Viennale 2014: Dialog: The Taste of Ford

The Lost Patrol Viennale 2014

Zwischen zwei Filmen haben Rainer und Patrick kurz Zeit gefunden, über ihre Eindrücke vom Festival zu disktutieren. Dabei geht es um Enttäuschungen, John Ford und ja John Ford.

Rainer: Nachdem wir uns zwischenzeitlich wenig gesehen haben, gibt es nun doch wieder einiges zu besprechen. Wie wäre es wenn wir mit den größten Reinfällen der letzten Tage beginnen? Da gehören für mich auf jeden Fall Deux Jours, une Nuit von den Dardennes und 20,000 Days on Earth dazu.

Patrick: Also auf die Dardennes habe ich ja hier verzichtet, weil ich ein wenig Angst habe. Zu 20,000 Days on Earth kann ich ich nur sagen, dass ich den nicht ganz so enttäuschend fand. Also aus filmischer Sicht scheint mir das sehr uninteressant, da hast du Recht, aber als Aufzeigen einer Fiktionalisierung des eigenen Images, also jenes von Nick Cave und damit irgendwie gleichzeitig als Mythologisierung und De-Mythologisierung fand ich das schon interessant.

Rainer: Das verstehe ich nicht ganz. Wo findet denn da eine Mythologisierung und De-Mythologisierung statt? Die Mischform aus Spiel- und Dokumentarfilm wäre zwar durchaus geeignet gewesen genau das zu erreichen, aber ich fühlte mich Cave weder nahe, noch verstärkte der Film den Mythos um die Person. So hat der Film den Menschen höchstens ein wenig entzaubert ohne ihn mir näher zu bringen – und das muss man ihm fast vorwerfen.

Patrick: Ich fand, dass er ziemlich deutlich machte, dass man sich nie sicher sein konnte, ob die Informationen zum Beispiel über sein Familienleben nun stimmten oder ob sie erfunden waren. An einer Stelle sagt er ja mal dem Sinn nach: Print the Legend. Damit passt er ja auch zu John Ford.

Nick Cave am Steuer in 20,000 Days on Earth

20,000 Days on Earth

Rainer: Eine Überleitung, die mich gleich viel positiver stimmt. Umso mehr ich von diesem Mann sehe, desto mehr bin ich erstens, davon überzeugt, dass er ein Genie ist, und zurecht einen Platz an der Sonne des Filmpantheons hat, und zweitens, dass er viel mehr als nur ein großer Westernregisseur ist. Vor allem die komische Brillanz in Filmen wie My Darling Clementine, The Sun Shines Bright oder Two Rode Together haben mir gezeigt, dass Ford nicht nur ein ausgezeichnetes Händchen für Lichtsetzung und Kameraarbeit insgesamt hat, sondern weiß wie man einen Gag inszeniert.

Patrick: Und seine Western sind ja auch voller Humor. Wobei der Humor immer etwas bitteres hat, etwas verbittertes.

Rainer: Ich habe gestern nach dem Screening von Two Rode Together noch gesagt, dass ich nun überzeugt bin, dass alle Filme von Ford außer vielleicht Grapes of Wrath eigentlich Komödien sind. Das war natürlich ein Scherz, nichtsdestotrotz steckt da ein Fünkchen Wahrheit drin.

Patrick: Er hat ja selbst gesagt, dass er ein Regisseur von Komödien ist, der ernste Filme macht. Zum Beispiel bei The Lost Patrol war dann allerdings kaum mehr Humor spürbar. Ich glaube sogar, dass es bei Ford einfach um dieses Gespür für Sentimentalität geht und Humor kann da eine wichtige Rolle spielen. Sozusagen um den Kitsch zu umgehen.

Rainer: Hat John „Duke“ Wayne das nicht sogar in Directed by John Ford von Peter Bogdanovich genauso gesagt? In Bezug auf diese eine Szene gegen Ende von She Wore a Yellow Ribbon, als der alte Captain vor versammelter Truppe seine Brille zur Hand nehmen muss um die Inschrift auf der Uhr zu lesen.

