De Sica-Retro: Gesichter oder Geschichten

Nach der Sichtung und meinem Text zu Miracolo a Milano gab es bei uns in der Redaktion eine intensive Debatte, um die Frage nach den „echten Menschen“ bei De Sica. Es scheint als würden die humanistischen Geschichten und die dafür gefilmten Gesichter nicht unbedingt zueinander passen. Oder doch? Wählt De Sica Figuren aus, die individuell sind oder die einem bestimmten Klischee entsprechen? Im Folgenden möchte ich die an unserer Facebook-Pinnwand geführte Diskussion zwischen Andrey Arnold und mir unkommentiert und an unwichtigen Stellen etwas abgeschliffen abtippen und mit entsprechenden Bildern aus dem Film kombinieren. So kann für beide Meinungen nochmal eine neue Sicht auf das Thema gewonnen werden.

Andrey : Das mit den wahren Gesichtern ist auch so eine Sache: wenn De Sica einen alten, verhutzelten Mann castet, den man sofort als „alten, verhutzelten Mann“ erkennt, und diesen dann auch nichts anderes darstellen lässt als einen alten, verhutzelten Mann, dann weint man, wenn man weint, zwar mit allen alten, verhutzelten Männern dieser Welt, aber sicher nicht mehr mit DIESEM alten, verhutzelten Mann, den es eigentlich gar nicht gibt. Irgendwo steckt da die ganze Crux des Humanismus drin.

Das Wunder von Mailand

Patrick: Ich glaube, dass zum Thema alter Mann hier eine Unterscheidung getroffen werden muss. Ich finde, dass das was Andrey sagt, durchaus auf die Narration von Zavattini zutrifft, also jenes Nicht-Individuelle, das Metaphorische…aber die Gesichter für sich stehend sind individuell, sie erzählen Geschichten und sind nicht einfach nur Ideen, wie sonst so vieles in dem Film. Natürlich ist es schwer die Gesichter von ihren Geschichten zu trennen, aber wenn ich mich alleine auf das Casting beziehe, dann finde ich das durchaus bemerkenswert. Das sind (egal ob Schauspieler oder nicht) echte Menschen.

Das Wunder von Mailand

Andrey: Bemerkenswert (im Wortsinne) ist das Casting auf jeden Fall, aber ich muss dennoch ganz böse nachhaken: Was wären denn „falsche“ Menschen im Film?

Das Wunder von Mailand

Patrick: Das typische Schauspielgesicht für den alten Mann…Menschen, die mit gepflegten Gesichtern auf ungepflegt geschminkt werden, um so etwas wie Armut zu repräsentieren, Menschen, die zu genährt aussehen, Menschen, die irgendwelchen klassischen Schönheitsidealen entsprechen, Menschen, die nichts Markantes an sich haben, denen alles fehlt, an dem man sich stoßen kann, die rund und klar sind (wie der Film das ja oft ist)…ansonsten sind Gesichter zu wertvoll und zu sehr das Kino, um hier zu erklären, weshalb sie einem in der Wahrnehmung als wahr erscheinen.

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Andrey: Ich verstehe, aber das grausame Problem ist, dass jenes Gesicht, das „echt“ arm aussieht, dies eben auch nur tut, weil sich seine Züge mit denen eines medialisierten Idealbilds von Armut decken (wofür es natürlich nichts kann). Und die wirklich „wahren“ Gesichter des Kinos wären für mich jene, die weder in die eine noch in die andere Kategorie passen. Den alten, verhutzelten Mann unter Anführungszeichen sollte man indes besser zur Hauptfigur eines Films machen, oder von mir aus so inszenieren, wie es Albert Serra mit seinen Laien macht.

