Dossier Beckermann: In Nosferatus Fängen (Waldheims Walzer)

Waldheims Walzer von Ruth Beckermann

In ihren jüngsten Arbeiten hat sich Ruth Beckermann als Filmemacherin neu erfunden. Jenseits der 60 entwickelt die Filmemacherin eine Experimentierlust an neuen Formen, die auch vielen Kollegen gut zu Gesicht stehen würde. In Die Geträumten arbeitete sie erstmals mit Schauspielern, ließ den Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann szenisch einsprechen. Der fertige Film bewegt sich im Zwischenraum von Fiktion und Dokument. Werden hier nur Schauspieler beim Einsprechen eines Textes gefilmt, oder entwickelt sich dadurch ein Mehr, das sich nicht mehr so leicht in die gerne (und fälschlicherweise) feinsäuberlich getrennten Kategorien von Dokumentarfilm und Spielfilm einordnen lässt? Die Geträumten ist das eine, Waldheims Walzer ist das andere. Nach szenischer Arbeit und einem deutlich erhöhten Maß an Inszenierung, verzichtet Beckermann nun vollständig auf die Arbeit mit der Kamera. Stattdessen wendet sie sich dem Archiv zu. Seit 2013 (also noch vor Beginn der Produktion von Die Geträumten) hat sie dazu wohl tausende Stunden an Material zusammengetragen und gesichtet: Selbstgefilmtes, das Jahrzehnte irgendwo aufbewahrt war, Aufnahmen verschiedener Fernsehstationen, Liegengebliebenes aus allerlei audiovisuellen Archiven.

Während es in Die Geträumten darum ging, die Schauspieler zu bändigen, musste nun das Archiv gezähmt werden. Was in Die Geträumten durch Konzentration und Reduktion auf Sprache und Text gelang, dehnt sich in Waldheims Walzer zur Belastungs- und Materialprobe. In beiden Filmen spürt man den Kampf mit der ungewohnten Arbeitsweise. Wo aus diesem Kampf in Die Geträumten eine ungewöhnliche Intensität entsteht, muss sich Beckermann in Waldheims Walzer in gewisser Weise dem Material beugen. Im Ringen mit dem Archiv zieht sie den Kürzeren.

Das klingt allzu negativ. Denn Waldheims Walzer ist in vielerlei Hinsicht ein aufrüttelnder, bedeutsamer und mächtiger Film. Von der ersten Szene an entwickelt der Film eine Anziehungskraft, die viel mit seinem Protagonisten Kurt Waldheim zu tun hat. Am Anfang des Films sieht man ihn bei einer Wahlkampfrede. Rhetorisch bestens geschult beschwört der langgediente Spitzendiplomat Begriffe wie „Christentum“ und „Heimat“, seine langen Arme sind nach vorne gerichtet, als ob er mit seinen knochigen, langgliedrigen Fingern das Volk an sich ziehen wolle. Diese Pose, die Nosferatu zu Ehre gereichen würde, bleibt in weiterer Folge eine Geste, auf die Beckermann immer wieder zurück kommt, um die eigenartige Mischung aus Waldheims weltmännischem Charisma und ewiggestriger Unnahbarkeit bildlich einzufangen.

Waldheims Walzer von Ruth Beckermann

Waldheim war von 1972 bis 1982 UNO-Generalsekretär, davor bereits lange Jahre als Diplomat, Botschafter und österreichischer Außenminister tätig. 1986 kandidiert er schließlich bei der Wahl des Bundespräsidenten. Drei Monate vor dem Wahltermin erscheint im Nachrichtenmagazin profil ein großer Artikel über seine Vergangenheit während der NS-Zeit. Die Waldheim-Affäre sollte den Anstoß zur (verspäteten) Aufarbeitung der Nazi-Jahre in ganz Österreich zur Folge haben. Ein Großteil von Beckermanns Werk ist Teil dieser Aufarbeitung. An den vehementen Protesten gegen den Präsidentschaftskandidaten und späteren Bundespräsidenten Waldheim war Beckermann an vorderster Front beteiligt. Es kommt also nicht von ungefähr, dass sich Beckermann in ihrem Film just mit diesem Mann beschäftigt. Nicht zum ersten Mal im übrigen: bereits in Die papierene Brücke war das Ausbrechen des in der österreichischen Volksseele schlummernden Antisemitismus während des Waldheim-Wahlkampfs Thema. Einige der Aufnahmen von den Protesten und Gegen-Protesten am Wiener Stephansplatz, die in Die papierene Brücke vorkamen, wurden für den neuen Film in veränderter Form wiederverwendet.

