Das Gesicht des Kurz

Seit Wochen strahlt dieses Gesicht durch die Landschaft. Es steht am Bahnhof, an der Autobahn, mitten im niederösterreichischen Kürbisfeld. Die Augenbrauen erscheinen derart definiert, dass man den Eindruck gewinnt, der Rest des Gesichts wäre um sie herum angeordnet worden. In den Augen spiegelt sich immer etwas Helles, mal glaube ich es ist Sonnenlicht, mal denke ich, es sind Dollarzeichen. Im von mir aus gesehen rechten Mundwinkel zeichnet sich eine kleine Falte ab, die ein Lächeln vermuten lässt, dieses aber nicht zu Ende erzählt. Eher ein Schmunzeln, nicht arrogant genug, um unsympathisch zu sein, nicht natürlich genug, um aufrichtig zu wirken. Ich kenne mich nicht aus im entsprechenden Jargon, aber würde es als Vertrauensfältchen bezeichnen. Sonst gibt es da nicht viele Fältchen. Die Stirn ist endlos hoch. Sie ist stolz und glänzt von weitem, selbst bei schlechtem Wetter. Die Haare scheinen sich nicht zu bewegen. Vehement sind sie aus dem Gesicht gekämmt, sodass nichts den Blick dieses Mannes, den Blick auf diesen Mann verstellen kann. Dieser Mann hat ein sehr großes Ohr. Ich kenne nur sein linkes Ohr, weil er sich immer dreht, sodass er links an mir vorbei schaut. Er scheint etwas zu sehen, was es dort, wo er ist, nicht gibt. Ich sehe dieses Gesicht an, es sieht an mir vorbei. Da bleibt mir als Deutscher in Österreich in mehrfacher Hinsicht keine Wahl.

Je länger ich dieses Gesicht betrachte, in den Zeitungen, vor der Kirche, in die, so bekomme ich den Eindruck, manche es hineintragen wollen, an einem Absperrgitter, desto weniger sehe ich. Es ist ein Bild, dass mich an manchen Spezialeffekt im Kino erinnert. Ein Effekt, der so überdeutlich ein Effekt ist, dass einer der größten Freuden am Kino verlorengeht, nämlich die Frage: Wie haben sie das gemacht? Man kennt die Antwort, man spürt, dass alles möglich ist heute. Die Wunder der Technik, die Früchte der Optimierungsgesellschaft.

Zu meiner Überraschung lernte ich vor einigen Wochen, dass diese Technik aus Fleisch und Blut ist. Plötzlich sah ich wie sich dieser Mann bewegte. Ganz zufällig, im 1. Bezirk Wiens, umgeben von Menschen in türkisen Pullovern erhaschte ich einen Blick auf dieses Gesicht. Das eingefrorene Gesicht sprach, der Körper in Schwarz gehüllt, gestikulierte sparsam. Aber trotz der Bewegung, trotz der – man zögert es zu schreiben – Menschlichkeit, war da immer noch diese übertünchende Perfektion, als hätte ein Maler einen Fehler gemacht, um dann Schicht für Schicht jedes Leben aus seinem Bild wegzustreichen. Undurchdringlich ist da Ebene auf Ebene geklatscht, um bei etwas anzukommen, was so viel Glätte über der Seele legt, dass man sich gar nicht mehr sicher sein kann, ob da nur die Oberfläche ist oder ob darunter noch ein Herz schlägt.

Bei aller Monotonie dieses immer gleichen Gesichts stellt sich plötzlich eine Faszination in mir ein. Dieses Gesicht, denke ich mir, hebt die Bedeutung von der Unterscheidung zwischen Photoshop und Realität auf. Das perfektionierte Bild ist keine Sache mehr seiner nachträglichen Bearbeitung. Das perfektionierte Bild existiert schon bevor es gemacht wird. Wenn wir uns in den Extremen zwischen Bilderglauben (das ist die Realität!) und Bilderzweifel (alles ist manipuliert!) bewegen, dann ist dieses Gesicht Sinnbild einer manipulierten Realität oder einer realen Manipulation. Die beiden Extreme fallen darin zusammen. In einer Welt, in der in jeder Sekunde jeder Eindruck alles verändern kann, ist das eine logische Folge. So wie Schwimmhäute ist es ein Anpassungsverfahren. Dass dieses spezifische Gesicht da einige Evolutionsstufen überspringt, macht es unheimlich, unecht, beinahe wie ein Experiment erscheinend. Würde man einen dieser Altersfilter anlegen, um zu sehen wie dieses Gesicht in 50 Jahren aussähe, gäbe es entweder nur einen Pixelüberschuss oder aber man würde genau das gleiche Gesicht sehen wie jetzt.

Trotzdem, so höre ich, erweckt es Vertrauen. Vielleicht, denke ich mir, liegt das daran, dass man nicht wirklich einen Menschen sieht, sondern nur ein Gesicht. Austauschbar mit einem selbst, nur stärker, weil so körperlos, unendlich, strahlend, symbolisch, klar, rein. Ich kann mir dieses Gesicht nicht grippekrank vorstellen oder befreit tanzend. Ich kann es mir nur so vorstellen wie ich es sehe. Da ist kein Mensch, da ist eine Idee. Ob das an sich beeindruckend ist oder ob die Qualität der Idee wichtig ist, spielt scheinbar keine Rolle. Das entmenschlichte Gesicht blickt an mir vorbei, weil ich an ihm vorbei blicke. Würde ich es ansehen, würde es zurückblicken. Vielleicht.

Als Kind las ich begeistert vom Entenhausner Comic: „Ein Tag im Leben des Franz Dribbelbauer“. Darin wird die Geschichte eines fußballerischen Jahrhunderttalents erzählt, wobei von Anfang an klar ist, dass etwas nicht stimmt. Zu komisch bewegt er sich außerhalb des Platzes, zu merkwürdig spricht er in abgehackten Sätzen, zu überlegen trägt er seine Siege davon. Schließlich kommt heraus, dass der Fußballstar von Elektroden ferngesteuert wird. Das Gesicht dieses Mannes erinnert mich an diese Geschichte. Wenn ich nicht wüsste, wem das Gesicht gehört, ich würde trotzdem erahnen, dass ich es noch oft sehen muss. Es ist das Gesicht einer gesichtslosen Gesellschaft, in der man niemanden mehr ansehen will, in der Augenkontakt seltener ist als Kontaktanfragen, in der alles bereit ist für das nächste Foto, aber niemand hinsieht, in der Effekte der Manipulation allein aufgrund ihrer Häufigkeit akzeptiert werden und Inhalte sich auf Parolen beschränken, die nur mit Parolen gekontert werden, in der die Leere sich wie ein dumpfer Mantel gestülpt hat über zu viele Gesichter und Stimmen, die noch einmal etwas spüren wollen, sei es Macht, Geld, Sex oder nur ein Video von einer Schildkröte, die einen Nike-Schuh besteigt. Dieses Gesicht verspricht alles und nichts, es ist egal, es ist, was du darin siehst, lasst es uns in die Kirche tragen und kurz beten, weil länger haben wir keine Zeit.