De Sica

Patrick: Aber Albert Serra nimmt ja nicht Personen, die das spielen, was sie sind (ist auch schwer bei den Heiligen 3 Königen, Casanova, Dracula und Don Quixote…)…stattdessen verweigert er einfach das Schauspiel mit interessanten Körpern und Gesichtern (eine grobe Vereinfachung) De Sica hat in seiner neorealistischen Phase oft Laien genommen aus dem jeweiligen Milieu…Ich gebe dir nicht recht, da ich glaube, dass De Sica insbesondere dadurch gewinnt, dass bei ihm bis in die kleinste Nebenrolle das Milieu stimmt, der Gestus, alles. Was daran falsch oder unwahr sein könnte, verstehe ich nicht. Nur weil die Darstellung einem Klischee entspricht, muss man sie nicht brechen…und ich glaube nicht mal, dass die Gesichter überhaupt einem Klischee entsprechen können…nur die Geschichten können es und sie sind ein Klischee, das 1951 sicher noch keines war. Die Inszenierung eines Gesichts scheint mir überdies etwas anderes zu sein als seine Auswahl.

De Sica Retrospektive

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Andrey: Bei Serra lobe ich genau das: Dass die Menschen nicht das spielen, was sie sind. Und was die Unwahrheit einer Milieuzeichnung angeht: In jedem Milieu finden sich allerlei verschiedene Gesichter, würde ich meinen, und wenn man da gezielt die „typischen“ – die Mehrheit – herausfiltert, um sein Porträt mit dem Klischee zur Deckung zu bringen, mag das gut gemeint sein im Sinne von Authentizität, und womöglich kann man sogar etwas darauf aufbauen, aber letztlich spielt man dabei immer dem Klischee in die Hände, man nobilitiert es sogar, indem man es im Namen eines rechtschaffenen Realismus zur Wahrheit erklärt. Es ist gerade die „Stimmigkeit“, die man anprangern kann. Aber vielleicht hast du recht, wenn du sagst, dass es am Ende nur um die Geschichten geht, in die die Gesichter eingebettet sind, vielleicht ist das der Knackpunkt.

Das Wunder von Mailand

 

Patrick: Aber so stimmig ist es ja nicht, wenn weniger Gedanken und mehr Realismus in die Auswahl eines Darstellers gehen? Ist es nicht etwas Wertvolles, wenn ein Filmemacher sich entscheidet die Realität, das Dokument, in seine Illusionen zu lassen? Und selbst wenn es das nicht ist, ist das dann etwas Falsches oder Uninteressantes? Serra ist ja kein Vergleich, weil der keinen zeitgenössischen, demokratischen Drang in seinen Film hat…dieses: Wir geben den „normalen“ Menschen eine Stimme im Kino, das hat doch etwas schönes…und Serra besetzt ja nach Aussehen, also doch nach genau denselben Prinzipien…ah, dieser Mann sieht aus wie Casanova, Peranson sieht aus wie Joseph usw. Dann bricht er sie in der Darstellung, er will das Andere, das Ungewöhnliche, das Unschuldige, das Unreflektierte, Unbemerkte…aber das hat nichts mehr mit seinem Casting zu tun. Ich glaube es ist eher dein zweites Problem, also jenes der Narration und das Absurde an unserer Diskussion ist dann, dass ich derselben Meinung bin und das hier und im Text so formuliert habe. Ich verstehe dieses „Typische“ anhand der Inszenierung und Narration, nicht aber anhand der Gesichter, denn ich wüsste nicht, was dort typisch ist oder war, ich weiß überhaupt gar nicht, was ein typischer Mensch ist. Ich kann nur in ein Gesicht sehen und diesem Gesicht glauben oder nicht. Mehr kann ich nicht. Im Fall von Miracolo a Milano glaube ich den Gesichtern mehr als ihren Geschichten, ich lese sie- wenn du magst- gegen den Strom. Ja, es gibt idealisierte Bilder, von den Medien vorgekaute, aber das kann ich einem Film nur schwer vorwerfen.

De Sica Miracolo

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Andrey: Aber wenn du nicht weißt, was ein „typischer“ Mensch ist, warum glaubst du dann einem Gesicht und einem anderen nicht? Woran erkennst du den Realismus? Das ist wie Stephen Colbert, wenn er ironisch behauptet: „I don’t see race. People tell me I’m white and I believe them.“ Es gibt doch immer soziale und politische Determinanten, die unsere Wahrnehmung mitbestimmen, und gerade wenn es um die Herstellung von Normalität geht, werden diese besonders wirksam. Wie sieht das Gesicht aus, dem du – ganz unabhängig von Geschichte, Inszenierung, Herrichtung – nicht glaubst? Ist es ein falsches Lächeln, was du meinst?