Patrick: Ja so ähnlich hat er das gesagt. Diese Szene ist auch ein gutes Beispiel. Aber viel besser gefällt mir wie Herr Ford inszeniert, wenn es einen Heldenmoment gibt. Ich denke daran wie der Typ in Kentucky Pride stolpert nachdem er scheinbar das Pferd umgebracht hat oder wie John Wayne in den Saloon tritt in The Man Who Shot Liberty Valance.

Rainer: Fällt dir auf, dass wir uns schon wieder ziemlich lange über John Ford unterhalten? Das passt irgendwie ganz gut in mein Gesamterlebnis des Festivals – dass ich immer mal wieder in einen Ford-Film gehe und dann dort den Frust über so manchen Film der Gegenwart hinter mir lassen kann.

Jimmy Stewart in Two Rode Together

Two Rode Together

Patrick: Ist aber auch ein wenig unfair, weil Ford so gut ist…empfindest du die Filmauswahl denn als schwach?

Rainer: Nein, ganz und gar nicht, aber wie soll die Filmproduktion eines mickrigen Jahres mit John Fords Gesamtwerk mithalten?

Patrick: Du hast ja auch andere Retros.

Rainer: Von denen sehe ich aber nicht annähernd so viel (außer von den 16mm-Sachen).

Patrick: Glaube ich gar nicht. Du warst doch bei Farocki, du warst bei Mortensen, du warst bei Tariq Teguia, du warst bei Godard…

Rainer: Ja, mein Kommentar zu Ford war eher in Hinsicht auf die aktuellen Filme bezogen. Die anderen Retros sind im Vergleich ja doch eher klein und fragmentarisch und eine Deborah Stratman oder ein Tariq Teguia gehen, so gut mir ihre Filme auch gefallen haben, neben Ford auch unter.

Patrick: Bei mir passiert auch etwas ganz anderes. Und zwar verbinden sich die Filme von Ford mit den aktuellen Produktionen. Am offensichtlichsten ist dies bei Jauja, den ich bereits in Hamburg gesehen habe. Aber auch zum Beispiel der rote Himmel bei Pedro Costa in Cavalo Dinheiro erinnerte mich an She Wore a Yellow Ribbon oder der Alkohol in Leviathan oder einige Einstellungen in Maidan und so weiter…eigentlich fast immer. Man sucht ja gerne nach so Linien auf Festivals und ich glaube, dass meine Linie durch die Filme John Ford ist.

Viennale 2014: Phantom Power von Pierre Léon

Phantom Power Pierre Léon

Narzisstische Blüte einer französischen Melancholie treibt durch ihr Gewissen; was treibt dich an, welchem Strang folgst du? Französische Mädchen trennen sich in einem Machtspiel des Schmerzes und wir hören diese Hypnose die ganze Nacht (der erste Schnitt auf das junge Mädchen mit glasigem Blick, ein Hauch von einer Sekunde bevor sie spricht, das ist ein solcher Moment von dem man träumt), verrauschter Sturm eines Korridors, ein nackter Mann in einer roten Nische, in einer roten Nische ist ein nackter Mann. Er liest ein Gedicht, das er auswendig kann. Appollinaire (Vendémiaire). Das ales und mehr ist Phantom Power von Pierre Léon.

Hommes de l’avenir souvenez-vous de mo
Je vivais à l’époque où finissaient les rois
Tour à tour ils mouraient silencieux et tristes
Et trois fois courageux devenaient trismégistes

Russland ragt wie ein süffiger Schatten in die nächtlichen Reflektionen eines ruhigen Hauses, ein verspielter Suizid, wohin führt dein Weg: Die Hände von Fritz Lang, die Hände bei Fritz Lang, Tränen tropfen auf die Remains, das Bleibende bleibt. Ein Gespräch am Fenster, ein Mann auf einem Fahrrad, die Augen eines Mannes, dann wieder die Hände: In der Badewanne. Wie sehen Hände in der Badewanne aus?