Beckermanns Filme werden gemeinhin als Film-Essays bezeichnet. Diese Kategorisierung verdanken sie der hochpersönlichen Form, die die Filmemacherin gewöhnlich für ihre Arbeiten wählt. Eine Voice-Over-Erzählung, zumeist von der Regisseurin selbst eingesprochen, die mal ins Poetische abgleitet, mal von eigenen Kindheitserinnerungen erzählt und Bildern gegenüberstehen, die sich der Tonebene oftmals entziehen, die nicht den Text bebildern, sondern als zusätzliche Dimension, als zusätzliches formales Element gelten müssen, machen Beckermanns charakteristischen Stil aus. Auch in Waldheims Walzer agiert die Filmemacherin als Erzählerin. Die Erzählung setzt jedoch nur an ausgewählten Stellen ein. Viel öfter sind es Texteinblendungen, die zur Einordnung des Bildmaterials dienen. Die Inserts strukturieren das Bildmaterial, geben eine chronologische Timeline vor, auf der sich der Film bewegt (diese Herangehensweise hat der Film ebenfalls mit Die Geträumten gemeinsam). Linear werden die Ereignisse der Monate vor der Wahl Waldheims zum Bundespräsidenten aufgearbeitet. Gefährlich nah – näher auf jeden Fall, als sie es seit ihren ersten Kurzfilmen getan hat – begibt sich Beckermann hier an den Rand zur Fernsehästhetik. Eine ähnliche Organisation des Materials könnte man sich auch für eine Doku auf ZDF oder ORF III vorstellen. Freilich wären die gewählten Bilder dort andere, die Botschaften eindeutiger, die Wechselbezüge rarer, die Brüchigkeiten ausgemerzt und Gestik wie Ästhetik des Materials brutal ignoriert.

Obwohl Waldheims Walzer stellenweise so wirkt, als ergebe sich die Filmemacherin der Materialflut, die den Fluss der Bilder vorgibt, schimmert in den Bildern doch immer eine gewisse Sorgsamkeit und Ehrfurcht gegenüber dem Material durch. Seien es die wiederkehrenden Blicke auf Waldheims Hände und seine teilweise irritierenden Gestikulationen, seien es Einblicke in die Widerstandsgruppen, die sich gegen ihn informieren, von Beckermann selbst mit einer frühen Videokamera in Schwarz-weiß aufgenommen, seien es die aus heutiger Sicht teils unfreiwillig komischen Auftritten alter weißer Männer auf dem politischen und medialen Parkett. Nie wirkt es, als wäre das erstbeste Material gewählt worden, um einen Sachverhalt zu bebildern, sondern das richtige Material, um einen bestimmten Gedanken anzuregen. Manchmal wirkt der Film zwar, als wäre er von der Bilderflut überwältigt, nie aber, als hätte er es sich leicht gemacht.

Waldheims Walzer von Ruth Beckermann

Ein Nebeneffekt der Materialschlacht, die Beckermann und ihr Cutter Dieter Pichler geschlagen haben: Waldheims Walzer trägt eine Menge spannende Bewegtbilddokumente der Zeit zusammen. Darunter etwa nie ausgestrahlte Fernsehsendungen, in denen Waldheims Sohn Gerhard seinen Vater vor dem US-Senat verteidigt oder halböffentliche Aufnahmen von den Treffen der Waldheim-Gegner, unter ihnen zahlreiche, damals noch junge, Veteranen der österreichischen linken Intelligenzia. Für den Nachgeborenen ist das ein Stück Geschichtsunterricht, für die ältere Generation womöglich Momente nostalgischer Wehmut. In jedem Fall ist an der Auswahl des Materials – im Gegensatz zu seiner Organisation – kaum etwas einzuwenden. Selbst die teils isolationistische Konzentration auf die Person Waldheim erfüllt ihren Zweck. Fast in jeder Szene ist er entweder selbst zu sehen oder zumindest Gesprächsthema, um das sich alles dreht. Während Waldheim sich im Kreis dreht, um sich aus den Anschuldigungen seiner Gegner herauszuwinden, zieht der Film ebenso Kreise und lässt ihn somit nicht entschwinden.

