Viennale 2018: Aquarela von Victor Kossakovsky

Wirklichen Boden hatte Victor Kossakovsky noch nie unter den Füßen. Als Student, so erzählt er gerne, lud er andere Studierende zu sich nach Hause ein und wenn sie sich auf den Tisch stellten und ihm etwas erzählten, was sie erlebt hatten, kochte er ein Essen für sie. Einen Zweifel an der eigenen Größe gibt es nicht in seinen Bildern und Geschichten. Mit seinem ¡Vivan las antípodas! verlies er vor einigen Jahren seinen Pfad auf der dokumentarischen Suche nach Wahrheit, die mit dem wundersamen und herausragenden Belovy begann. Die Wahrheit genügt nicht mehr. Stattdessen ist es ein spirituell-abstrakter Reigen, der den dokumentarischen Blick loslöst von jedweder moralischer oder wissenschaftlicher Verpflichtung. Die Welt hat sich der Kamera anzupassen, nicht umgekehrt. Es geht um eine Wahrnehmung, die mehr sichtbar macht, als man sieht. Ein gefährliches Spiel, das mitunter an die Futuristen erinnert, aber aussieht als hätte National Geographic eine Experimentalschiene ins Leben gerufen.

Aquarela treibt diesen Impetus von Kossakovsky noch einmal weiter, denn sein Thema ist grob vereinfacht der Klimawandel. Der Film beginnt im ewigen Eis und folgt den Wegen des zerstörerischen Wassers hin zu Tropenstürmen und durch Dämme brechenden Strömen. Dabei gibt es drei Stränge im Film, die sich rund um diese Reise einer bisher so nicht gesehenen Destruktion und lodernden Kraft entfalten. Zum einen gibt es den Menschen in der Natur, mit der Natur, vor dem Hintergrund der Natur. Es ist der schwächste Strang, weil der Film sich nicht wirklich für Menschen interessiert. Unfassbare und schockierend ist das trotzdem, wenn die Kamera im erhabenen Schwebezustand teilnahmslos dokumentiert wie Autos im schmelzenden Eis des Baikalsees einbrechen, Menschen ums Überleben kämpfen und einer mutmaßlich sogar ertrinkt während die Kamera Gott spielt. Faszinierend ist das allemal, aber es wirft auch Fragen auf. Als der Film sich ähnlich schwebend und unberührt durch einen Sturm bewegt und sich in Bildern von im Hochwasser um ihr Leben strampelten Pferden suhlt, verhärtet sich der Eindruck einer völligen Teilnahmslosigkeit; es ist das Spektakel der (Selbst-) Zerstörung. Wir sehen es jeden Tag, aber selten so schön. Als Kossakovsky gegen Ende des Films einige Nahaufnahmen von durchnässten „Überlebenden“ in einer Höhle zeigt, weiß man nicht weshalb. Die Belanglosigkeit dieser Nahaufnahmen ist eine der schwächsten und inkonsequentesten Entscheidungen seiner Laufbahn. Warum sollte da plötzlich ein Mensch sein?

Denn was den Film eigentlich antreibt, sind nicht die Opfer oder Täter, nicht die Folgen oder Ursachen, es sind die neuen Bilder, die in den Katastrophen und Veränderungen entstehen. Kossakovsky hat nie aufgehört seine Mitstudierenden auf Möbel zu stellen, um neue Geschichten zu hören. Nur heute steht die Welt auf seinem Tisch. Im Ein- und Ausbrechen des Wassers finden sich neue Formen, Töne und Farben. Gedreht in 96 Bildern pro Sekunde, um mehr zu sehen: Blitzende Lichtspiegelungen im Wasser, eine sich wölbende Erde unter dem Eis, Eisberge, die wieder auftauchen, durch die Luft wirbelnde Tropfen, Delphine in Hochgeschwindigkeit und eine anhaltende Faszination mit dem Wellengang, die mitunter wie eine teurere Variante von Helena Wittmanns Drift die Naturpoesie des Meeres à la Jean Epstein kinematographisch wiederbelebt. Der zweite Strang des Films ist also die Schaulust. Man kommt aus dem Staunen auch kaum heraus. Die Bilder erschlagen einen mit Schönheit. Das gelingt auch deshalb so gut, weil Aquarela ein unheimliches Gefühl entwickelt für das Zusammenspiel von sehr nahen und sehr totalen Einstellungen. Immer wenn man sich beim Schauen eine Frage stellt, wie zum Beispiel, ob in diesem versunkenen Auto Menschen waren, wird sie mit dem nächsten Schnitt erklärt. Auf geographische Verortung und Erklärungen jedweder Art verzichtet der Film. Stattdessen macht er abstrakt und konkret die Kraft des Wassers spürbar. Dabei hilft hier und da der laute, ins metallene reichende Post-Rock-Score von Eicca Toppinen. Plötzlich wirken die Eisberge wie sich im Wasser wälzende Riesen, man spürt ein Jenseits der Bedeutungen, dem es tatsächlich gelingt die allgegenwärtigen und wichtigen Diskursfragen rund um den Klimawandel aussetzen zu lassen, um sich in einer Holzhammer-Sinnlichkeit zu verlieren.