Que Paris était beau à la fin de septembre
Chaque nuit devenait une vigne où les pampers
Répandaient leur clarté sur la ville et là-haut
Astres mûrs becquetés par les ivres oiseaux
De ma gloire attendaient la vendange de l’aube

Phantom Power

Was treibt? Was treibt dich an? Es tropft auf die Hände, sie knöpfen, sie schreien, wenn sie sich spreizen. Wann hat Fritz Lang über Hände nachgedacht? Ein Kino macht dieser Pierre Léon, mit dem muss man lernen umzugehen. Er hat diesen Film als eine Antwort auf die ausbleibende Finanzierung eines anderen Films gedreht. In den uninspirierteren Momenten wirkt das ganze wie eine Müllsammlung, in der Léon das unbrauchbare seines filmisches Schaffens poetisch gebraucht, in besseren Momenten macht er Musik. Nichts geht so ganz zusammen in diesem Film, der zugleich kein Film ist und tausende. Ein wenig Chris Marker steckt im Film, in der nachdenklich-lyrischen Art des Voice Overs in den Fragen über den Blick und die Zeit. Ein wenig Jonas Mekas in der Spontanität der Bilder, ihrer Flüchtigkeit. Und ganz sicher eine der lyrischsten Found Footage Montagen, die ich bisher sehen durfte: Die Hände bei Fritz Lang (ist das wirklich nur Fritz Lang?). Am Ende ist der Film wie eine trunkene Nacht, ein Dämmerlicht und ob man es als Morgen oder als Nacht wahrnimmt, ist eine ganz andere Geschichte. Léon arbeitet fast wie ein DJ seiner Erinnerungen. Aber diese Erinnerungen existieren auch ohne ihn und werden nur in ihrer Montage zu seiner Erinnerung an diese verlorene Nacht in Paris.

Un soir passant le long des quais déserts et sombres
En rentrant à Auteuil j’entendis une voix
Qui chantait gravement se taisant quelquefois
Pour que parvînt aussi sur les bords de la Seine
La plainte d’autres voix limpides et lointaines

Viennale 2014: Dialog: Die Einsamkeit der Inspiration

Nachdem wir uns endlich in den gleichen Filmen wiederfanden, haben Rainer und ich unsere Tradition von der diesjährigen Diagonale fortgeführt und einen kurzen (diesmal wirklich) Dialog über die Filme des Tages geführt. Mit dabei: Sobre la marxa von Jordi Morató, National Gallery von Frederick Wiseman und ein 16mm-Programm.

Sobre la marxa Viennale 2014

Sobre la marxa von Jordi Morató

Patrick: Also wir haben ja gerade Sobre la Marxa gesehen. Ein Film über einen sehr beeindruckenden Mann. Für mich ein Film, der es mir erlaubt hat völlig naiv den unglaublichen Bauten und Aktionen dieses Dschungelmanns zu folgen. Eine Inspiration einfach…war das für dich ähnlich?

Rainer: Inspiration ist ein starkes Wort. Ich habe den Film sehr genossen, er hat den Festivalalltag entschleunigt und es hat Spaß gemacht diesem Mann zuzusehen. Auf der anderen Seite ist Sobre la Marxa wohl kaum ein Film ohne den die Menschheit nicht weiterbestehen kann.

Patrick: Inspiration meine ich tatsächlich im Hinblick auf die Figur des Mannes und nicht auf den Film selbst. Ein Spanier, der 45 Jahre lang seine eigene ungalubliche Stadt aus Holz und Steinen in einem Wald baute und dreimal alles wieder abreißen muss nur um es wieder aufzubauen. Für mich lag darin eine derartige Romantik und Tragik, eine solche Leidenschaft, die ich einfach nur als berührend empfand und seine Bauten waren zudem wundervoll. Ich finde es wichtig, dass man sowas auf Film festhält. Entschleunigt klingt interessant? Sind wir nicht kurz davor aus einem kontemplativen 16mm (Die Gegenwart des 16mm-Films) Programm gekommen?

Rainer: Ja, in Bezug auf den Mann (Garrell) gebe ich dir mit Sicherheit recht, auch wenn ich weder Ambitionen noch Hoffnung habe jemals eine eigene Stadt zu bauen. Ich finde es noch immer interessant, dass du dieses Programm als kontemplativ wahrgenommen hast – gut die Hälfte der Filme war dermaßen schnell, dass sie knapp an der Grenze zum Flickerfilm angesiedelt waren und nach Runa Islams This Much is Uncertain taten mir regelrecht die Augen weh. Alles in allem konnte ich diesem Programm leider nicht so viel abgewinnen wie du. Da war sehr vieles dabei, dass ich so, oder so ähnlich, bereits in besserer Ausführung gesehen habe.