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De Sica

Patrick: Ich kann eine typische Darstellung erkennen, nicht aber das typische Gesicht. Ich kann filmische Methoden zur Herstellung von Realismus erkennen, nicht aber die Realität. Ich kann erkennen, wenn jemand Bruchstellen in seiner Fiktion zulässt, um die Realität hereinzulassen ohne, dass ich mich anmaßen würde zu wissen, was die Realität ist. Ich behaupte, dass De Sica für diesen Film Darsteller gefunden hat, die in ihren Körpern/Gesichtern von individuellen Geschichten erzählen, die vom Film so nicht benutzt werden, die aber durch das Casting schon in den Film Einlass gefunden haben und die ich dadurch wahrnehmen kann. Ich nehme Gesichter oft stärker wahr, als Geschichten im Kino, daher ist mir dieser Punkt wichtig. Zu den falschen Gesichtern habe ich schon einiges gesagt weiter oben. Bresson hat dazu mehr und besseres gesagt, Serra auch. Ich gebe dir aber insofern Recht, dass bei De Sica manche Nebenrolle etwas zu forciert gecastet wurde. Trotzdem ist ein solches Casting in einem Märchen interessant.

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De Sica-Retro: Wunder

Vittorio De Sica stellt ans Ende seiner Filme gerne ein Wunder. Damit löst er nicht immer im Sinn eines Deus Ex Machina alle Konflikte, aber er bringt Elemente in den Film, die von Werten jenseits dieser Konflikte handeln. Unabhängig davon, ob man diesen religiösen Tendenzen seines Oeuvres folgen mag, wirken diese Wunder niemals aufgesetzt, da die Filme durchgehend von der Hoffnung auf diese Wunder ausgehen. Sie äußern sich manchmal in kleinen Gesten, oft in großen Inszenierungen und werden vor allem von den Augenblicken nach dem eigentlichen Geschehen interessant. Zudem hängt auch der Zweifel am Wunder mit in den Bildern.

La porta del cielo

Das Tor zum Himmel De Sica

Im Nebel ausdrucksloser Mienen geschieht ein Wunder, das man Glauben kann oder dessen Inszenierung man durschauen kann. Es passiert nicht direkt im Herz der Protagonisten, aber so, dass sie es sehen können, dass man weiter glauben kann oder weiter zweifeln kann. In einer katholischen funkelnden Symmetrie wird das Wunder so ans Ende von La porta del cielo gesetzt, dass wir all das Leid vergessen könnten. Oh ja, dieses Wunder, dieses Wunder. In La porta del cielo folgt De Sica einem Zug zum Wunder, einer organisierten Pilgerfahrt von Kranken und Armen nach Loreto. Verschiedene Teilnehmer dieser Reise werden genauer vorgestellt und mit Flashbacks erfahren wir von ihren Geschichten. Besonders bemerkenswert dabei ist, dass zwei der Rückblenden sich mit offensichtlich nicht besonders gläubigen Männern beschäftigen. Einer von ihnen ist ein Pianist, dessen Hand den Dienst verweigert, ein anderer ist ein Arbeiter, der sich in Liebeleien mit einer jungen Frau verstrickt, bevor er diese zusammen mit der ganzen Belegschaft in einem Aufzug mit seinem Freund erwischt. Daraufhin verbrennt er sich die Augen im Hitzedunst und erblindet. Bislang habe ich keinen besseren Film von De Sica gesehen. Er berührt seine Leidenden hier mit gefühlvoll überlegten Bildern und einem ruhigen Verständnis für den Mythos und die Notwendigkeit des Glaubens für seine Figuren. Licht und Schatten erzeugen kantige Gesichter, die nach einer Heilung lechzen, aber wissen, dass sie diese nicht verlangen können. In einer wiederkehrenden Einstellung verbindet ein Schienenarbeiter zwei Wagons. Er steht dabei auf den Gleisen und wird zwischen den beiden Wägen eingezwängt, man glaubt immer, dass er gleich erdrückt wird, aber die Wägen docken so aneinander, dass er genau zwischen ihnen genug Platz vorfindet. Dies ist keine metaphorische sondern eine dokumentarische Szene, aber sie gibt wunderbar das Gefühl des Gefangenseins und der Verbindung wieder, die im Film eine dominante Rolle spielt. Es ist ein bitterer Film, am Ende des Krieges mythenumrankt gedreht. Angeblich verhinderte der Film den Abtransport vieler Filmschaffender in das neue faschistische Filmzentrum Italiens in Venedig. Das Wunder am Ende besticht durch seinen schieren Bliss, seine Länge und dadurch, dass es eben keinem der vorgestellten Protagonisten widerfährt. In Totalen von der singend marschierenden Gemeinde evoziert De Sica jenen Rausch der Gemeinsamkeit, der auch einen seiner anderen christlichen Wunderfilme Miracolo a Milano befeuchtet. Jedoch schneidet De Sica oft genug und zeigt das Geschehen aus unterschiedlichsten Perspektiven, sodass sich in Verbindung mit den nicht befreiten sondern nach wie vor fügsamen Gesichtern, ein Zweifel zwischen den Zeilen offenbart, der unser Augenmerk mehr auf die katholische Inszenierung legt, als das Wunder selbst. Vielleicht ist dies aber auch nur ein moderner, kirchenkritischer Blick auf die Bilder von meiner Seite. Die Konflikte im Film sind jene des Glaubens und auch die Inszenierung haucht Größenwahn und Bescheidenheit aus den Prinzipien der Religion. (Wie tot ist der spirituelle Filmemacher? )