Es bleibt ein ambivalentes Bild zurück von Waldheims Heimatland. Hat dieses Land aus dem Jahr 1986 überhaupt noch viel zu tun, mit Österreich im Jahr 2018, nach über dreißig Jahren doch recht strenger Vergangenheitsaufarbeitung und Gedenkarbeit? So mancher Lacher und so manches Kopfschütteln erwächst aus dem Gefühl, dass sich das Land und seine Leute in dieser Zeit weiterentwickelt haben. Dass so etwas heute nicht mehr salonfähig und mehrheitsfähig wäre. Dass so einen paternalistischen, schleimigen und sich windenden Vaterlandsbeschwörer heute niemand mehr wählen würde. Denkt man. Und dann öffnet man die Augen.

Diagonale 2018: Vom Zeitbezug

Die bauliche Maßnahme von Nikolaus Geyrhalter

Ob das im Kino nun schon immer so war oder ob es eine Frage nachträglicher Eindrücke ist.
Ob besondere und/oder problematische politische Situationen ein Kino der Aktualität, des Zeitbezugs, der kritischen Gesellschaftsreaktion fördert.
Ob bestimmte Förderstrukturen zu einem Kino führen, dass in mancherlei Hinsicht beinahe Newsreel-Qualitäten aufweist.
Ob das Kino immer im Jetzt verankert ist.
Die Diagonale 2018 machte ein eindrückliches Statement dafür.
Hat sich deshalb was verändert?

Zwei Beispiele großer Namen des österreichischen Films: Ruth Beckermann und Nikolaus Geyrhalter. Beide waren mit faszinierenden dokumentarischen Arbeiten auf dem Festival vertreten. Beckermann mit ihrer treibenden Found-Footage-Arbeit Waldheims Walzer und Geyrhalter mit seiner Bestandsaufnahme rund um den geplanten oder angedrohten Zaunbau am Brenner, Die bauliche Maßnahme.

Waldheims Walzer von Ruth Beckermann

Waldheims Walzer von Ruth Beckermann (© Ruth Beckermann Film)

Auf den ersten Blick also zwei sehr unterschiedliche Arbeiten mit zwei verschiedenen Beziehungen zur Zeit. Zunächst Geyrhalter, der tatsächlich versucht im Hier und Jetzt zu operieren, der den politischen Geschehnissen vor Ort folgt und seine Kamera dem Diktat der Zeit unterwirft. Zu diesem Diktat gehört auch – und das zeichnet den Film gewissermaßen aus – ein Diskurs, der Gespräche zwischen Links und Rechts fordert. Die bauliche Maßnahme ist ein Stück Direct Cinema, aber er wirkt sehr überlegt, fast vorsichtig (wenn auch sehr ehrlich) im Austarieren zwischen dem, was man findet und dem, was man darüber vorher zu wissen meint. Sein Prinzip ist das Gespräch, das Erklären und Nachfragen. Mit erstaunlicher Objektivität folgt Geyrhalter diesen Möglichkeiten, durch die eine Haltung scheint, ohne sich je über den Film zu stülpen. An seinen besten Stellen zeigt er tatsächlich ein mögliches Zusammensein an, einen anderen Blick auf die festgefahrene und durch die Absurdität des Maschendraht-(kein Stacheldraht-)Zauns auf den Punkt gebrachte politische Situation Österreichs. Es ist natürlich auch deshalb aktuell, weil sich nicht wirklich was geändert hat.

Von dem, was sich nicht wirklich geändert hat, handelt auch Waldheims Walzer. Beckermanns Arbeit beleuchtet den Mann und den Fall Kurt Waldheim und die sogenannte Waldheim-Affäre in den 1980er Jahren. Eigentlich ein recht großer Schritt in die Vergangenheit und dennoch ein Film voller Zeitbezug. Die bequemliche Opferrolle Österreichs im Bezug zu den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs wurde in jener Zeit erstmalig erschüttert. Ein unpräziser, sich windender, sofort falsch wirkender Umgang mit der eigenen Nazi-Vergangenheit entblättert sich Stück für Stück an Waldheim. Beckermann wählt einen für sie überraschend geradlinigen Zugang, der mit mal trockenen, mal wütenden, mal pointierten Finten durch die Geschichte führt. Es ist ein Film der Faktentreue, aber unter diesen Fakten lodert ein Feuer, das man gar nicht aussprechen muss. Es hat mit Analogien zu tun, mit Zeitbezug. Auch dieser Film ist natürlich deshalb aktuell, weil sich nicht wirklich was geändert hat. Selbst wenn das etwas unscharf formuliert ist, man kann sich im Groben doch darauf einigen.