Patrick: Es geht auch gar nicht darum, dass man eine Stadt bauen muss. Es ist ein Lebensmodell und es atmet eine Freiheit, die glaube ich für alle inspirierend sein kann. Und so ganz ohne war der Film dann in seinen Reflektionen über Fiktionalität und Realität, Feuer und Wasser und mit einem brennenden Teddybären auch nicht. Ich habe dieses Programm davor tatsächlich als Programm genossen und auch so wahrgenommen. Und in diesem Sinn war es für mich sehr kontemplativ vom Sonnenuntergang über den Nebel bei Ben Rivers bis zu abstrakten Hubschraubern. Ich finde, dass die Filme da ineinander geflossen sind und This Much is Uncertain habe ich tatsächlich ganz anders wahrgenommen was auch für den Film spricht. Ein Programm voller Einsamkeit. Ich hatte da immer das Gefühl, dass die Bilder in einsamen Momenten aufgenommen wurden. Das bringt mich wieder zurück zu unserem Helden Garrell aus Sobre la Marxa. Ist das für dich ein einsamer Mann?

The Coming Race Ben Rivers

The Coming Race von Ben Rivers

Rainer: Diese Frage ist für mich eigentlich nicht beantwortbar, denn wir sehen ja quasi nichts von ihm, außer seiner Filmchen und seine Arbeit im Wald. Aber selbst wenn das wirklich sein gesamtes Leben ist, also er ohne Familie und Freunde ein Eremitendasein fristet ist es zumindest ein erfülltes Leben – da fällt dann die Einsamkeit auch nicht mehr so stark ins Gewicht. Aber das ist alles Spekulation. „Ein Programm voller Einsamkeit“ – ein spannender Ansatz, für mich war es eher ein Programm des Tonalen – das begann mit der Stille in Tacita Deans The Green Ray und endete im visualisierten Helikoptergeräusch bei Rouard. Da fehlt mir der mythisch-romantische Zugang, wie du ihn wählst, ein bisschen in meinem Wesen – da bin ich zu sehr Kopfmensch. Denkst du ist Frederick Wiseman auch ein Kopfmensch?

Patrick: Ich denke, dass Wiseman-und das zeigt auch sein National Gallery-vor allem ein geduldiger Mensch ist, ein Beobachter und Arbeiter. Aber da ist ja etwas, das Sobre la Marxa und National Gallery verbindet. Man sieht niemanden zuhause. Die Menschen in ihrer Arbeit, Kunst und Leidenschaft. Für mich ist es immer einsam, wenn mögliche Näheverhältnisse eine Sache des hors champs sind. Und das spiegelt wiederum die Festivalerfahrung an sich, denn man ist ja zumeist außer Haus, alleine mit sich und der Kunst. Da kann man noch so viel drüber sprechen.

Rainer: Das klingt ja ziemlich suizidal… Ich finde Festivals ganz und gar nicht einsam. Da ist man doch ständig unter Leuten und in Gesellschaft toller Filme. Was wäre wohl aus Sobre la Marxa geworden, wenn Wiseman den gedreht hätte? Wäre er dann durch Garrells Konstruktionen gewandert und hätte jeden Winkel erforscht? Oder ebenfalls wie Jordi Morató auf das Material aus früheren Jahren zurückgegriffen?

Patrick: Ich glaube, dass mir im Kino die Einsamkeit fehlt. Ich vermisse die Anonymität, die Unsichtbarkeit, da ich inzwischen zu viele Gesichter hier kenne. Aber ja, vielleicht hat das auch was Schönes. Mit der Einsamkeit eines Festivals meine ich aber dann doch die kurzen Begegnungen, die nie mit den Stunden, die man im Kino erlebte mithalten können und mir daher sehr oberflächlich erscheinen. So oder so kommt es mir einsam vor. Wiseman hätte diesen Film nicht gedreht. Aber fandest du die Found Footage Sache schlecht bei Morató?

Rainer: Zwischenzeitlich hatte das schon seine Längen… Also zum Beispiel diese Tarzan-Ausschnitte in dieser Ausführlichkeit zu zeigen, noch dazu mit wenig Erklärung vorne weg, war schon etwas gewöhnungsbedürftig. Ich finde das waren die schwächsten Momente des Films, da man die Analogie zwischen seiner Tarzan-Persönlichkeit auf der Flucht vor der Zivilisation und seinem Kampf gegen die Vandalen, die seine Bauten beschädigen auch in kürzerer Zeit aufbauen hätte können. Da braucht es keine endlosen, primitiven Videoaufnahmen, wo er in Lendenschurz auf Bäumen klettert.