Das ist auch zugleich der dritte Strang, der Strang der assoziativen Sinnlichkeit. Man denkt dabei zum Beispiel an Artawasd Peleschjan und seine Montage, obwohl Kossakovsky deutlich konventioneller arbeitet. Er setzt nicht auf Wiederholungen und Muster, die sich einzig durch den Schnitt freimachen. Dafür ist er viel zu sehr ein Bildgläubiger. In der Art und Weise aber, in der er etwas filmt, lösen sich die konkreten Orte und Gefahren auf zu einer Geschichte jenseits der Zeit. Mal wirken die Bilder wie aus einem (Alb-) Traum, mal erblindet man fast, ob der gewaltvollen Schönheit. Aquarela fordert eigentlich eine Positionierung vom Zusehenden. Es scheint aber ein wenig zu simpel zu sein, sich entweder in den Bildern zu verlieren oder sie zu verdammen. Beides zugleich geht schwer. Man staunt und fragt sich. Man ist sich nicht sicher und vor lauter Erhabenheit wird man ganz ergriffen. Oft ist das im Kino genau andersherum und man fühlt sich vor lauter Ergriffenheit erhaben. Vielleicht zeigt uns Aquarela auch den Preis einer neuen Schönheit. Ein perverser und spektakulärer Film.

Viennale 2018: Roi Soleil von Albert Serra

Roi Soleil von Albert Serra

Als Albert Serra vor dem Screening von Roi Soleil den Kinosaal betritt, beginnt er sogleich in sich überschlagendem Englisch und auf seine typisch exzentrische Weise von und über seinen Film zu erzählen. Seine kurze Einführung endet in einer Pointe, die erwartungsgemäß gut beim Publikum ankommt: Nach seinem letzten Film La Mort de Louis XIV hatten ihn Bekannte darauf angesprochen. Der Film sei ihnen zu konventionell gewesen. Nun habe er eben noch eine Version der Geschichte gemacht, die vor solcher Kritik gefeit ist.

Serra hat nicht zu viel versprochen, so viel vorweg. Während in seinem letzten Film Jean-Pierre Léaud langsam dahinsiecht, umgeben von seinem Hofstaat, prächtig kostümiert und von opulenten Requisiten umgeben, geht Serra in Roi Soleil den gegenteiligen Weg. Statt des ausgezehrten Léauds mimt nun Lluís Serrat den Sonnenkönig. Während Léauds Körper einigermaßen verbraucht wirkt, weist Serrats Leib eine Körperfülle und Jugendlichkeit auf, die man einem kranken, sterbenden Menschen nicht zutrauen würde. Das schmälert die Effektivität des Films aber in keinster Weise: Wo La Mort de Louis XIV letztendlich doch eine gewisse Form von Naturalismus zum Ziel hatte, ist Roi Soleil rein auf die Performance reduziert.

Stöhnend und ächzend schleppt, rollt und schleift sich Serrats Ludwig über den Boden einer Lissaboner Galerie. An vier Abenden hat Serra hier 2017 die letzten Stunden im Leben des legendären französischen Königs inszeniert. Und auch mitgefilmt. Denn, so Serra, vielleicht deckt die Kamera ja Dinge auf, die für das anwesende Publikum nicht zu erkennen waren. Serra hat auf jeden Fall mehr gemacht als einfach nur die Kamera mitlaufen zu lassen. Sieht man den Film, erkennt man deutlich ein filmisches Konzept hinter den Aufnahmen.

Zu Anfang steht der König noch aufrecht im rot ausgeleuchteten Galerieraum, bald schon muss er sich gegen die Wand lehnen, bis er schließlich zu Boden geht. Gegen Ende des Films dann gelingt es ihm kaum mehr sich von einer Seite auf die andere zu rollen. Während der Bewegungsradius und der Handlungsspielraum des Monarchen immer weiter eingeschränkt werden, nähert sich die Kamera immer weiter an. Wird Serrat zu Beginn noch von der anderen Seite einer Halle gefilmt, ist die Kamera am Ende ganz dicht an seinem Körper, registriert jede Bewegung, jedes schmerzerfüllte Zucken, jeden quälenden Atemzug. Die langsame Annäherung erzeugt eine Dynamik die abgefilmtem Theater und abgefilmter Performance-Kunst oft abgeht. Die Kamera ist hier kein Afterthought. Man braucht gar nicht beginnen zu diskutieren, ob ein solcher Film in ein Kino gehört. Es ist offenkundig.

Roi Soleil von Albert Serra

Knapp eine Stunde folgt man so dem Todeskampf von Serrats Ludwig. Sein gequältes Stöhnen wird einzig durch den Einsatz der spärlichen Requisiten unterbrochen: eine Etagere mit Süßigkeiten, einen Krug Wasser, aus dem Serrat im Liegen durch einen Schlauch trinkt. Die totale Isolation der Figur in diesem blanken Ort erzeugt eine irrsinnige Anziehungskraft, zieht einen in seinen Bann. Man fühlt sich seltsam vertraut mit diesem sterbenden Menschen, wenngleich es allzu offensichtlich ist, dass hier nur ein Schauspieler in einem Kostüm zu sehen ist.

