Das Komische, das Tragische und die Wassermelonen

The Wayward Cloud von Tsai Ming-liang

Komödien sind ihrer Definition nach dazu da, das Publikum zum Lachen bringen. Das heißt, die filmischen Gestaltungsmittel werden möglichst zielgerichtet dazu eingesetzt, Gelächter zu provozieren. Manche Komödien sind darin erfolgreicher als andere und manche bedienen sich dabei subtilerer Mittel und Methoden als andere.

Die Filme unserer Schau „Hidden Smiles“ sind allesamt keine Komödien. Zieht man zur Klassifikation der Filme die obige Definition zu Hilfe, so muss man zum Schluss kommen, dass sie das genaue Gegenteil einer Komödie sind. Denn so unterschiedlich diese Filme auch sind, alle eint sie, dass sie ihre filmischen Mittel nicht zielgerichtet dazu einsetzen, eine bestimmte Reaktion hervorzubringen. Mehr noch: Sie zeichnen sich durch Widerspenstigkeit aus, überhaupt eine emotionale Reaktion hervorzubringen.

Und doch sind diese Filme komisch oder lustig. Sie gehen bloß den umgekehrten Weg einer Komödie. Anstatt ihre Mittel so einzusetzen, dass bestimmte Reaktionen dem Publikum auf dem Silbertablett serviert werden, sind sie in den Filmen der Reihe versteckt und/oder dechiffriert. Es ist hier Aufgabe des Zusehers, das Lachen zu entdecken, nicht die des Films, es ihm entgegenzuwerfen.

Die Filme von Tsai Ming-liang gehören augenscheinlich zu dieser Kategorie Filme – Filme, die sich einer einfachen Zuordnung widersetzen und dechiffriert werden wollen. Tsai ist vielleicht sogar der ideale Posterboy für die Schau. In jedem seiner Filme lässt sich problemlos eine Szene finden, in der sich ein widerspenstiges Lächeln (und noch mehr) versteckt. Es muss dem Film vom Zuschauer geradezu abgerungen werden.

Ein gutes Beispiel für eine solche Szene findet sich in Stray Dogs. Lee Kang-sheng spielt darin den Vater zweier junger Kinder. Die Familie ist obdachlos, der Vater schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und muss in der Beschaffung von Nahrungsmitteln immer wieder Einfallsreichtum beweisen. In der besagten Szene kommt er nachts nach Hause und beginnt neben seinen schlafenden Kindern zu essen. Sein Mahl besteht aus einem ganzen Krautkopf. Mit gierigen Bissen verschlingt er ihn, wie einen überdimensionierten Apfel. Er verschluckt sich halb, immer wieder fällt ihm halbgekautes Kraut aus dem Mund.  Aber immer weiter, immer weiter, arbeitet er sich ins Innere des Gemüses.

Das besondere und besonders exemplarische an der Szene aus Stray Dogs, ist ihre emotionale Vielschichtigkeit. Denn die Szene komisch zu finden, ist bei weitem nicht die einzige mögliche Reaktion darauf. Es ist typisch für das Filmemachen Tsais, dass die Betrachtung eine ganze Reihe von Reaktionen hervorrufen kann: Ekel, Verzweiflung, Irritation, Komik. Die Reihenfolge ist frei dem Zuschauer überlassen.

Während beim Auftaktscreening unserer Schau, bei In Another Country von Hong Sang-soo, angemerkt wurde, dass Komik bei Hong oft durch Wiederholung entsteht, verhält es sich bei Tsai anders. Die Komik der oben beschriebenen Szene (und auch die vieler anderer in seinen Werken) hängt stark mit Dauer zusammen. Seine minutenlangen Einstellungen laden geradezu dazu ein, dass man Nuancen entdeckt, die einem nicht auf den ersten Blick entgegenspringen. Umso länger der Shot gehalten wird, desto größer wird der Möglichkeitsraum an potenziellen Reaktionen und Emotionen. (Ähnliches wird sich im weiteren Verlauf der Reihe auch bei anderen Filmemachern wiederfinden – etwa bei Albert Serra.)

