Taubenblicke III

Verwechslung: Ein vom Wind getragenes Plastiksackerl, das zu Boden fällt, mit einer landenden Amsel

Der nach einer wegfliegenden Taube springende Junge; zu seinen Füßen, die Überreste von Hühnerknochen (Urban Loritz-Platz)

Der Berner Sennenhund schaut auf die Taube wie ein älterer Bruder auf seine kleine Schwester.

Die Taubenfeder im Stiegenhaus, daneben eine leere Flasche Wieselburger und im Hof, der in der Luft herumwirbelnde Staub vom gerade ausgeschüttelten Teppich.

Vor dem Eingang der Souterrain-Moschee ein freihändiger Besen, der den Gehsteig kehrt. (Die Entfernung nach Mekka: 1046,62 km südöstlich)

Der Alkoholiker im Rollstuhl sagt zu den Müttern, während ihre Kinder im Sandkasten spielen: „Diese Sandburgen werden nie halten!“

Die zwei Pingpong spielenden Kinder, beide so klein, dass ihre Köpfe kaum den Tisch erreichen, der Wind, der den Ball ständig wegbläst.

Vor der Wohnungstür, der erste Blick am Tag: der schlafende Junge im Fahrersitz eines Autos, sein Mund weit offen, die Hände das Lenkrad umklammernd, während im Rücksitz die Eltern auf ihre Handys schauen.

Eine Mutter und ihr Sohn tragen gemeinsam eine Einkaufstasche die Allee entlang, jeder einen Griff in der Hand, während der Sohn seiner Mutter die Zahlen auf Deutsch beibringt: „eins…zwei…drei…vier…fünf…sechs…“

Dann später am Abend in der Wohnung von draußen hören, wie die Kinder unten im Park Versteck spielen, das laute Aufzählen einer unsichtbaren, älteren klingende Stimme im dunkeln Wirrwarr der Schatten und Bäume: „…sieben…acht…neun…zehn…!“

Taubenblicke II

Yppenplatz/Brunnenpassage: die hängende hellrosa Jacke als einziges Licht in dem ansonsten dunklen Raum und draußen vor der Tür zittern die Regenpfützen

Verwechslung: ein auf dem Boden liegender Werkstatthandschuh mit einer toten Taube (frühmorgens, Akkonplatz)

Im Park hören, wie ein Kind seine Mutter fragt: „Mama, warum ist heute Donnerstag?“ und bevor sie antworten kann, sagt der Alkoholiker im Rollstuhl neben ihnen: „Weil gestern eben Mittwoch war, warum denn sonst?“

In der Goldschlagstraße vor der roten Wohnungstür, leere, im Wind wirbelnde Briefumschläge wie große, traumhafte Schneeflocken, als wären sie ein Ersatz für den ausgebliebenen Schnee des letzten Winters.

Verwechslung: das Miauen einer Katze mit dem Weinen eines Säuglings (frühmorgens, Reithofferpark)

Das Kind auf der Markgraf Rüdiger-Straße, das sich im Rückwärtslaufen selbst zum Umfallen bringt, dann sofort aufsteht, und denselben Vorgang die ganze baumbeschattete Straße entlang wiederholt, bis es aus dem Blick verschwindet.

Die zwei auf dem Tischtennistisch auf und ab springenden Jungen (Geschwister?), während der Golden Retriever im Gras schläft und die plötzliche Erinnerung an den verstorbenen Bruder.

Das spätnächtliche Schwirren der ein- und ausfahrenden S-Bahnen und Fernzüge vom Westbahnhof zum Fenster im frühlingshaften Wind hereingeweht als einziges lebenswarmes Geräusch im menschenleeren Park. (Selbst die Nachtvögel und Hunde, die den Park ansonsten bevölkern, scheinen endgültig aus der Welt entschwunden zu sein…Nur der Umriss einer Stofftierkatze im Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes ist übriggeblieben.)

9 Uhr: Die Besitzerin der Buchhandlung am Kriemhildplatz tritt heraus aus ihrem noch geschlossenen Laden (im Schaufenster hinter ihr, das Herausleuchten aus der Dunkelheit der verschiedenfarbigen Buchdeckel), zündet sich eine Zigarette an, und als es langsam zu regnen beginnt, nimmt sie Platz auf der weißen Holzbank neben dem Eingang und lässt sich für eine kurze Weile nass werden, bis sie ausgeraucht hat, die Zigarette am Boden mit ihrem Schuh ausdrückt und wieder hineingeht.

Taubenblicke I

Auf der Rustenstegbrücke, auf die das letzte Tageslicht fällt, verlangsamen die Menschen ihren Gang, bis sie allmählich stehenbleiben, Richtung Hütteldorf blicken, und ihre Gesichter in die Sonne halten.

Ein junger Mann auf einer Bank in der Markgraf-Rüdiger-Allee, der so vertieft in sein Handy ist, als wäre es ein spannendes Buch.

Die am Würstelstand arbeitende Frau, die Anna Karenina lippenbewegend auf Russisch liest und neben ihr, auf der Theke, die dampfende Teetasse. (Märzstraße/Schweglerstraße)

Das Knarren der Lederschuhe des vorbeigehenden Verkehrspolizisten und über ihm, die im Wind flatternden Blätter der Lindenbäume und noch weiter höher das langsame Ausbleichen eines Kondensstreifens im Himmel. (Markgraf-Rüdiger-Allee)

Unter dem Dachvorsprung der Kirche auf dem Kriemhildplatz in Gesellschaft eines Kindes dem niederprasselnden Regen zuschauen… Dann das jähe Aufhören des Regens, als hätte jemand einen Knopf gedrückt, und das Kind springt mit einem Lächeln auf den nassen Pflastersteinen.

Ein kleines Mädchen in der Goldschlagstraße, das eifrig die Maikäfer auf dem Gehsteig zerquetscht, während ein Junge auf seiner Mutter mit einer grünen Wasserpistole schießt. (Auf dem Boden: Wassertropfen, Maikäferleichen, Sonnenblumenkerne)

Eine Krähe, die auf einem Mistkübel sitzt, den Müll mit ihrem Schnabel herauspickt und jeden Gegenstand auf dem Boden wirft, bis sich schließlich eine Müllinsel im Gras bildet – und der orange gekleidete Müllmann, der eben gerade die Straße gekehrt hat und dem traurig beiwohnen muss.

Der Alkoholiker im Rollstuhl im Reithofferpark klammert sich an die Weinflasche, als wäre sie sein letzter Halt.

Als der heulende Krankenwagen die Märzstraße hinauffährt, verstummen die ansonsten immer laut tönenden und wild gestikulierende Kartenspieler im Park und für diesen Augenblick wird es am Tag endlich einmal still.