Un garibaldino al convento

Un garibaldino al convento

Auch am Ende von Un garibaldino al convento steht ein Wunder. Allerdings ist dies ein völlig anderer Film. Eingebettet in eine Rahmenhandlung erzählt De Sica hier im beschwipst-schelmischen Ton vom Aufwachsen junger Damen und Rebellinnen in einem Kloster-Internat. Die Geschichte ist gegen den Hintergrund des Risorgimento gesetzt und eines Nachts rettet sich ein schwerverletzter, für Garibaldi kämpfender Soldat ins Kloster. Unsere zwei Hauptfiguren kennen ihn bereits, denn eine hat ein Auge auf ihn geworfen und eine andere ist bereits mit ihm verlobt. Zunächst verbleibt der Ton jener einer lieblichen Komödie, dann aber wechselt De Sica das Fach und hetzt mit (zugegeben aufgelockerten) Parallelmontagen in einen Kriegsfilm, indem Menschen erschossen werden. Am Ende verteidigen sich drei Eingesperrte in einer Hütte auf dem Kloster gegen die angreifenden Beamten, die mit Gewalt versuchen in die Hütte einzudringen. In einer bemerkenswerten Einstellung wechselt De Sica die Perspektive und wir folgen dem Gewehr eines Soldaten aus der ersten Person. Wir schießen auf die Protagonisten, die sich hinter einem aufgestellten Tisch verstecken. Als alle Hoffnung verloren scheint, kommt eine Statue der heiligen Jungfrau Maria ins Bild. Sie wird aus einer extremen Untersicht gefilmt während im Hintergrund die letzten Verzweiflungsschüsse in die Freiheit abgefeuert werden. Doch wie wir aufgrund der Parallelmontage bereits ahnen, kommt Rettung. Nino Bixio, italienischer Freiheitskämpfer verkörpert von einem betont lässigen, zwiebelschneidenden Vittorio De Sica eilt mit seiner Truppe vorbei und befreit die Eingeschlossenen. Die Vögel piepsen die italienische Nationalhymne, aber die Liebe wird für immer getrennt. Sie schreien: „Bis bald!“, aber werden sich nie wieder sehen. Es ist ein wilder Film, der mehrmals auf absurde Weise fast lächerlich wirkt, um im nächsten Moment auf noch absurdere Weise wieder zu funktionieren. Gerettet wird das Unterfangen wohl vom Geschick De Sicas in der Herstellung eines leichten Tons, der das Menschliche umarmt. Das ist per se kein Qualitätsmerkmal, aber in Verbindung mit den ernsten politischen und melodramatischen Untertönen durchaus interessant.