Auf die Spitze getrieben hat Tsai seine Dauer-Etüden mit den Walker-Filmen, in denen Lee Kang-sheng in Mönchsrobe gekleidet mit äußerster Langsamkeit öffentliche Plätze durchquert. Diese Filme sind die Antithese zum aktionsgetriebenen Erzählkino mit seiner klar strukturierten Reaktionsmatrix. Hier ist der Möglichkeitsraum an Reaktion unendlich groß, sie geht hier fast gänzlich vom Zuschauer aus. Die Frage, ob die Walker-Filme langweilig, spirituell, berührend sind, lässt sich nur so beantworten: Sie sind es und sie sind es nicht.

Doch nicht alle von Tsais Filmen sind derart extrem. The Wayward Cloud beispielsweise (eine ausführliche Besprechung des Films gibt es hier), ist ein verrücktes Wassermelonen-Musical mit einem Protagonisten, der seinen Lebensunterhalt als Pornodarsteller verdient. Das klingt schon in der Kurzbeschreibung nahbarer und lustiger, als ein unendlich langsam schreitender Mönch. Die Ausgangssituation des Films dient als Katalysator für die Absurditäten, die folgen: Eine Dürreperiode hat in Taiwan für Wasserknappheit gesorgt. Staatliche Institutionen werben nun dafür, Durst mit den im Überfluss vorhandenen Wassermelonen zu stillen. Vor diesem Hintergrund inszeniert Tsai dann die Variation einer Romcom, bei der die Protagonisten sich jedoch nie an die vorgegebenen Handlungsmustern dieses Genres halten. Die Abweichungen beginnen bereits davor; die männliche Hauptfigur (gespielt von Lee Kang-sheng) jobbt als Pornodarsteller.

Der Film bewegt sich auf einem schmalen Grat: Ist das noch Zuckerwatte-Verträumtheit mit der man sympathisieren soll (wie mit der namensgebenden Protagonistin in Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain) oder schon etwas Jenseitigeres, Verstörendes? Ähnlich verhält es sich mit Sexualität und Körperlichkeit: Handelt es sich um eine Kritik an polierter Hochglanz-Erotik oder ist das abgründige Perversion? Letztlich ist The Wayward Cloud den Walker-Filmen dann vielleicht doch nicht ganz unähnlich. Denn diese Fragen lassen sich ebenfalls nur so beantworten: Der Film ist das eine, aber auch das andere. Er ist träumerisch, jenseitig, verstörend, kritisch, abgründig und noch vieles mehr. Und damit hat er zumindest eines mit den anderen Filmen der „Hidden Smiles“-Reihe gemeinsam: Die filmische Gestaltung dieser Filme zielt nicht auf einen einfachen Effekt, auf eine vorherbestimmte Reaktion. Im Gegenteil wollen sie Möglichkeitsräume aufmachen, die gleichermaßen zum Lachen, Weinen, Toben, Verzweifeln, Ekeln einladen.

Tsai Ming-liang Retro: Walker-Reihe

Wenn es so etwas wie ein High-Pitch-Installationsarbeit gibt, dann sind es die Walker-Filme von Tsai Ming-liang. Ein Mönch geht in kaum wahrnehmbarer Langsamkeit durch die Welt und wird von dieser ignoriert, betrachtet, belächelt, bewundert und vor allem überholt. In seinen Arbeiten, die aus einer Performance von Lee Kang-sheng am chinesischen Nationaltheater entstanden sind, erforscht Tsai Ming-liang die Langsamkeit, die Poesie der einzelnen Einstellung, Körper und die Zeit. Irgendwo hallt die ursprüngliche Idee einer Adaption nach literarischem Vorbild der Reise eines buddhistischen Mönches in den Westen im 6.Jahrhundert durch die Bilder, aber wie meist bei Tsai Ming-liang bleibt davon nur die Essenz, das Gefühl.

