einem lichtleeren Raum. Für einen Augenblick ist Sophie als erwachsene Frau zu sehen. Sie blickt durch die Kamera hindurch, als würde sie etwas Dahinterliegendes erkennen. Leise ist ein kreischendes Kleinkind zu hören. Die Kamera schwenkt weiter bis das Bild ganz von einer weißen Wand erfüllt ist. Unbemerkt findet eine Überblendung statt. Der Schwenk der Kamera endet in einem grell ausgeleuchtetem Flughafen-Gate. Calum steht erst nah zur Kamera und entfernt sich mit dem Camcorder in der Hand, bis er schließlich den Nicht-Ort durch eine Tür verlässt, die zur bereits genannten Tanzfläche führt.

Bei Akermans drehender Kamera fühlt man sich an eine Aufzählung erinnert: Alles, was sich im Raum um sie herum befindet, gilt es wahrzunehmen. Die Wiederholung legt eine zweite Schicht über den Raum. Es stehen nicht mehr nur die Dinge und ihre Anordnung im Vordergrund, sondern auch wie das Bild sie einfängt. Charlotte Wells Film bedient sich zwar der Bewegung, doch vom Motiv will er nicht viel wissen. Statt mit der Bewegung den Stillstand aufzulösen, drängt er nur wie besessen auf den erlösenden Moment hin, endlich eine Lösung für die zerstreuten Fäden des Films zu finden. Krampfhaft wird Sinn hergestellt, wo eigentlich keiner herrscht. Der Film fällt hinter sich selbst zurück und öffnet sich gefälliger Spekulation über die Auslassungen, um das Verlorene einzuholen. Doch dabei soll bloß nichts gedacht werden, das über die Grenzen des Films hinausgeht. Die Ausfüllung der Leerstelle muss sich im Rahmen dessen bewegen, was das Ende des Films vorgibt. Vielleicht hätte man das Kino mit gutem Gewissen vorher verlassen können. Zurück bleibt stattdessen Ernüchterung.

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Obwohl man es Aftersun nicht zwangsläufig ansieht, handelt es sich um ein autobiografisches, oder eher autofiktionales Werk. Was verändert das am Umstand dieser Auflösung? Macht es den Film gegen Kritik immun oder trägt es gar zum Verständnis bei? Womöglich weder das eine, noch das andere. Bezeichnend ist, dass sich eine eigensinnige Erzählperspektive und ein Hang zu trivialer Eindeutigkeit, in dem am Ende alles dasselbe bedeutet, nicht ausnehmen. Im Hinblick darauf lässt sich in Aftersun vor allem etwas über das gegenwärtige Verhältnis von Kino und Streaming erfahren. Streaming will die Filme ohne das Kino. Erleben bleibt in vorgefertigten Bahnen verhaftet und die Filmbeschreibungen halten, was sie versprechen. Kein zu viel, kein zu wenig. Wäre alles andere verspieltes Vertrauen?

Die Suche nach verlässlicher Eindeutigkeit gibt den Takt an. Doch ließe sich nicht auch ein Ort vorstellen, der sich nicht den täglichen Identitäts- und Existenzfragen aussetzt, dessen einziges Ziel die selbige Auflösung anstrebt, sei es für einen Moment, wie am Pool eines zweitklassigen Hotels? Dort, wo sich eine Andeutung nicht den Zwängen eines zu Ende gedachten Ziels unterwirft. Man könnte etwas aus dem Blick verlieren, ohne die Sorge es nicht mehr wiederzufinden. Liegt man zu lang, trägt man den Schmerz und die Peinlichkeit einer verbrannten Haut davon. Das Heimweh und der Gedanke an den Flug zurück, wollen davor schützen. Kino kann einer dieser Orte sein, auch dann, wenn man bleibt, obwohl man eigentlich hätte gehen sollen.

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Seit 17. März kann Aftersun nun über MUBI gestreamt werden. Mittlerweile erlaubt die Plattform keine Screenshots mehr und hinterlässt am Ende nur noch schwarze Kader.

Draufhalten – Gedanken zum home video

Vor ein paar Wochen, bat ich meine Eltern mir ein paar der Videokassetten zu schicken, von denen ich wusste, dass sie schon seit vielen Jahren ungesehen und verstaubt in irgendeinem Karton darauf warteten, gänzlich vergessen zu werden. Meine Eltern waren etwas überrumpelt davon und fragten skeptisch, was ich damit vorhabe. Wenige Tage später bekam ich ein kleines Paket zugesandt, in dem sich zwei Video-8-Kassetten befanden.