Die Brechungen und Verfremdungen der Abstraktion vermögen es nicht, den Bann zu lösen. Das gelingt erst einem Geräusch, dass von außen in die Isolation des Films eindringt. Es ist das hallende Poltern von Schritten, die den Galerieraum erfüllen. Kurz danach beginnt man die ersten, dazugehörigen Beine zu sehen. Für die letzten Minuten seines Films, integriert Serra das Publikum in seinen Film. Die Kamera hat nun wieder eine entfernte Position eingenommen, der König hat seinen Todeskampf hinter sich gebracht. Aber statt einer bewegungslosen Leiche, kann man nun die Reaktionen des Publikums beobachten, das nicht so ganz weiß, ob die Performance nun beendet ist. Gewissheit bringt erst Serra selbst, der zum Abschluss selbst auftritt, sich dem liegenden Körper nähert und verkündet, dass Ludwig tot sei.

Es ist beeindruckend aus was für limitierten Mitteln Serra hier ein Werk höchster Konzentration erstellt – und wie im ein Medienübergang gelingt von der performativen zur Film-Kunst. Selbst ohne die Performance in Lissabon live erlebt zu haben, spürt man, dass der Film etwas gänzlich anderes ist, sich gänzlich anders anfühlt. Die Dauer ist eine andere. Sie ist segmentiert und sequenziell im Raum verteilt, es ist nicht die absolute Dauer, die die Aufführungen in der Galerie auszeichnete. So gesehen ist Roi Soleil auch ein ziemlich beeindruckendes Machwerk über die Unterschiede zwischen Film und darstellender Körperkunst. Bezeichnend, dass es von einem Künstler kommt, der die Grenzen zwischen Kino, Theater und Kunstraum in seinen Arbeiten beständig übertritt.

Viennale 2018: High Life von Claire Denis

High Life von Claire Denis

Mit blutigen Adern schlafende, in die Nacht des Alls fallende Körper; alles immer auf der Suche nach dem Licht. Wie in der manischen, machtmissbrauchenden, depressiven Suche nach Mutterschaft, dem letzten Strohalm einer am Rande des Bewusstseins zitternden Weiblichkeit in der sexualitätsbesessenen Esoterik von Claire Denis, dröhnt es selten in Kinosälen. Ein Film erfüllt von überwältigender väterlicher Zärtlichkeit, die man durch all die Grausamkeiten und Brutalitäten hindurch kaum erfühlen kann, obwohl sie doch so sehr nach Nähe schreit; nach Liebe.

Claire Denis’ neuer Film High Life schließt nahtlos und in aller erblassender Düsternis an ihren Les salauds an, als hätte es ihren merkwürdigen Versuch einer frustrierten Leichtigkeit in Un beau soleil intérieur nie gegeben. Ohne Unterlass ästhetisiert sie Gewalt in Isolation; Gewalt der Isolation. Es gibt einen Schrei aus den Tiefen ihrer Bilder und schon lange sind die Tänze, die in Denis’ Filmen wie die Erlösung selbst erschienen, sei es in 35 rhums, U.S. Go Home, Beau travail oder Nénette et Boni, in selbstsüchtiger Begierde wieder erschienen. Statt einer Umarmung werden reglose Körper im All entsorgt. Die Körper bewegen sich stumm in nie enden wollender Hoffnungslosigkeit.

High Life von Claire Denis

Trotzdem arbeitet Denis wieder mit Juliette Binoche, die sie in einen auf Plastikdildos tanzenden Spermarausch versetzt; zurecht wurde bemerkt, dass High Life vor allem ein Film über Körperflüssigkeiten ist. Praktisch keine mögliche aus Körpern rinnende Flüssigkeit wird nicht gefilmt von Yorick Le Saux, der normalerweise mit Olivier Assayas arbeitet und bei aller gestochen scharfer Körperlichkeit nie ganz an die Zerbrechlichkeit der Bilder einer Agnès Godard heranreicht. Muttermilch, Sperma, Blut und Schweiß vermischen sich zu den hypnotischen Tönen von Stuart A. Staples in eine Dichotomie aus Sünde und paradiesischer Utopie. Im Schnitt bedeutet das Gegensätze, die man so ähnlich aus Andrei Tarkowskis Solaris kennt: Natur und Raumschiff, sehnsuchtsvolle Augen und Blut oder der unerträglich laute Schrei eines Kindes, der die friedvolle oder erstarrte Stille selbst durchdringt. Man fühlt die Bewegung einer Selbstauflösung und die Suche nach den Extremen der Menschlichkeit. Um etwas noch zu spüren, etwas noch zu glauben: Wie schon 35 rhums und Les salauds ist High Life ein Film über die Liebe eines Vaters. Die Rolle der Mutter ist daran die schmerzvolle Narbe und das unheimliche Genre-Extrem zugleich. Binoche, die sich hexenartig im Wind windet und nach dem besten Sperma sucht, um die Passagierinnen an Bord zu befruchten, allesamt Ausgestoßene von der Erde, Mörderinnen und Herumtreiber auf Suizidmission, steht für die verschwundene Mutter.