Auf der vergangenen Berlinale hat „Journey to the West“ eine große Begeisterung ausgelöst. Für den Walker-Film in Marseille (sein erster in Europa) konnte Tsai Ming-liang Denis Lavant gewinnen, mit dem der Film auch beginnt. Ein atmendes Wesen, ein Kratergesicht in der Höhle voller Leere und Traurigkeit; Schönheit. „Er sieht aus wie ein Drache“, bemerkt der Regisseur im Publikumsgespräch. Einmal wollte er Lavant gar als Drache in einem Film casten. Diesmal ginge es allerdings um die rohe Präsenz. Dann kommt der Mönch in rot-orangenem Gewand, elegant, langsam hebt er seinen Fuß oder senkt er ihn, einmal weiß ich es. Immer dringt Licht wie ein Schatten durch die dunklen Korridore, die Kamera sie ist so zärtlich wie der Protagonist. Lavant am Meer, sein Gesicht gleicht dem, der in das Wasser ragenden Felsen. In einer der polemischten und gleichzeitig poetischsten Einstellungen, die ich kenne, bewegt sich der Mönch hinab in den Abgrund. Oben ist das Tageslicht. Hell. Er geht Schritt für Schritt eine lange Treppe hinunter. Eine lange Zeit. Auf der linken Seite der Treppe passiert ihn ein ganzes Volk, eine ganze moderne Menschheit. Die Faszination dieser Einstellung beläuft sich auf ihr Wechselspiel zwischen formalistischer Brillanz (Zweiteilung des Bildes in der Vertikale und Horizontale, Bewegung auf uns zu), Gesellschaftskritik, Versteckte Kamera, Humor, Traurigkeit und einem fast schwebend-religiösen Touch wie es ihn seit Carl-Theodor Dreyer im Kino nicht mehr gegeben hat.

Walker von Tsai Ming-liang

Walker von Tsai Ming-liang

Am Ende von „No Form“ blickt Lee Kang-sheng durch die Kamera und macht die Traurigkeit, die Godard im Blick von Harriet Anderson bei Bergman spürte, zu einer völligen Hingabe, einer andersweltlichen Existenz, einer Macht. Dazu Nina Simone: It’s a new dawn, it’s a new day, it’s a new life for me. Selten wurde der tiefere Sinn einer Pilgerreise so offenbar wie in diesen letzten Sekunden von “No Form”. In „Walker“ ist es ein Biss in ein Sandwich, für die Ewigkeit gestreckt, aber nicht im Sinn eines Eindringens in die Zeit, sondern lediglich als ihr nacktes und absurdes Abbild, das sich dem Bewusstsein in der Modernität mehr und mehr entzieht. Das Standbild des eigenen Sinns, festgefroren und doch immer auf einem Weg; nur um einen selbst ist alles in Bewegung, was entsteht ist kaum aushaltbarer Druck, wie im Topf des sehr reduzierten „Diamond Sutra“, der aus dem Off dampft, ja aus dem Off dampft. Langsam. Er könnte der Mutter von Hsiao-kang gehören. Sie kocht mit einem solchen Topf. In „Visage“ haben wir sie verloren.

Irgendwann beginnt Lavant dann den Mönch zu verfolgen. Auf einer Straße in der Altstadt vor einem Café. Was sind denn eigentlich Körper auf der Leinwand? Was ist eine Bewegung? Ich bekomme Lust auf einen Walker-Flashmob. Cineasten aller Welt treffen sich an Plätzen und beginnen, in der Geschwindigkeit des Walkers zu gehen. Die Welt kann dann dem Kino zusehen, wie es die Aufmerksamkeit schärft; Slow-Cinema als Politik der Wahrnehmung. Man sollte darüber sprechen, denn wenn alles von Flüchtigkeit und Kürze geprägt ist in der Virilio-Welt, eine Beschleunigung bis nichts mehr überbleibt, dann ist es das Kino, das uns noch an den Blick erinnern kann, an die Zeit, den Ablauf, die Realität, die es vielleicht nicht mehr geben wird. Die spirituelle Aufladung erscheint da genauso unnötig wie die selbstironische Abstraktion eines „Sleepwalk“. Wenn sich der Mönch in abstrakten Räumen bewegt, dann verliert er seine Bedeutung. Dann scheint das Walker-System, zur reinen Provokation zu verkommen; zumindest im Kinorahmen. Anderes gilt für „Walking on Water“, den Tsai Ming-liang in Malaysia gedreht hat, an dem Ort, an dem er aufgewachsen ist. Er erforscht die Begegnung des Mönchs mit seiner eigenen Erinnerung. Hier wird der Mönch dann doch zu einem Geist, als würde der Regisseur diesen Ort segnen. Vielleicht ist es nicht allzu sinnvoll, sich die Walker-Reihe in einem gemeinsamen Programm anzusehen, aber es verändert die Wahrnehmung. Und wenn Kino die Wahrnehmung verändert, könnte es ganz bei sich sein.

Journey to the West von Tsai Ming-liang

Journey to the West von Tsai Ming-liang