Heute keine Projektion: Der stille Ton

In einem Text über Jean Vigos L’Atalante hat Henri Langlois einmal festgestellt, dass es jene Filme gäbe, bei denen der Ton das Bild abflachen würde und jene, in denen der Ton dem Bild Volumen geben würde. João Bernard da Costa hat später einmal bei der Betrachtung eines anderen Wasserfilms, nämlich O Último Mergulho von João César Monteiro ergänzt, dass es eine dritte Ebene gäbe, jene der Erinnerung. In Monteiros Film wiederholt sich ein Tanz: Einmal mit Musik und einmal ohne Musik und man kann sich nicht helfen, beim zweiten Mal die Musik des ersten Mals zu hören. Großes Drama und große Poesie des Kinos: die Zeit. Und das, obwohl die Geschichte des Kinos andersherum verläuft. Von der sogenannten „Stummheit“ zum Ton. Natürlich ist es wahr, was Bresson schrieb: Der Tonfilm vermag uns Stille zu zeigen. Und nein, still waren Stummfilme nicht. Wieso aber kann man derart vieles aus dem Kino gewinnen, wenn man ihm den Ton nimmt? Wieso entfaltet sich der Ton in seiner Abstinenz, haftend an den Bildern, imaginiert, erinnert? Es ist als wären die Spuren des Tons unerhört.

In Peter Kubelkas Was-ist-Film-Zyklus gibt es im Programm 25 zwei Filme von Gregory J. Markopoulos zu sehen. Zunächst Du sang de la volupté et de la mort (Psyche, Lysis, Charmides) und dann Gammelion. Die Stille des zweiten Films spielt mit der Musik des ersten. Kubelka zeigt uns in dieser Programmierung wie Musik und Rhythmus auch und vordergründig in den Bildern und ihrer Montage hausen. Der stille Ton, immer da, weil die Abfolge von Bildern in der Zeit auch eine Musik ist. Bei den Golden Globes vor einigen Jahren bemerkte der Gewinner für Beste Musik strahlend, dass er dem Regisseur. J. C. Chandor dafür danke, dass dieser die Bilder vollgestopft habe mit Musik. Das passiert, wenn Filmemacher die stillen Töne nicht hören oder eher noch: wenn sie glauben, dass der Zuseher sie nicht hören würde. Oder noch viel eher: wenn ihre Bilder diese stillen Töne gar nicht in sich tragen. Der stille Ton hat nichts mit einer Nicht-Verwendung von Musik unter einem Begriff von Realismus zu tun wie ihn beispielsweise Michael Haneke pflegt. Der stille Ton existiert nur in der Erinnerung an eine Musik, eine Erinnerung, die durch die Musik selbst, Worte, Bewegungen oder Gesten evoziert werden könnte. Man kann das ganz leicht an sich selbst ausprobieren, wenn man bei einer TV-Übertragung eines Tennisspiels, des vielleicht rhythmischsten Sports (im TV), nach einiger Zeit den Ton abdreht. Die Musik wird weitergehen. Wieso man das nicht macht, ist eine andere Frage.

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(Bilder aus Aurélia Steiner (Melbourne) von Marguerite Duras)

Vielleicht ist es bezeichnend, dass Langlois und da Costa auf diese Gedanken kamen, als sie im Kino das Wasser betrachteten. Vergisst man nicht häufig den Ton des Wassers? Es gibt ihn eigentlich nicht, immerzu klingt es ein wenig anders. Man kann vielleicht Wellen hören, tosende Ströme (man denke an den stummen Way Down East von D.W. Griffith, in dem man das Wasser sehr laut hört) und das Platschen eines fallenden Wassers. Aber hört man es, wenn man weit nach draußen aufs Meer blickt oder wenn man an den Kanal in L’Atalante denkt? Tragen diese Bilder, diese Erlebnisse nicht eine Erinnerung in sich, die ihren Ton verliert und ist es nicht so, dass man in dem Moment, in dem man tatsächlich vor Ort ist, wenn man wieder in den weißen Sand tritt, um aufs Meer zu blicken, an all die Geräusche (und Gerüche) erinnert wird? Das Kino findet an der Leerstelle dieser Erinnerung statt, es taucht ein, buchstäblich wie bei Vigo und Monteiro und hält Distanz, es findet dort statt, wo man vergisst oder sich erinnert. Meist ist dieser Vorgang ein Blick, oft auch eine Bewegung.