Robert Pattinson, dem man Mut und Bemühen seit Jahren nicht absprechen kann, gibt den Vater, aber wirkt wie ein ausdrucksloses Stück Fleisch im Raumschiff, man will sich gar nicht die Grégoire Colins, Denis Lavants oder Vincent Gallos in dieser Rolle vorgestellt haben, aber dann, man könnte es sich zumindest zurechtdenken, ist es vielleicht gut, dass Pattinson und auch seine Mitreisenden so blass sind; man spürt, dass was fehlt stärker. Für einen Film über Zwischenmenschlichkeit jedenfalls geschieht sehr wenig, was wirklich menschlich im Sinn einer tiefergehenden Erkennbarkeit scheint. Vielmehr erspürt man alle Figuren als Ideen einer Verzweiflung, die das Licht im Film, ein Kind, umso heller erscheinen lassen. Man muss lernen wieder zu hoffen. Ein Ziel vor Augen zu haben, ein Licht zu suchen in dieser Dunkelheit. Wie man das von Denis kennt, setzt die Zeit immer wieder aus. Ellipsen und Brüche lassen die Bilder wie die gefilmten Flüssigkeiten aus dem Schwarz zwischen ihnen dringen, die Körper sind nur mehr Behälter für diese Flüssigkeiten. Die Bilder tragen nur die Zeit, die man zwischen ihnen verliert, spazieren.

Das Raumschiff selbst gleicht einem Behälter für Weltraumschrott. Als ein anderes Schiff andockt, finden sich dort nur dreckige, sich selbst zerfleischende Hunde; der Weltraum ist hier kein Ort für die großen Helden, die Abenteurer, er ist das schwarze Loch, in das die abwesende Erde ihren Müll entsorgt, um Experimente durchzuführen. In dieser von Ruhm und Hoffnung befreiten Situation, existiert der Raum für eine Nacktheit, die sich dem Verlust aller Träume in einer Endlosschleife bewusst werden muss, bis auch die letzte Flüssigkeit aus den Körpern rinnt und sie leblos verharren oder aber genau aus diesen Flüssigkeiten neues Leben entsteht.

Viennale 2018: Alice T. von Radu Muntean

Alice T. von Radu Muntean

Es gibt filmaffine Kreise in denen werden osteuropäische Filme, die auf den großen Filmfestivals laufen, pauschal als Studien des Elends abgetan. Besonders die Arbeiten jener Filmemacher, die noch vor einigen Jahren unter dem Begriff „Romanian New Wave“ zusammengefasst wurden, werden von diesen Kreisen gerne als Beispiel herangezogen, wenn es darum geht, sich darüber zu echauffieren, dass diese Filmemacher nur mit den etablierten Vorurteilen des westlichen Publikums über die postkommunistischen Länder spielen würden, um ihre Filme zu verkaufen.

Diese Haltung war mir immer schon suspekt. Zum einen zeugt sie von galoppierender Unwissenheit auf Seiten dieser Kritiker und oftmals auch davon, dass sie wenig Anstrengung unternommen haben, sich ein fundiertes Urteil über die doch sehr verschiedenen rumänischen Filmemacher zu machen, die es in den letzten zwanzig Jahren zu Bekanntheit gebracht haben. Zum anderen zeugt sie von Arroganz. Weil Westeuropäer sich anmaßen, aus der Ferne besser Bescheid zu wissen, wie ein Film über Rumänien zu machen sei, als die rumänischen Filmemacher, die den Großteil ihres Lebens dort verbracht haben und weil sie zudem nicht zu verstehen wollen, dass nicht alle Künstler ihre seichte Auffassung teilen, dass Filme (und Kunstwerke generell) in letzter Konsequenz doch immer irgendwie unterhalten oder zumindest auf einer positiven Note enden sollten.

Das ist eine etwas lange Einleitung für einen Film, der gar nichts dafür kann, dass ich just an diese Kreise denken musste, als ich ihn sah. Wer mit vorgefasster Meinung in Alice T. von Radu Muntean geht, kann nämlich getrost nach zwanzig Minuten den Kinosaal wieder verlassen und stolz sein Urteil als gefestigt verstanden wissen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt liegen die Karten nämlich auf dem Tisch: Die namensgebende Protagonistin des Films, Alice Tarpan, eine 16-jährige Schülerin, ist schwanger. In der Schule läuft es auch nicht wirklich. Als ihre Mutter von ihrer Situation erfährt, kommt es zu einem tränenreichen Streit. Ihrer Mutter sagt Alice, sie möchte das Kind behalten. Konflikt und Tragik sind vorprogrammiert, dass sich korrupte Ärzte oder Beamte einschalten, scheint offensichtlich, wenn man nach der Logik der Ablehner geht.