Umberto D.

Umberto D. De SicaAuch Umberto D. endet mit einem Wunder. Es geht vom kleinen Hund aus, der Umberto das Leben rettet als dieser sich vor einen Zug schmeißen will. (Immer wieder ist es der Zug, der das Leben der Figuren bei De Sica beenden oder neu-beginnen soll) Doch hier erarbeitet De Sica die volle Ambivalenz des Wunders, die in allen anderen Filmen nur eine Frage der Interpretation sein mag. Denn das Wunder führt wohin? Das Leben von Umberto hat und wird sich nicht verändern, er flaniert einsam mit seinem Hund davon. Er wird weder in den Himmel aufgenommen, noch darf er auf eine Befreiung Italiens hoffen, noch wird er von seinen Leiden befreit. Hier liegt das Wunder im Leben selbst und darin mag man keinen wirklichen Trost finden. Mit Umberto D. lassen sich auch die unbeeindruckten Gesichter in La porta del cielo oder der schmerzvolle Blick auf die Kette des verstorbenen Verlobten am Ende von Un garibaldino al convento verstehen. In gewisser Weise ist Umberto D. damit das Gegenstück zu Miracolo a Milano, denn in Letzterem ist kein Platz mehr auf der Erde und deshalb fliegen die Benachteiligten ins Himmelreich während der Benachteiligte in Umberto D. dazu verdammt ist, auf der Erde zu bleiben. Dennoch wird dieses Verbleiben auch wie ein Wunder, eine Rettung inszeniert. Damit ist Umberto D. wohl der katholischste Wunderfilm von De Sica. Er handelt von Genügsamkeit und von einer Liebe des Lebens. Aber – und das ist entscheidend – darin liegt keine Hoffnung sondern nur Existenz. Ein Wunder bei De Sica erzählt also immer mehr von Werten, die über das eigentliche Leben der Figuren hinausreichen. Es sind Wunder, die den emotionalen und existentiellen Sorgen der Figuren nicht wirklich helfen. Sie bleiben unglücklich verliebt oder im Rollstuhl, aber sie haben etwas verstanden, was größer und wichtiger scheint. Damit ist De Sica zur gleichen Zeit ein Idealist als auch völlig aus der Mode gekommen. Wertevermittlung, moralische und politische Botschaften in einer derartigen Direktheit ins Herz seiner Filme zu stellen, ist aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar. Jedoch lohnt sich ein zweiter Blick, denn die Tatsache, dass De Sica diese Werte in Form von Wundern inszeniert, mag auch als gesellschaftskritische Verbitterung verstanden werden. Denn wenn wir die Wunder als solche entlarven, dann mögen wir auch verstehen, dass die Realität anders ist.

De Sica-Retro: I Bambini Ci Guardano

Das große Problem in Vittorio De Sicas I Bambini Ci Guardano ist jenes der Erzählperspektive. Und dieses Problem ist ein Doppeltes. Ganz oberflächlich betrachtet gliedert sich der Film in jene Geschichten ein, die ein Problem der Erwachsenenwelt aus Sicht von Kindern schildern. Dabei gibt es ganz grob zwei dominante Erzählmodelle in der Filmgeschichte. Der eine Strang ist jener, dem François Truffaut in seinem Les 400 Coups folgt und den man mit einem Coming-of-Age-Charakterporträt des Kindes vor dem Unverständnis einer Erwachsenenwelt beschreiben könnte. Der andere ist jener, der aus Sicht eines Kindes die Welt der Erwachsenen schildert wie etwa im Frühwerk von Hou Hsiao-Hsien oder in zahlreichen Disney- und Steven-Spielberg-Produktionen. Es gibt also die Möglichkeit auf das Kind in der Erwachsenwelt zu blicken oder auf die Erwachsenenwelt mit den Augen eines Kindes. In I Bambini Ci Guardano macht De Sica gewissermaßen beides und nichts davon. Der Film handelt von Pricò, einem kleinen Jungen, der erleben muss, wie seine Mutter ihn und seinen Vater verlässt und wie sein Vater ihn daraufhin in ein Internat schickt, um sich umzubringen. In emotionalen und melodramatischen Wachrüttlern wird der kleine Junge dabei mehrmals von seiner Mutter alleine gelassen, um dieser am Ende in einem dieser abgründigen neorealistischen Schlussbilder die kalte Schulter zu zeigen.