Nun ist es für gewöhnlich beinahe immer so im Kino, das es einen bewussten oder unbewussten Bezug zur Zeit gibt. Viele Filmemacher in Graz und eben auch Geyrhalter und Beckermann gehen da aber noch einen Schritt weiter. Sie sehen das Kino als Stimme im Diskurs. Dabei stellen sie einen ganz bewussten Bezug zur Realität und zum politischen Diskurs her. Beckermann hat bereits in frühen Arbeiten die Nähe von Aktivismus und Kino praktiziert, an einer schönen Stelle in Waldheims Walzer sagt sie, dass sie sich entscheiden musste: Demonstrieren oder Dokumentieren. In mancher Hinsicht hat man den Eindruck, dass das Dokumentieren bereits ein Demonstrieren ist. Es macht sichtbar, sucht eine Auseinandersetzung, einen Blick, ein Gespräch. Prozesse, die sonst oft gescheut werden. Das Kino kann hier auch ein idealer Raum werden, ein Raum, der vieles möglich macht.

Die Bauliche Maßnahme von Nikolaus Geyrhalter

Die Bauliche Maßnahme von Nikolaus Geyrhalter (© Geyrhalter Film)

Doch wie schon in Diskussionen rund um das Dritte Kino in Ländern wie Algerien, Argentinien oder Kuba und vielen Formen des politisch engagierten Kinos stellt sich auch immer die Frage: Für wen diese Filme? Wie werden sie gezeigt? Wo werden sie gezeigt? Die Diagonale scheint trotz oder gerade wegen ihre tadellosen Haltung zum Kino ein merkwürdig flauschiger Ort zu sein. Man kennt sich eben, man ist sich in den großen Fragen auch grundsätzlich einig. So verfällt man dann beim Sehen der Filme und bei ihrem Besprechen in pure Spekulation, über das, was diese Filme anderswo bewirken könnten. Wobei man festhalten muss, dass dies mehr für Beckermann gilt als für Geyrhalter. Letzterer bringt nämlich Stimmen in die Diagonale, die dort eigentlich nicht gehört werden: Menschen, die Angst vor „Flüchtlingen“ haben, Menschen, die um ihre Traditionen fürchten. Bei Beckermann dagegen gibt es mehr Bestätigung, was im Publikumgsgespräch zur durchaus merkwürdigen Betonung der Heiterkeit des Films führte. Frei nach dem Motto: Wir wissen ja alle, dass das sehr heftig war und nicht gut, aber interessant, dass es so unterhaltsam und lustig gezeigt werden kann.

Gegen diese Einstimmigkeit kann man vielleicht noch weniger tun als gegen die politischen Situationen. Es gibt natürlich Festivals, auf denen es andere Formen von Gesprächen gibt, diese unterliegen aber nicht den Vorgaben eines nationalen Festivals. Es ist spannend, in welcher Bestimmtheit sich die Diagonale zur Zeit positioniert. Der Spagat ist groß. Hier der Aufruf zum politischen Festival, dort die Verpflichtungen mit Verleihern. Hier der Wunsch nach Diskurs, dort die große Party in der Stadt. Nichts davon widerspricht sich wirklich, ein Gefühl des gemeinsamen „Klappe auf“ entsteht dennoch selten. Vielleicht auch, weil das Festival, so wie Geyrhalter und Beckermann trotz aller, wirklich großartiger Qualität, ein wenig zu klug ist. Die Spuren sind schon gelegt, sie machen sich selbst bemerkbar. So sagte Beckermann, dass sie diesen Film „für Österreich“ machen wollte und bringt damit zugleich sich selbst als Zuseherin mit ins Spiel. Die Filmemacher werden zu ihrem eigenen Publikum, generieren bereits den Diskurs, das Festival arbeitet zugleich am industriellen wie kuratorischen Zeitbezug und alles fließt in den Mühlen einer vorgefertigten Diskurslandschaft. Man spricht nicht immer weil man muss, sondern weil es Q&As gibt.

Nur was könnte man anderes erwarten? Sollen Filme auch dem Nichts erscheinen, soll jemand nach Jahren aus dem Wald auftauchen und etwas Wertvolles bringen? Selbst für die kuriosen Entdeckungen gab es mit Olaf Möller den entsprechenden Kurator (selbst wenn seine Entdeckungen berechenbar geworden sind) auf dem Festival. Es ist ja kein wirkliches Beschweren, nur eine Feststellung, die sich fragt, warum alles so gut angelegt, durchdacht und ausgeführt ist in Graz und man trotzdem nicht das Gefühl hat, dass sich wirklich was ändern könnte.