Alice T. von Radu Muntean

An dieser Stelle des Films denken sie sich vielleicht, dass sie getrost den Kinosaal verlassen können. Und verpassen so einen Film, dessen Komplexität sie vielleicht überrascht hätte. Denn hinter dem Rücken der Mutter sorgt Alice selbst dafür, dass es nicht zur Geburt kommt. Die Zeiten von 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile sind vorbei. Entsprechende Pillen kann man ganz leicht am Smartphone bestellen. Einen Nachmittag Schule schwänzen, wenn deren Wirkung einsetzt, und die Sache ist erledigt. Die Schwangerschaft und ihr Abbruch verkommen zur Nebensache, als kleines Ärgernis, dass Alice zunächst nichts anzuhaben scheint. Ist die Schwangerschaft von Alice ein etwas bizarrer MacGuffin? Sollte man es bei Alice T. wie bei Psycho machen, aber anstatt nach Vorstellungsbeginn niemanden mehr reinzulassen, stattdessen niemanden mehr rauszulassen, sobald der Film begonnen hat?

Es ist schon etwas seltsam, wenn nicht sogar bestürzend, mit welcher Ignoranz Muntean hier auf den ersten Blick über das Abtreibungsthema drüberfegt. Ein kritischer Geist mag sogar geneigt sein, die feministische Keule zu schwingen: Was erlaubt sich dieser Mann, ein so intimes Thema, das den weiblichen Körper betrifft, auf diese Weise zu behandeln? Man hat Zeit solche Gedanken zu entwickeln, während man das gut situierte Mittelschichtsleben der Figuren vorbeiplätschern sieht. Vielleicht ist es auch doch einfach ein Familiendrama mit einem rebellierenden Teenager, wie man es schon so oft gesehen hat. Oder auch nicht: Denn Alice ist adoptiert, ihre Eltern sind geschieden. Der Vater führt ein Lotterleben als Beachboy an der Küste, wo er einen Kitesurf-Verleih besitzt. Die Mutter hat einen jüngeren Freund, mit dem Alice nicht so richtig kann. Dazu kommen Schulprobleme und in der Liebe könnte es auch in geregelteren Bahnen laufen.

Alice T. von Radu Muntean

Langsam aber stetig – und während man von der ganzen Abtreibungsgeschichte noch zu abgelenkt ist, um groß auf Hintergründe zu achten – webt Muntean ein komplexes Familien- und Beziehungsbild. Alices Adoption hatte damit zu tun, dass ihre Mutter trotz jahrelanger Versuche nicht schwanger werden konnte. Schlechtere Filme würden hier beginnen zu psychologisieren: Ist Alices Abtreibung Rache an der Mutter, die ihr den ungeliebten Ersatzvater ins Haus geholt hat? Alice T. ist kein solcher Film. Er beschränkt sich auf die Abbildung von Alltäglichkeit. Stinknormaler Alltäglichkeit einer Mittelschichts-Patchworkfamilie, die vielleicht etwas ungewöhnlich in ihrer Zusammensetzung ist, aber in ihrem Verhalten und ihrem täglichen Leben kaum aus der Reihe fällt.

Der große Knacks kommt am Ende: Alice besucht mit ihrer Mutter die Frauenärztin für die nächste Routineuntersuchung. Die Ärztin beginnt mit der Ultraschall-Untersuchung, doch am Bildschirm ist nichts zu sehen. Sie braucht nur wenige Sekunden um Eins und Eins zusammenzuzählen und bittet die Mutter nach draußen zum Gespräch. Alice bleibt alleine im Behandlungszimmer zurück. Sie weint bitterlich. Munteans komplexes Beziehungsgewölbe ist mit einem Mal auf sie eingestürzt. Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten, was Alice Kummer bereitet. Wie im echten Leben, ist es wahrscheinlich eine ganze Reihe von Gründen. Der Film endet jedenfalls in Tränen. Sie werden jedoch aus anderen Gründen vergossen, als es die Vorurteile erwarten lassen.

Viennale 2017: Unsere hohen Lichter

Patrick Holzapfel

Vai e Vem

Das vom Moos überwucherte Haus von Percy Smith, in dem der britische Dokumentarist und Filmpionier sich mit Pflanzen und Tieren umgab, um Erziehungsfilme zu realisieren, um zu forschen, allein mit seiner Leidenschaft zu arbeiten, ist nicht nur die Grundlage für die musikalischen Abstraktionen des schönen Minute Bodies: The Intimate World Of F. Percy Smith von Stuart A. Staples, sondern auch ein Bild für das Haus von Hans Hurch, die Viennale, die möglicherweise abrissbereit, möglicherweise renovierungsbedürftig, als Denkmal, als pure Gegenwärtigkeit oder als Erinnerung in Wien zur Begehung einer trauernden, ignoranten oder in die Zukunft blickenden Gemeinde aufgesucht wurde. Es war wie erwartet schwer, die Härte und gefährlich weit ins politisch Manipulative sowie unterdrückend Dominante reichende Präsenz des verstorbenen Festivaldirektors mit der Zärtlichkeit, Liebe fürs Kino und Traurigkeit zu verbinden, die sein Fehlen im Kino auslösen muss. Denn diese verschiedene Stränge eines Widerstands im Festivalbetrieb vereinte Herr Hurch wie kein Zweiter.