Patrick: Das war wohl der absurde Trashfaktor. Sehe das ähnlich, aber für mich hat sich retrospektiv dadurch ein schöner Wandel in meiner Wahrnehmung von Garrell ergeben, weil er mir zunächst wie ein Nerd vorkam und am Ende wie ein Genie.

Viennale 2014: Leviathan von Andrey Zvyagintsev

Größe ist natürlich nicht nur ein Gestus, aber manchmal ist der Gestus mit einer Haltung zur Welt verbunden, die eine Größe voraussetzt. Leviathan von Andrey Zvyagintsev (nicht zu verwechseln mit der innovativen, ethnographischen Schwindel-Poesie Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel ) beginnt mit epischen Bildern eines brechenden Ozeans, dazu hört man ein symphonieartiges Treiben aus der Feder von Philip Glass, eine Macht, eine Urgewalt, die vom Ozean ausgeht, wie von der Härte und nüchternen Kälte Russlands und seiner Gesichter. Leviathan ist eine biblische Parabel und ein Politthriller mit satirischen Elementen. Im Zentrum der Handlung steht Kolia, der wie Hiob nach und nach auseinandergenommen wird. Nur ist es hier nicht unbedingt der Glaube, der ihn retten kann, sondern der Glaube der ihn vernichtet. Und sein Prüfer ist nicht Gott sondern ein korrupter Staat, der in alkoholischen Machtanfällen mit einer Angst regiert, die Schönheit vernichtet. Es treiben riesige Skelette an den vertrockneten Ufern, alte zerstörte Fischkutter, die Ruine einer Kirche. Zvyagintsev ist ein Freund der göttlichen Perspektive, seine Kamera bewegt sich elegisch und völlig unberührt über die Kraterlandschaften fast gemalter Gesichter einer sterbenden Hoffnung. Kolia lebt zusammen mit einer Frau, die so schön ist, dass man sie töten muss und einem Kind aus seiner ersten Beziehung. Bürokratische Machenschaften machen ihm durch unübersichtliche, in unfassbarer Geschwindigkeit vorgetragene Gesetze sein Eigentum, ein wundervolles Holzhaus am Ufer einer Geschichte streitig. Da Haus ist nicht das einzige was Kolia womöglich verliert. Er ist ein Bauernopfer dieser Welt. Dabei forciert Zvyagintsev die Themen von Schuld und Loyalität bis zu ihrer philosophischen Rasierklinge, das Blut rinnt schon über den Film und dahinter könnte irgendwo eine Liebe stecken oder sagen wir eine Sehnsucht. Beziehungen sind hier Missverständnisse, sie sind wütend, voll kalter Leidenschaft und doch mit einem brutalen Herz, das sich in Besäufnissen an seiner eigenen Melancholie erstickt. Es wird getrunken und geschossen und betrogen.

Leviathan Film

Auch der Ton ist hier elegisch, das Flügelschlagen von Eismöwen am Horizont, der Wind und das Knistern von Holz. Immer verharrt die Kamera noch einen Augenblick länger an den Orten, sie fährt noch einige Meter in den Raum, verlässt ihn, betrachtet ihn gleichgültig. Aber irgendwas passiert da, so etwas wie Schicksal oder politische Ungerechtigkeit. In beiden Fällen ist man wehrlos wie die Schweine, die den Dreck essen. Das Fischerdorf wird in all seiner hässlichen Schönheit in Perfektion inszeniert, nüchtern und doch betrunken. Immer wieder kommt es zu satirischen Szenen. So schießen Figuren plötzlich auf Abbilder von Politikern. Dabei fehlt aber manch aktueller Täter, der anderswo die Wände ziert. Ein Betrunkener bemerkt: Dafür fehlt noch die historische Distanz…der Alkohol lässt einen nur so lange lachen bis es noch schlimmer wird in Leviathan. Dann ist da jene Frau, Lilya, ein weißer Geist mit kristallenen, glänzenden Augen. Sie wandelt zwischen totaler Schuld und absoluter Unschuld, aber wenn man einmal schuldig war, dann kann man nicht mehr unschuldig sein.