I.

Video hatte mich als Kind und Jugendlicher schon immer angezogen. Ich bin mir allerdings nie wirklich klar geworden, warum überhaupt. Zwar könnte ich behaupten, dass die Technik wie ein Spielzeug für mich war, wie ich damals wohl selbst glaubte, jedoch war ich nie wirklich virtuos. Die Welt durch die Kamera zu beobachten war womöglich aufregender. Menschen verhielten sich plötzlich anders, wenn sie bemerkten, dass sie gefilmt wurden. Jener Eindruck ist schwer zu fassen, für einen Moment schien das Gesehene erst wirklich präsent zu werden – das Bild verwickelte sich ins Geschehen. Seltsamerweise hat diese Faszination im zunehmenden Alter nachgelassen. So etwas wie eine Scham vor den Bildern beschlich mich. Vor allem Bilder, die nichts mehr mit mir und wie ich mich selbst sah zu tun hatten. Aber von einer ebenso unklaren Anziehungskraft war seit ein paar Monaten wieder mein Interesse daran geweckt. Doch ging diese nicht mehr wie früher von einer gewissen Naivität mit der Technik aus. Es war die Frage, was sich in diesen Videos finden lässt und warum diese entstehen. Nebulös hingen mir die Umrisse der Bilder noch im Gedächtnis, doch ein eindeutiges Motiv ließ sich nicht festmachen.

Da lagen sie schließlich vor mir. Zwei Kassetten, beide weit über 20 Jahre alt, mit großer Wahrscheinlichkeit hatte in dieser Zeit auch niemand ihren Inhalt gesehen. Sie waren mit einigen sorgfältig geschriebenen Wortfetzen versehen. Mir fiel es immer schwer, die Schrift meiner Eltern zu entziffern. Sie war weder schnörkelig noch ungenau, aber sie war mit einer Strenge und nüchternen Makellosigkeit versehen, die mir fremd schien. Meiner Mutter hatte mir noch bevor sie das Paket verschickte, berichtet, dass es sich dabei wohl um Aufnahmen aus der Kindheit meiner Schwester und mir handelte. Ich wusste dabei nicht recht, was sie damit meinte und versuchte mich zu erinnern, welche Rolle Video in unsere Familie spielte. Ein wichtiges, für mich immer geheimnisvolles Gepäckstück, gemeinsamer Familienurlaube mit den Geschwistern meiner Mutter, waren Taschen, in denen Fotoapparate und Videokameras transportiert wurden. Irgendwann verschwanden sie. Erlebnisse wurden festgehalten, doch wie mein Bezug zu ihnen, verloren sie allmählich den Wert gesehen zu werden. Einzig Geschichten und immer reicher an Ausschmückungen werdende Anekdoten blieben, aber die Videos selbst als Beweisstücke verstaubten in den Wohnzimmergarnituren nebst den anderen unbenutzten Geräten.

Mit ein wenig Recherche konnte ich herausfinden, wie man die Videos über einen Computer digitalisieren kann. Auf YouTube und in einigen Foren stieß ich schnell auf eine kleine eingeschweißte Gemeinde. Meist Menschen zwischen 30 und 40, die bereits eine Familie gegründet hatten. Sie waren dabei nur selten von einer erkennbaren Neugierde getrieben, eher könnte man meinen, dass viele von einer gewissen Sehnsucht heimgesucht wurden. Sie schienen zu wissen, was sie taten. Die Bilder hielten für sie keine Überraschungen bereit. Das, was sie sahen, glich einem endlosen Stapel von Erinnerungen, den es in stoisch-beamtischer Pedanterie zu bearbeiten galt. So fand auch ich mich wieder, wie ich Kabel in Buchsen stöpselte, verzweifelt stundenlang nach geeigneter Software suchte und dabei ganz vergessen hatte, warum ich das überhaupt tat. Erst als ich merkte, dass ich nicht zu einem Ergebnis kam, begriff ich, wie besessen ich in der Technik versank. Frustriert und auch ein wenig überrascht von mir selbst, ließ ich die Dinge ruhen, setzte einen Kaffee auf, rauchte und ging nach draußen.