Die Viennale 2017, ein Haus aus Moos. Manche brachte Geschenke, die sanft von Trennungen erzählten (Vai-e-Vem, The Big Sky), andere zeigten, wo Herr Hurch ihnen die Augen öffnete und andere fragten sich, ob Festivals wirklich einen Geist besitzen, ob in ihnen das Leben eines Kurators fortbesteht oder ob das eine romantische Idee ist, die von den Realitäten der Kinomaschine und der fortschreitenden Zeit hinweggespült wird. Man muss nur auf die Cahiers du Cinéma heute blicken, um nicht an diese Geister zu glauben. Die diesjährige Viennale war wie eine langgezogene Kurve um einen Friedhof herum. Man hat viel Zeit, in andere Richtungen zu blicken, aber man spürt jederzeit eine Gravitation, die auch ein Versprechen sein könnte, aber vor allem eine Frage: Was jetzt? Eine der wichtigsten Prinzipien der filmkuratorischen Arbeit in Wien ist immer schon die persönliche Handschrift des Kurators. Das diesjährige Festival war wie ein Manifest dafür, weil sie sich unrealisiert realisieren musste, weil niemand mehr den Stift halten konnte, mit dem geschrieben wurde. Im Kino jedoch verschwindet alles hinter der Gegenwärtigkeit der Filme. Und diese gilt es zu würdigen, wenn sie es verdient haben. Dann gibt es Geister.

Texte:
Barbara von Mathieu Amalric
La nuit où j'ai nagé von Kohei Igarashi & Damien Manivel
Western von Valeska Grisebach
On the Beach at Night Alone von Hong Sang-soo
Farpões, Baldios von Marta Mateus
Țara moartă von Radu Jude
A fábrica de nada von Pedro Pinho
Abschied von den Eltern von Astrid Johanna Ofner
Nothingwood von Sonia Kronlund
Becoming Cary Grant von Mark Kidel
Ex Libris: New York Public Library von Frederick Wiseman

Rainer Kienböck

Antigone

Jeweils in alphabetischer Reihenfolge.

Favoriten

von Johann Lurf (Rainers Text)

12 Jours von Raymond Depardon

Antigone von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet

Barbara von Mathieu Amalric

Cosmic Ray von Bruce Conner

Dillinger è morto von Marco Ferreri

Ex Libris von Frederick Wiseman

Urgences von Raymond Depardon

Vai-e-vem von João César Monteiro

Filmliebe

A Movie von Bruce Conner

Beregis‘ avtomobilja von Ėl’dar Rjazanov

Farpões Baldios von Marta Mateus

Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont (Rainers Text)

Karnaval’naja noč‘ von Ėl’dar Rjazanov

L’Amant d’un jour von Philippe Garrel

La nuit où j’ai nagé von Damien Manivel und Kohei Igarashi

Licht von Barbara Albert (Rainers Text)

Mongoloid von Bruce Conner

Phantom Ride Phantom von Siegfried A. Fruhauf

Šestaja čast‘ mira von Dziga Vertov

Ta peau si lisse von Denis Côté (Rainers Text)

Țara moartă von Radu Jude

The Big Sky von Howard Hawks

Geu-hu von Hong Sang-soo

Vremja, vpered von Michail Švejcer und Sof’ja Mil’kina

Weitere Texte
L'Atelier von Laurent Cantet
Golden Exits von Alex Ross Perry

Andrey Arnold

1

2

3

4

Einige Texte

Zur Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum
Interview mit Barbara Albert
Good Time von Ben und Josh Safdie
Zum Besuch von Christoph Waltz

Ivana Miloš

der

San ClementeUrgences12 Jours (Raymond Depardon)
Watching people light up in hidden places, remembering them though we’ve never met, moving through corridors step by lagging step, seeing the sky in the courtyard, only in the courtyard.

The Big Sky (Howard Hawks)
What a great big sky it in this dancer on the landscape, as the band of not-quite-brigands turned frontiersmen picks their way across branches and logs, over riverbends and fires, strung and tied together like a whiff of true companionship.

The Day After (Hong Sang-soo)
And then they fell apart, companions and lack thereof, with embarrassment worn on their sleeves, all the embarrassment of attempting, not knowing, lacking, sorely lacking the path to an embrace.

L’Amant d’un jour (Philippe Garrel)
Yes, there might have been a touch, but it was pushed against the wall and faded away, unfurled and faint, barely visible in the night walks on Parisian streets. But the lingering aftertaste of violets and freckles chases the screen away.

Ex Libris (Frederick Wiseman)
If we could look behind the scenes, we would surely land on the planet of dream libraries, its stages deployed like paintings of a utopian project, its petals open in the flattering light of the human ambition to know, together.

Quei loro incontri (Jean-Marie Straub, Danièle Huillet)
Unrooting, uncovering, unveiling, letting speak, finding a voice, finding the voice buried under moss, lychen and the green streams littered on the shores, sitting on a rock with all of sunlight on your face, opening shadows.

La nuit où j’ai nagé (Damien Manivel, Kohei Igarashi)
A wanderer with a face full of the clarity of white, all white, a lost mitten and shoulders deep in snow, a quest to deliver dream messages to those we meet among sea creatures of the deep, a mountain to cross in silence.