Die Macht ist eine Aggression in Leviathan, keiner scheint sich so recht helfen zu können, alle sind wie gesteuert von einem fehlgeleiteten Selbsterhaltungstrieb, der im Endeffekt nur den Frieden zerstört. Desolate Bilder einer verschwundenen Welt. Ein Schimmer einer unliebsamen Wahrheit. Es ist der Blick zur Decke in der Kirche, der als doppelter Moment im Film auftaucht und auch ein derartiges Echo kreiert. Einmal ist dies ein narrativer Moment, als das Kind am Ende zur Decke blickt, zeigt es, dass die Kirche wieder steht (welch fataler Brutalität!), andererseits vollführt diese Einstellung sozusagen das Kunststück ein Erinnerungsbild zu sein, weil man die Ruine fast über den Neubau legt, also schon das Ende im Anfang mitsingen hört. Die Dichotomie von persönlicher Freiheit und der Funktionalität eines Staates findet sich in allegorischen Versatzstücken auch in der Ehe, der Religion, in der Natur und im Wesen des Kinos. Am Ende muss man wegsehen oder gehen, aus Angst, aus Liebe oder weil man gezwungen wird.

Viennale 2014: Kentucky Pride und My Darling Clementine von John Ford

My Darling Clementine von John Ford

Die Programmierung von Kentucky Pride vor der pre-release Version von My Darling Clementine im Rahmen der John Ford Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum könnte-wenn man rein vom kreativ-vermittlungsbezogenen Potenzial kuratorischer Vorgänge ausgeht-zwei Gründe haben. Der erste Grund wäre, dass man einem oft übersehenen Film-in diesem Fall Fords Stummfilm Kentucky Pride-eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, wenn man ihm am ersten offiziellen Tag der Viennale neben einen dieser absoluten Filme von Ford, nämlich My Darling Clementine stellt. Ein anderer Weg würde in eine Verbindung zwischen den beiden Filmen führen, Abdrücke, die zwischen zwei Werken aus zwei grundverschiedenen Phasen des Schaffens von Ford flimmern.

Vielleicht findet der Dialog zwischen den Filmen aber in etwas statt, dass an diesem Abend im Unsichtbaren Kino gar nicht sichtbar war. Denn zum ersten Mal war es mir vergönnt diesen atemberaubenden Print der pre-release Fassung von My Darling Clementine zu sehen. Bekanntermaßen hatten sich die Produktions- und Regielegenden Darryl F. Zanuck und John Ford nicht auf einen finalen Schnitt einigen können. Zanuck zerschnitt Fords Visionen an einigen Stellen. So hatte ich nun zum ersten Mal die Gelegenheit diese alltäglichen Augenblicke zu sehen, in denen der faszinierende Wyatt Earp (gespielt von Young Mr. Henry Fonda, der nicht nur bei Ford immerzu spielt was er selbst und wir alle gerne wären, eine unbestechliche Gelassenheit, sicher und doch zurückhaltend, ehrenhaft und doch zielstrebig, abwesend und immer da) auf der Veranda sitzt, balanciert und atmet bevor Clementine in dieser Stadt mit dem vielsagenden Namen Tombstone ankommt. Ambivalenzen in den Figuren wie eine kurze Verständigung zwischen dem im pre-release sowieso weitaus aufregenderen Doc Holliday und Clementine während der Operation von Chihuahu. Die lyrische Seite des Western, die Zanuck natürlich nicht ganz aus den staubigen Kontrasten einer einsamen Seelenwelt entfernen konnte, ist und bleibt die große Stärke eines Films, der seine Figuren wie Geister im amerikanischen Sand inszeniert, dunkle Gestalten, die gegen die majestätische Luft laufen und dabei nie vom trockenen Humor des Regisseurs gewahr sind. Ein Schluck Whiskey ist hier immer zugleich ein Klischee, die Bewertung des Klischees, seine kulturelle Verortung, männliche Schwäche und Stärke, ein Ritual und eine Flucht. Der Duft nach Wüstenblumen ist nur jener eines Parfums, das Land ist immer eine Illusion, immer gibt es den nächsten Traum, die nächste Sehnsucht.