Fischerboote am Ufer sind meist Standbilder. Jean Epstein hat das gewusst, Sophia de Mello Breyer Andresen auch. Sie stehen dort zwischen den Bildern, zwischen den (Ge-)Zeiten und warten darauf, ob sie eine Erinnerung werden oder ein Vergessen. Man kann sich ein Bild eines verlassenen Fischerbootes am Strand kaum in Bewegung vorstellen. Diese Boote erzählen von tausend Wellen, die da waren und tausenden, die kommen könnten. In ihrer von Algen und Salz geküssten Hülle kann man das Meer hören. Der Ton schreibt sich ein. Im Analogen besonders deutlich, weil er sich tatsächlich als eine Spur neben dem Bild befindet, im Digitalen als flüchtiges, ja flüchtendes Gedächtnis einer Vollkommenheit, die nur in ihrer Unvollkommenheit besteht. In den Lücken zwischen dem was man sieht und dem was man hört, der zeitlichen Verzögerung (dem Echo etwa in Godards Histoire(s) du cinéma oder bei Gerhard Friedl), der enttäuschten Erwartung. In diesen Spiralen arbeiten auch Motive bei besseren Filmkomponisten. Sie evozieren nicht den Ton, aber die Erinnerung selbst. Oftmals funktioniert das nach den Filmen besser als in den Filmen. Das könnte daran liegen, dass komponierte Musik oft so sehr auf die Erinnerung aus ist, dass tatsächlich, im Sinne Langlois, die Bilder abflachen. Manchester by the Sea von Kenneth Lonergan ist ein gutes, aktuelles Beispiel hierfür. Ein Film, der auch so penetrant an die Zeitlosigkeit dieser Fischerboote glaubt, dass er sie zu oft zeigt in einer ziemlich willkürlichen Aneinanderreihung von Zwischenbildern.

Oft hört man rund um das Kino den Begriff des Nicht-Zeigens. Er hat sich leider als narrative Kategorie etabliert, nicht als Grundzustand des zeitlichen Mediums. Das Nicht-Klingen, nennen wir es Schweigen existiert dagegen kaum. Dabei würde es vielen Bildern dabei helfen, laut zu werden.

Die Fahrt in den Raum ist ein lauernder Tiger

An manchen Tagen stellt man sich die Frage, warum einen ausgerechnet das Kino verführt hat.

(Eigentlich stellt man sich diese Frage jeden Tag, denn man verliebt sich immer wieder neu)

Ich glaube immer wieder mal, eine Antwort für mich gefunden zu haben. Heute und gestern ist diese Antwort: Die Fahrt in den Raum. Damit meine ich jene Entscheidungen der Kamera, näher zu gehen, etwa zu suchen, einzudringen. Es ist in diesen Bewegungen, in denen die Illusion geboren wird, hier kommt es zur Berührung meiner Augen mit der Leinwand. Es gibt ganz unterschiedliche Ausprägungen einer solchen Fahrt. Es gibt seit jeher den Phantom Ride, jene Methode, in der wir uns mit der Kamera auf einem sich bewegenden Fahrzeug befinden und mit ihr in die Welt, die Welt des Films fahren. Hier versteckt sich die Möglichkeit einer Reise ohne Bewegung, das bewegungslose Driften ist ein Träumen in den Augen des Kinos, ich kann völlig unbeweglich sein, krank und verfault und doch mit der Kamera in die weite Welt hinaus. Es reicht mir manchmal nicht, wenn diese weite Welt durch einen Schnitt plötzlich vor mir liegt. Ich muss den Weg spüren, sehen, hören. Ich habe viel über die Züge und Phantom Rides bei Hou Hsiao-Hsien geschrieben, aber der ultimative Phantom Ride seines Kinos ist gar kein Phantom Ride und findet sich in Goodbye, South Goodbye, eine lange Motorradfahrt auf einer schmalen Bergstraße. Es ist deshalb ein so gelungener Phantom Ride, weil er sich selbst in seiner Bewegung verliert. Bei einem solchen Phantom Ride geht es nicht um das Ziel der Bewegung, die Bewegung selbst ist das Ziel. Bei besseren Griffith Filmen wie Way Down East verlegt sich diese Bewegung sogar in die Montage, die wie Eisschollen durch die Filme treiben. Ist es also die Bewegung durch den Raum, die mich verführt?

Oder ist es vielmehr die Zeit, die in diesen Raum geschrieben wird? Filmemacher wie Belá Tarr oder Jia Zhang-ke arbeiten beständig mit dieser Verzeitlichung der Bilder. Bei ihnen bedeutet eine Fahrt in den Raum auch nicht zwangsläufig eine Fahrt nach vorne. Sie kann seitlich verlaufen wie zu Beginn von Sátántangó, sie kann sich diagonal-schwenkend vorwärtsbewegen wie häufig in Still Life. In diesen Kamerabewegungen sammeln sich die Geschichte, die Politik und die Poetik der Figuren und ihrer Umgebungen. Vor allem sind es wohl die Erinnerungen. Es gibt aber eine ganz andere Frage an solche Bewegungen, die man mit der berühmten vorletzten Einstellung in Michelangelos Antonionis Professione: reporter diskutieren kann. In der Szene dreht sich die Kamera durch ein Gitter hindurch um 360 Grad und lässt wichtige Handlungen Off-Screen passieren, obwohl man sich fragen kann, ob das entscheidende Element der Szene nicht die Bewegung der Kamera selbst ist. Die Frage lautet, ob solche Kamerabewegungen ein distanziertes Schauen des Filmemachers bedeuten, in dem die autonome Kamera sozusagen die Freiheit der Auswahl des Blicks beleuchtet oder ob wir in diesen Bewegungen die Bewegung der Seele des und der Protagonisten nachempfinden, eine Zustandsbeschreibung, die eben mit Filmemacher wie Tarr an der Zeit hängt, bei anderen an der Sinnlichkeit, spirituellen Erhebungen, Erotik und Lust oder doch dem kinematographischen Selbstzweck, einer Masturbation der Bewegung (wie bei Hou Hsiao-Hsien, obwohl dieser auch gerne mit der Geschichtlichkeit arbeitet). Die fließende Kamera ist also ein Ausdruck innerer Zustände und der Macht der Sichtbarmachung zugleich. Sie vermag eine Erfahrung der Gefühle zu geben (das gilt immer wieder auch für Statik) und gleichzeitig hinter den fragilen Schleier blicken, der diese Gefühle verbirgt.