Barbara (Mathieu Amalric)
Sea of music carrying away, bringing into existence, awash with life and the currents of grief, all stirred into fireworks, a myriad of colors and a blister of a smile. Oh, how beautiful it is to dive in!

 

Valerie Dirk

Grace Jones

2 Fragen:

Kann man Bruno Dumonts Jeannette auch politisch lesen?

Herausgefordert wurde diese Lesart durch die penetranten Wiederholungen in den Gesängen der französischen Nationalheldin: Frankreich, Glaube, Christentum, Judentum, Kampf. Die Bewegungen dazu bestanden (unter anderen) aus exzessivem Headbangen. Das Peitschen von Frauenhaaren auf Sand. Welch Metapher, gerade jetzt.
Auf meine Frage, ob der Film, abseits der innovativen ästhetischen und formalen Spielereien, auch ein politischer Kommentar sei, reagierte Dumont ausweichend. Alles sei ambivalent: Péguy, la France, Jeanne, la foi.
Und doch, trotz ihrer ungelenken Direktheit, trotz der Gefahr, alles andere unterzuordnen, scheint mir die Frage relevant, auch wenn ich sie immer mit einer gewissen Beschämung stelle.

Is Grace Jones human, and if so, why?

Bloodlight and Bami von Sophie Fiennes arbeitet dualistisch. Zum einen sieht man perfekt inszenierte Bühnenauftritte der Musikerin, während welchen sie aliengleich und dominant das Scheinwerferlicht beherrscht; zum anderen sucht eine verwaschene Digitalkamera-Ästhetik danach, Graces Menschlichkeit zu dokumentieren: auf Jamaika im Kreise der Familie, kehlig lachend, fluchend, sich sorgend, essend (Meeresfrüchte), trinkend (Wein), badend. An einem neuem Album arbeitend. Sich schminkend, sich selbst analysierend: I’m human.

Viktor Sommerfeld

La Telenovela Errante

La Telenovela Errante von Raul Ruiz – Die Soap als Bildgefängnis

Ein Film bleibt noch lange nach meiner kurzen Viennale. Neben vielem erwartbar Guten war La Telenovela Errante von Raúl Ruiz der unerwartete Fund meiner vier vollen Tage. Zurück in Berlin, als ich Freunden Bericht erstatte, erwische ich mich immer wieder bei dem Versuch diese fremdartigen Fragmente eines unfertig gebliebenen Filmes zu beschreiben. Erst hier lese ich Wikipedia über Ruiz und werde direkt belohnt mit Ruiz über Ruiz: „Der Barock … ist eine Art zu sparen und keine Ausgabe. Man darf Barock und Rokoko nicht vermengen, sondern muss Ersteren mit einem Restaurant zur Mittagszeit vergleichen: es gibt sehr wenig Platz, man versucht so viele Leute wie möglich unterzubringen, um die größtmögliche Anzahl an Kunden zu haben.“ Diese eigenwillige und gewiss enigmatische Definition seines Barocks erhellt sich in La Telenovela Errante, welcher den Kitsch der südamerikanischen Soapbilder in mehr oder weniger zusammenhängenden Episoden schonungslos auswalzt und zeigt, wie die Bilder des zwischenmenschlichen Pathos, der schmalzigen Romanze und der raunenden Dramatik selbst aktiv werden, um die Menschen noch in den alltäglichsten Situationen zu überwältigen. Die Telenovela, das ist das Bildgefängnis, aus dem es für die sozialen Formen kein Entrinnen gibt. Bei der Suche nach einer Straße namens ‚La Concepción‘ in der gleichnamigen Episode treffen drei Männer an einer Kreuzung aufeinander. Während eines endlos kreisenden Dialog verlieren sie sich immer tiefer in den symbolischen Abgründen des Wortes ‚Concepción‘. Ausgehend von der Freundin des einen Mannes, die zufälligerweise wie die Straße heißt, tun sich immer neue Bedeutungen auf. Es gibt keinen Ausweg aus dem Netz der Verweise, in schleichender Hysterie steigert man sich immer weiter hinein in dieses wichtigste aller Gespräche, schon bald scheint Alles in diesem einen Wort bedeutet. Ruiz‘ muss keinen Widerspruch von außen einführen um die Absurdität dieser Szene zu zeigen. Er lädt einfach immer weiter generös Bedeutungen ein, gibt allen Möglichkeiten einen Tisch, bis der Laden implodiert und als leere Hülle vor uns steht. Der Barock wird hier zu klarsten Form, die sehr präzise auf die Strukturen zeigt, in denen Bilder unsere Lebenswelt gestalten. Und dafür muss man nie eine chilenische Telenovela gesehen haben.

Weiterer Text
I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Viennale 2017: Ta peau si lisse von Denis Côté

Ta peau si lisse von Denis Côté

Langsam wandert die Kamera über den halbnackten Körper und die weiche, makellose Haut. Vom Nacken zur Schulter und dann weiter über die wohlgeformte Brust nach unten zum Bauch – der Sixpack als Blickfang bevor die Reise weiter geht. Am Rücken folgt die Kamera den Muskelsträngen nach oben zur tätowierten Schulter und dann wieder nach unten zum Hintern, der nur unzureichend von einem Tanga verdeckt ist. Ta peau si lisse ist eine filmische Fleischbeschau der etwas anderen Art. Die exploitativen, voyeuristischen Blicke schweifen hier nämlich nicht über weibliche, nackte Haut, sondern über Männerkörper.