Henry Fonda in My Darling Clementine

In diesem Sinne ist es auch nur konsequent, dass am Ende der fordschen Fassung kein schüchterner Wangenkuss sondern ein einfacher Händedruck zwischen Wyatt und Clementine steht. Der Weg den Wyatt reiten wird, führt in das Bild Amerikas und zugleich eine endlose Wüste der Trauer. Zanuck hatte diesen flüchtigen Kuss nachdrehen lassen, ein Fremdkörper damit Hollywood funktioniert, eine zumindest etwas größere Sicherheit am Ende des Kinoabends. Ford wurde in seiner Karriere immer wieder Opfer solcher Zerstückelungen. Ob vom Regisseur beabsichtigt oder von seinem Studio Fox erzwungen steht am Ende von Kentucky Pride ein solcher Kuss (zum Teil vor Kameras!!!) und genau hier sprechen die Filme miteinander. Es geht dabei um die Frage der Vereinigung verlorener Seelen in der Weite eines Landes, das von gesellschaftlichen und politischen Prinzipien beherrscht wird, die in den männlichen Herzen von Ford keine andauernde Nähe sondern nur ein Streben nach sich Selbst und nach Mehr zulassen. In Kentucky Pride gehören diese Herzen und damit auch der Kuss Pferden. Der Regisseur versuchte sich in diesem Stummfilm an einer manchmal sehr niedlichen Jack London Erzählweise, indem er aus Sicht eines Rennpferdes in das Milieu von Pferderennen einsteigt. Dabei verfolgen wir die Geschichte des Rennpferdes Virginia’s Future, das sich verletzt, gerettet wird, von ihrer Tochter getrennt wird und schließlich voller Stolz diese bei einem Rennen beobachtet, wieder vereint, sich berührend. Ein Kontrast zweier Filme, bei denen der frühere Film ein Ende besitzt und der spätere geradewegs durch unsere Herzen reitet, als wäre da ein Horizont am Ende der Welt. Dies ist natürlich auch genrebedingt, aber im Dialog beider Filme zeigt sich wie Ford als Künstler und sein Sentiment dafür kämpfen mussten, Dinge wegzulassen, um mehr Gefühl zu ermöglichen. Der eigentliche John Ford Moment in der Beziehung zwischen den Figuren in Kentucky Pride vollzieht sich in einer Szene etwas früher im Film zwischen Mensch und Pferd. Es ist jene zerreißend poetische Anekdote als Virginia’s Futures Ziehvater Beaumont beiläufig auf einer Straße das Pferd tätschelt, ohne zu bemerken, dass es sich dabei um sein Pferd handelt. Es ist dies ein Augenblick dieser beiläufigen Nähe, dieser wahren Zärtlichkeit, die es immer nur in einer Flüchtigkeit geben kann bei Ford. Ein Sehnsuchtsbild aus Sicht des Pferdes, so wie das dringliche und emotionale Feuer in Wyatt, das ihn in den berühmten Tanz mit Clementine unter den unfertigen Symboliken einer Nation zieht.

In beiden Filmen sehen wir schwarze Pferde im Regen. In ihnen spiegelt sich vielleicht eine Einsamkeit und Schutzlosigkeit wieder, die nicht zuletzt auch für die Menschen in den Filmen gilt. In die Ecke gedrängt, wehrlos und doch voller Würde und Überlebenstrieb. Es ist entweder so, dass Wyatt Earp selbst wie ein Pferd getrieben wird oder dass die Pferde auch ohne ihre Reiter weiterziehen würden. Zumindest bis ein großer Produzent ihnen sagt, dass sie anhalten müssen.

My Darling Clementine von John Ford

(Aber niemand kann verhindern, dass Ford sich dafür interessiert wie es aussieht, wenn ein sterbender Mann einen letzten Schuss in einen Trinktrog feuert, vorbeigaloppierende Pferde einen staubigen Wüstenschleier entfachen, der das Unsichtbare als poetisches und doch reales Konstrukt offenbart oder ein Mann kurz nachdem er vermeintlich Schlimmes getan hat über einen Balken stolpert.)