Später am Tag: ein kurzes Telefonat mit meinem Onkel. Die Worte herzlich aber knapp, lange Zeit hatte wir keinen Kontakt. Auf einmal sehe ich endlich ein erstes Bild des Videomaterials, dank seiner Hilfe. Für einen Moment verstumme ich – bin aus dem Gespräch und meinen Gedanken gerissen. Ich bedanke mich etwas verlegen, verspreche ein baldiges Wiedersehen und lege auf. Leise surren die Geräte monoton vor sich hin. So vergehen 4 Stunden, in denen beide Kassetten nacheinander überspielt werden.

II.

Ein erstes Bild: Am unteren rechten Bildrand überdeckt ein Datum das Motiv. Ein Kind – meine Schwester – sitzt in der Küche auf einem Stuhl. Es ist gespenstisch still. Im Hintergrund ist ein Radio kaum wahrnehmbar zu hören, das den Raum mit weihnachtlicher Musik bespielt. Eine Frauenstimme flüstert leise. Es muss meine Mutter sein, doch ihre Stimmfarbe ist mir seltsam unbekannt. Die Harmonie der Szene verbreitet einen geradezu elegischen Dunst, ausgelöst von der unbekümmerter Simplizität, sogleich wirkt sie beklemmend. Es gibt nur zwei Protagonisten im Raum – das Kind und die Kamera. Die Szene, nur ein vorübergehender Moment, deren Verlauf nicht vorhersehbar scheint. Sie steht wie ein gehäuseloses Diorama für sich, sie kennt weder Anfang noch Ende. Ganz unvermittelt: ein Schnitt – meine Schwester sprach eines ihre ersten Worte. Sofort versucht mein Vater aus ihr die Worte, zur Bewahrung eines Beweises, nochmals hervor zu bringen. Es ist merkwürdig: nie wird ein Kind in diesem Moment verstehen, was hier gerade passiert und doch ist man jenem dabei nicht fern. Die sprunghafte Aufmerksamkeit des Kindes gleicht der Kamera, die ihr gegenüber ist. Alles ist verlockend, jede Erfahrung neu, nichts verstellt den Blick. Eine Kerze auf dem Tisch weckt die Aufmerksamkeit des Kindes. In den Augen leuchtet Faszination, die augenblicklich in der Erfahrung des brennenden Schmerzes durch die Hitze auf der Handfläche erlischt. Regungslos blickt die Kamera darauf. Eigentümlich verkörpert sich die gleiche Faszination des Kindes im Bild der Kamera. Meine Mutter nimmt die Hand meiner Schwester, versorgt spielerisch den Schmerz. Später wird sie zustimmend flüstern als meine Schwester suchend direkt in die Kamera blickt: „Papa mach’ aus, wir wollen nicht gefilmt werden!“.

Einige Minuten später auf dem Band: Meine Schwester steht im Wohnzimmer, ihr Gesicht dicht vor der Kamera, sie deutet auf die Linse und bemerkt einen piepsenden Ton. Im Hintergrund sind die Töne einer laufenden Fernsehsendung zu hören, der Tisch ist gedeckt. Meine Schwester verschwindet kurzerhand aus dem Bild. Meine Mutter lehnt sich entspannt am Boden sitzend über die Seite des Sessels, während sie auf den Fernseher blickt. Für einen kleinen Moment beobachtet die Kamera sie unbemerkt. Dann wendet sie den Kopf über die Schulter und lächelt verschmitzt. Der Blick durchdringt die Kamera, er scheint etwas erkannt zu haben, das sich unserer Aufmerksamkeit entzieht. Fluchtartig wendet sie ihren Kopf leicht beschämt zurück, als wäre ein Geheimnis entdeckt worden.

Das zweite Band, diesmal auf einem Campingplatz im Mai, gemeinsamer Familienurlaub. Die Familie sitzt zusammen während eines lauen Abends auf Klappstühlen rings um Tische. Die Kinder spielen, Erwachsene tauschen Geschichten aus, planen den nächsten Tag. Schnitt. Die Kamera befindet sich gegenüber meiner Mutter, sie wirkt müde. Zoom. Meiner Mutter schaut wieder verlegen in die Kamera, sie lächelt. Für einen kurzen Moment herrscht Stille, bis das Gespräch um sie herum fortgesetzt wird. Ihr Augen verlieren die Kamera. Die Kamera schwenkt zu ihrer lesenden Sitznachbarin. Schnitt. Mein älterer Cousin hält mich in den Armen. Wir beide schauen gemeinsam in die Kamera. Mein Vater kommentiert dies kichernd mit einem Phrase, die ich so nur von ihm kenne. Er filmt uns.