De Sica The Children are watching us

Nun wird der Junge bei De Sica, wie auch seine Quasi-Verwandten in Ladri di biciclette und Sciuscià nicht wirklich als eine individuelle Person gezeigt im Film. Vielmehr steht das runde, makellose Gesicht für das Klischee eines Kindes, für eine normierte Vorstellung aller Reaktionen, Blicke und Emotionen eines Jungen im Angesicht seiner zerbrechenden Familie. Natürlich kann es auf dieser Erde nicht mehrere Jungdarsteller mit dem Namen Jean-Pierre Léaud geben, aber aus den Kindern bei De Sica lässt sich nur schwer etwas anderes als eine intellektuelle Idee filtern. Bei De Sica ist das Kind ein Heiliger. Das wäre an sich kein Problem, wenn der Film dann konsequent die Perspektive dieses Kindes einnehmen würde. Aber auch damit geht De Sica äußerst locker um und so gibt es zum einen mehrere Szenen, in denen die Erwachsenen ohne den Jungen zu sehen sind und zum anderen hat man nie das Gefühl einer Unverständlichkeit oder einer verzerrten Wahrnehmung wie dies beispielsweise in Hous A Summer at Grandpa’s oder gar Spielbergs Empire of the Sun geschieht. Die Folge dieser fehlenden Konsequenz ist Belanglosigkeit. Denn so erzählt sich eine Geschichte, deren Moralkeule und melodramatische Intentionen man in jeder Sekunde spürt. Das ist insbesondere deshalb schade, da der Ehekonflikt durchaus einige schockierende und tiefgehende Augenblicke bereithält. Sowohl die Mutter als auch der Vater sind äußerst komplexe Figuren, deren Motivationen zwischen Leidenschaft und Trott durchaus bemerkenswert sind und nicht so viel mit der faschistischen Sentimentalität zu tun haben wie behauptet wird.

I Bambini Ci Guardano stellt in vielerlei Hinsicht auch den Beginn der großen Kollaboration von Cesare Zavattini und Vittorio de Sica dar. Viele der Themen, die beide in ihrem gemeinsamen Schaffen angehen sollten, sind hier schon da: Die Machtlosigkeit eines Weglaufens, die Opfer von Ungerechtigkeiten am Rand der Geschichte und das überspitzte Porträtieren einer gehobenen Klasse, das sich vor allem in einigen herausragenden Szenen am Badestrand zeigt. Musikalisch begleitet wird der Film wie oft bei de Sica von einem kaum auszuhaltenden melodramatischen Gedudel, das auch einen der stärksten Momente des Films entkräftet. Als Pricò aus dem gemeinsamen Urlaub mit seiner Mutter davonläuft, nachdem er diese mit ihrem Liebhaber am Strand erwischt hat, sitzt er seinem Vater gegenüber. Der Vater möchte die Wahrheit erfahren, aber Pricò kann seine Mutter nicht verraten. In einer gewaltvollen Schuss-Gegenschuss Montage landet de Sica schließlich in zwei extremen Nahaufnahmen der Augen der Darsteller und in diesem Bild findet sich eine Wahrheit, die niemand aussprechen muss. Es ist ein Erkennen zwischen Vater und Sohn. Es braucht keine Worte mehr, und De Sica macht diesen Augenblick zu einem filmischen Spektakel. Solche Momente gibt es immer wieder im Film und vor allem die kleinen Details am Rand der Geschichte verraten eine kritische Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Italien, die zu einem festen Bestandteil jener als Neorealismus in die Geschichte eingegangen Bewegung wurde.