Viennale 2014: German Love: Amour Fou von Jessica Hausner

Amour Fou von Jessica Hausner

Heute Abend eröffnet Amour Fou von Jessica Hausner die Viennale. Premiere feierte der Film in der Un certain regard Sektion der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes. In einer ganz bitteren Ironie erzählt die Regisseurin darin wie Heinrich von Kleist, einer jener großen deutschen Dichter und Denker, ein Romantiker, fataler Romantiker, bestechender Pragmatiker, dieser Mann, eine Partnerin nicht zum Leben sucht, sondern zum Sterben. Nach langer vergeblicher Mühe findet er in der Ehefrau eines Bekannten, Henriette Vogel, eine mögliche Partnerin.

Die deutsche Liebe, so voller Fatalität und Nüchternheit, so voller Vernunft und doch schlägt in ihr ein Herz, ein absurdes Herz. Man denkt an Wir sind Helden (auch wenn man sie nicht hören muss):

Aurélie die Männer mögen dich hier sehr
Schau auf der Straße schaut dir jeder hinterher
Doch du merkst nichts weil sie nicht pfeifen
Und pfeifst du selbst die Flucht ergreifen
Du musst wissen hier ist weniger oft mehr

Ach Aurelie in Deutschland braucht die Liebe Zeit
Hier ist man nach Tagen erst zum ersten Schritt bereit
Die nächsten Wochen wird gesprochen
Sich aufs Gründlichste berochen
Und erst dann trifft man sich irgendwo zu zweit

Amour Fou von jessica Hausner

Selten hat man diese zärtliche Gefühlskälte derart gekonnt, weil komisch, sowohl im Sinn von lustig als auch merkwürdig, gesehen. Dabei füht Hausner mit subtilen und tonalen Spitzen einen absurd-präzisen Kampf gegen die eigene Form und lässt gerade daraus so etwas wie ein filmisches Pendant für die Fatalität der Handlung entstehen. Das Erschreckende scheint, dass diese Art des Ausdrucks nicht nur ein historischer ist (auch wenn daher natürlich die meisten Manierismen der Figuren rühren) sondern ein deutscher. Amour Fou ist-wie man das so macht im österreichischen Kino-ein Tableaufilm. Nur, dass es hier die Bilder einer Zeit sind, die in den gemäldeartigen, entleerten Décors und in den steifen Personenkonstellationen zu Tage tritt. Wie Éric Rohmer in seinem Die Marquise von O… evoziert die Bildsprache eine Zeit und ein Gefühl für die Kunst und Weltsicht jener Zeit. Aber das Echo davon hallt heute besonders stark. Auch ist der Film äußerst vertraut mit dem Werk von von Kleist. Fast zu verspielt zitiert der Film nicht nur Inhalte sondern auch sprachliche Eigenheiten des Autors.

Hausner erzählt von den fehlenden Verbindungen zwischen den Menschen, den Merkwürdigkeiten, die in einem selbst verharren statt herauszuplatzen. Moralische Fragen werden in dieser Welt in ihr Gegenteil verkehrt. Ein Selbstmord als gemeinsame Tat ist dabei einer der großen paradoxen Aspekte des Films. Von Kleist erhöht den Moment größter Einsamkeit zur absoluten Zweisamkeit. Aus diesem Widerspruch zittert sich langsam eine allgemeine Widersprüchlichkeit zwischen Zuneigung und Respekt (diese wird besonders eindrucksvoll in der Dreiecksform des Schlafzimmers von Henriette und ihrem Gatten eingefangen).

Amour Fou von Jessica Hausner

Dabei deformiert die Regisseurin ihre Bilder hin zu einer bizarren Wahrnehmungsverschiebung im Zuseher. Am poetischsten gelingt ihr dies gegen Ende, wenn der großartig aufspielende Stephan Grossmann (schon lange habe ich keinen deutschen Schauspieler mehr derart nuanciert gesehen) als Vogel kurz nachdem er das Drama besichtigt einen Blick auf den See wagt. Die Banalität dieser Einstellung und die Spannungen zwischen inneren und äußeren Welten, die dabei entstehen, erinnern an jene Einstellungen von Bruno Dumont wie etwa am Ende seines La Vie de Jésus, in denen gerade durch die Normalität eine Beunruhigung ins Spiel kommt.

Der romantischte Film über die Lächerlichkeit von Romantik, den ich gesehen habe.