Wieder einige Minuten später auf dem zweiten Band, es ist ein Silvesterabend. Im Wohnzimmer sitzt ein befreundetes Paar meiner Eltern auf dem Sofa, meine Mutter zwischen ihnen. Die Kamera befindet sich vom Geschehen unbeteiligt mitten im Raum. Abermals zoomt die Kamera auf das Gesicht meiner Mutter. Sie wirkt irritiert, versucht den Augenblick zu überspielen, vergewissert sich, was geschieht. Wieder nur ein Ausschnitt, dessen Einbettung nicht nachvollziehbar scheint. Die offenbare Willkür des filmischen Eingriffs überschattet die Zeit davor und danach. Anders als bei einer Fotografie, die sich zwar als Abgeschlossen präsentiert, aber erst in sich die Hervorbringung eines Moment birgt, der stets unabgeschlossen ist, bleibt das Video seltsam passiv. Seine mutmaßliche Realität steht nicht in Frage, denn sie legitimiert sich durch die Bewegung. Es ragen jedoch aus diesem steten Fluss der Evidenz Irritationen heraus. Bilder und Töne, die klandestin, den Lauf der Dinge still stellen. Sie erstrecken sich über den Horizont des Visuellen.

III.

Die beschriebenen Bilder mögen banal sein, denn sie sind allgemein bekannt. Wenn nicht in der eigenen Familie, dann sind sie durch das Fernsehen und die Unterhaltungsindustrie seit den 1980er Jahren perpetuiert worden. Das Bewegtbild scheint sich dabei in eine reine Gebrauchsform als Dokument des Alltäglichen zu verwandeln. Filmanalytisch wäre zwar auch diesen Bildern beizukommen, doch bleibt dabei etwas unscharf. Die Naivität lässt sich nicht beschreiben, sie liegt viel mehr zwischen den Bildern. So sind die Aufnahmen einerseits von einer auktorialen Intention geprägt, andererseits verlieren sie ihre Aufmerksamkeit für das filmische Motiv, sobald sie selbst Teil der Szene werden. Wie Sand, der durch Hände rinnt, muten diesen Bilder an, ohne Anfang und Ende. Die Bilder sind nicht montiert, folgen keiner Handlung, aber keines ist überflüssig oder redundant. Reflexionen über das home movie sind nicht neu, sie sind vermutlich ebenso alt, wie das das Medium selbst. Gleichwohl weisen sie stets eine gewisse Aktualität auf: so wie Anfang und Ende, ist dem Video Vergangenheit und Zukunft vorgeblich unbekannt. Man könnte meinen, das Video sei in gewisser Hinsicht Ausdruck des Gegenwärtigen, nichts Utopisches oder Unberechenbares ließe sich darin entdecken, indem es sich der Zeit unwidersprochen – konformistisch – andiene.

Video zeichnet sich in besonderem Maße als Zentrifuge des Familiären aus. So bildet das Fernsehgerät ein Epizentrum des mittelständischen Wohnzimmers, um welches sich herum die Sitzordnung auflöst. Unverrückbar steht es im Raum wie eine Trophäe des bescheidenen Wohlstands. Weltumspannende Ereignisse konzentriert auf seine Fläche. Wo im Kino Abkapselung herrscht, erfordert das Fernsehen Teilhabe. Das massenfähig gewordene Video steht dahingehend für die Kehrseite. Intime Erlebnisse, festgehalten auf Video, bilden nur eine Oberfläche von einer Notwendigkeit, die dieser Bilder hervorbringt – sie erzwingt. Sie sind dabei untrennbar mit ihrer Geschichte verbunden. Trotz ihrer unbedeutenden, alltäglichen Banalität können sie nicht vor der archivarischen Einordnung fliehen. Mit gestempeltem Datum untrennbar versehen, ist es als würden sich die Bilder aus der Zeitgeschichte speisen, sie geradezu sublimieren, Zeugenschaft ablegen.