Sechs Männer hat der frankokanadische Filmemacher Denis Côté für Ta peau si lisse gefilmt. Gemeinsam haben sie alle eine besondere Beziehung zu ihrem Körper. Fünf von ihnen betreiben Bodybuilding, einer ist Wrestler und Strongman. Alle ordnen sie dem Training ihrer Körper, der Maximierung ihrer Leistungsfähigkeit, ihr restliches Leben unter. Zwei sind etablierte Größen der Bodybuilding-Szene von Québec, die ihre Muskelberge augenscheinlich pharmazeutischer Hilfe zu verdanken haben, einer ist ein Ex-Bodybuilding-Champion, der mittlerweile als Trainer und Kinesiologe arbeitet. Hinzu kommen ein asiatisch-stämmiger Familienvater, dessen wettkampfmäßige Bodybuilder-Karriere noch am Anfang steht, ein 19-jähriger Student, der Bodybuilding als Hobby im Keller seines Elternhauses betreibt und ein Wrestler und Strongman.

Männer, die auf Männer starren

Die Männer sind fleischgewordene Marmorstatuen, Muskelprotze, deren ganzer Alltag sich darum dreht genug Kalorien zu sich zu nehmen und genug Trainingseinheiten in den Tagesplan einzufügen. Zwischen Essen und Trainieren bleibt nur wenig Zeit für Familie, Freunde und ein Leben abseits der Kraftkammer. Der Film hat seine stärksten Momente, wenn genau dieses Dazwischen in den Blick kommt. Wenn die Männer gemeinsam mit ihren Frauen trainieren, um wenigstens ein paar kostbare Stunden am Tag miteinander zu verbringen oder wenn beim Familienessen als Zwischengang noch ein Steak hinuntergeschlungen wird, um den Proteinhaushalt aufzustocken. Dann wird die Besessenheit dieser Menschen besonders deutlich und diese Besessenheit ist das eigentliche Thema des Films – noch mehr als die Betrachtung dieser Körper oder der Versuch, die körperlichen Anstrengungen des strengen Trainingsplans nahbar zu machen.

Ta peau si lisse von Denis Côté

Der Alltag, von der Passion für die Optimierung des Körpers durchsetzt, steht im Zentrum von Ta peau si lisse: Essen, Training, Arbeit, Essen, Training, Massage, Essen, ein unendlicher Kreislauf, der nicht unterbrochen werden darf, um ja keine wertvollen „gains“ zu verlieren. Gegen Ende des Films sieht man die Protagonisten dann zwar auch auf der Bühne und im Wrestling-Ring beim Wettkampf, doch der spielt nur eine Nebenrolle. Die „Competition“ ist nur ein kleiner Teil ihres Lebens, der Weg dahin ist das eigentliche Ziel, der eigentliche Lebensinhalt. Sehr viel mehr Zeit als beim Wettkampf verbringt der Film folglich bei der Vorbereitung, bei der Suche nach den letzten paar Prozent, um die eigene Leistung auszureizen: das Eintrainieren neuer Posen, die die Muskeln noch definierter erscheinen lassen, die Pflege des Barts, das Eincremen der Haut, alternativmedizinische Behandlungen zur Steigerung der Trainingseffizienz.

Zwischen Erotik und Komik

All dieser Einsatz, um am Ende angestarrt zu werden, egal ob beim Wettkampf auf der Bühne oder beim Spaziergang mit dem Hund. Côté betont, dass diese Menschen ihre Posen, ihre Auftritte, ihre prüfenden Blicke nicht als sexuell wahrnehmen und obwohl er versucht mit der Kamera ebenfalls eine solche professionelle Bewunderung auszudrücken, bleibt ein letzter Rest an fleischlicher Lust im Bild. Die nackte Haut sorgt automatisch für eine erotische Grundspannung, die aber ständig durch die Komik des streng kodifizierten Gebarens der Männer unterminiert wird. Der Überschuss an Männlichkeit, der zur Schau gestellt wird – das wird in Ta peau si lisse sehr deutlich – hat eine doppelte Wirkung. Der nackte, menschliche Körper in seiner ganzen Verletzlichkeit und Schönheit changiert beständig zwischen Lustobjekt und Witzfigur. Während nackte Frauen in unserer Gesellschaft in erster Linie mit der Lust in Verbindung gebracht werden und nackte Männer meist als komisch präsentiert werden, zeigt Côtés präzise Beobachtung der Männerkörper, dass diese Rollenverteilung schlicht eine Konvention patriarchaler Medienpraxis darstellt. Ta peau si lisse ist sowohl Körperstudie, als auch mediale Reflektion, sowohl präzise Alltagsdokumentation, als auch Ergründung einer hermetisch-abgeriegelten Subkultur.