Ein Bild der eigenen Familie zu sehen, wirkt überraschenderweise ungleich befremdend. Die Erinnerung, aufgeladen von eigenen Romantisierungen und Wünschen, trifft auf ein nicht zu leugnendes Bild vergangener Wirklichkeit. Keinesfalls sind die abgebildeten Menschen nicht zu identifizieren, im Gegenteil: es verwundert wie nah sie der eigenen Vorstellung kommen. Viel eher ist es diese unmerkliche Disruption, durch die narzisstische Naivität der Kamera, welche die eigene Wahrnehmung infrage stellt. Etwas über die Vergangenheit zu erfahren, die in diesen Bildern begraben liegt, ist somit vergeblich, denn sie sind nur ein trügerisches Dokument, obgleich ihrer anmutenden Glaubwürdigkeit. Es ist, als diene jedes Bild nur dazu, die neue Fiktion einer Familie zu bilden. Das Video gibt sich in dieser tautologischen Form selbst recht: „Ich filme, also bin ich.“ An dieser Fetischisierung des Blickes, der sich unbeteiligt wähnt, aber dennoch partizipiert, wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass sich das Video nicht recht gibt, sondern sich selbst überführt.

Denkt man an Video, dann spielt das Subjekt direkt dahinter selten eine Rolle. Wohl eher reizt uns das Gesehene. Fahle Farben, unscharfe Gesichter, pixelhafte Strukturen, helle Schlieren, schlechte Ausleuchtung, verzerrter Ton – all dies könnten ebenso Assoziationen sein. Nichts davon lässt uns dem Inhalt der Bilder näher kommen. Stattdessen gibt einen spürbaren Hang in der Popkultur dieses Objekthafte im Begriff einer ‚Ästhetik‘ zu verdingen. Ästhetik wird dabei zu einer Schrumpfform im Gewand bloßer Äußerlichkeit – eines sogenannten „Looks“ gemacht. Wohlwollend möchte man meinen, so ließe sich Distanz zum gefühlsschwangeren Einheitsbrei der saturierten, gestochen scharfen Adobe-Kulturindustrie dank Arri-Optik und Vollformat-Sensor schaffen. Doch anstatt Brechung wird ein narzisstisches Subjekt unter Zwang im Dienste objektiv-authentischer Totalität gefügig gemacht. In dieser Weise ließe sich tatsächlich von Ästhetik sprechen, einer proprietären Auto-Ästhetik, deren eigensinniger Blick zum Gegenstand gemacht wird.

Video, und dafür steht das sogenannte „home movie“ geradezu paradigmatisch, müsste in erster Linie hinsichtlich seiner spezifischen Teilhabe begriffen werden. Es als einen neutralen Gegenstand zu betrachten, macht es dagegen lediglich zum paradoxen Gebrauch der eigenen Selbstvergewisserung, Teil einer Geschichte zu sein, deren Historizität längst verdinglicht ist. Eine verbissene Suche nach repräsentativer ‚Wahrheit‘ der eigenen Vergangenheit im Material wird davon begleitet. Die proprietäre Auto-Ästhetik besitzt indessen darin ein janusköpfige, doppelte Gestalt. Im Moment der Irritation und Verstörung entrinnt das Video eigensinnig der Gewalt des Gegenwärtigen, indem es unbewusst eine Zukunft adressiert. Es ist nicht einfach so, dass die Toten beginnen auf einmal zu uns zu sprechen, viel mehr wird unter dem Mantel der konkreten Gleichförmigkeit ein Abstraktum enthüllt, das sich nur sinnlich erfahren lässt. Der Blick wendet sich auf einmal gegen das Material. Wenn ich die Aufnahmen anschaue, die meine Eltern von meiner Schwester und mir angefertigt haben, dann spielt das Abgebildete keine Rolle mehr. Es ist allerdings so, als würde ich einen naiven kindlichen Blick erfahren, mit dem man immer wieder neu sehen kann. Ich komme somit der Antwort auf die Frage einen Schritt näher, wie es ist, die Gegenwart durch das Okular oder Display einer Kamera zu begreifen. Dass auch nicht jedes Detail dieses Textes der Realität des tatsächlichen Materials entspricht, gibt zu verstehen, wie sich diese Erfahrung rätselhaft verschleiert darstellt.