Der Schuss danach: Professione: reporter

Der Schuss danach: Professione: reporter

Einzig der nervöse Zustand scheint mir in der Montage besser aufgehoben, aber ein Schnitt nimmt ihm auch das Erdrückende der Zeit. Das Fiebrige, Nervöse, Panische zeichnet sich weniger dadurch aus, dass man die Zeit verliert wie in den schnellen Schnitten, die manche Filmemacher dafür verwenden, sondern gerade dadurch, dass die Zeit nicht aufhört, nicht unterbrochen wird, sich nicht verändern lässt. Das Fließende müsste also verstört werden. Hier kann der Ton eine enorme Rolle spielen, denn auch er bewegt sich durch die Zeit und den Raum. Carl Theodor Dreyer hat mal geäußert, dass ein Verständnis für die Existenz von Tönen, die immer existieren auch in dramatischen Szenen wichtig wäre. Es geht also darum, dass man das Flugzeug am Himmel auch hört, wenn man stirbt, es geht um eine Unaufhaltsamkeit der Welt und eine individuelle Nichtigkeit im Strom der Zeit. Töne dringen beständig in die Räume ein und das Kino tut gut daran, das zu dokumentieren statt – wie so oft im industriellen Kino – das Drama zu isolieren.
Die Gleichzeitigkeit der Dinge wie sie auch in einer statischen Einstellung, die sich durch den Raum bewegt, findet, nämlich jener Tischszene in Cristian Mungius 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile ist entscheidend für die Wahrnehmung des Kinos. Hände und Stimmen greifen in den Kader, sie oszillieren zwischen On- und Off-Screen, unser Blick wird gelenkt, aber er wird mitten im Chaos gelenkt. Es geht hier um die Kontrolle des unkontrollierbaren Lebens. Dieses Gefühl erweckt sich bei mir nur, wenn das Leben auch dort ist, das Leben auf Film. Erst dann machen Dinge wie Framing, Sound-Design oder Lichtsetzung Sinn. Es geht nicht darum, einen Dialog oder ein Gesicht aus dem Film zu nehmen und es nach vorne zu holen, sodass wir es alle sehen können, es geht darum das Gesicht oder den Dialog im Film so zu inszenieren, dass wir sowieso dort hinsehen, auch wenn wir in jeder anderen Ecke auch etwas spannendes sehen würden. Ähnlich verhält es sich in der Malerei, nur dass es im Film die Macht der Bewegung gibt.

Die Zufahrten in There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson (wie in jedem seiner Filme) sind pures Kino. Sie existieren exakt zwischen der absoluten Kontrolle eines Filmemachers im Stil eines Stanley Kubricks und der völligen Offenheit der Welt. In diesen Fahrten in den Raum offenbaren sich die Sicherheit eines manisch ausgelöschten Zweifels (Kubrick) und die Essenz dieses Zweifels selbst (Tarkowski). Anderson zelebriert den Rausch der Bewegung, um im Gesicht einer Emotion zu landen. Aber auch die Fahrt selbst berührt schon die Wahrheit und die Hintergründe dieser Emotion. Was hier etwas abgehoben klingt, soll eigentlich nur heißen: Eine Kamerafahrt auf ein Objekt zu, erzählt immer zur gleichen Zeit, von dem, was es filmt und von der Fahrt selbst. Was bedeuten diese Fahrten? Sind sie der neugierige Blick, der schweifende Blick, der suchende Blick, der täuschende Blick, sind sie ein Blick? Oder sind sie tatsächlich eine Penetration, eine Aggressivität, ein Tabu wie Jacques Rivette das über Gillo Pontecorvo geschrieben hat. Es ist mit Sicherheit so, dass man nicht immer auf etwas zufahren sollte, oder? Man muss vorsichtig sein. Für das rustikale Sehen schienen mir immer Schnitt oder Zoom geeigneter. Eine Zufahrt ist etwas zerbrechliches, sie ist wie das erste Wort an eine schöne Frau, der erste Kuss, die Zehenspitzen im kühlen Wasser nach einem langen Winter. Genau darin liegt ihre Schönheit. Sie kann zugleich vom Zögern und der Vorsicht des Kinos erzählen als auch von der Überzeugung und dem Mut. Wenn ein Filmemacher Fahrten ganz bewusst und nicht andauernd einsetzt wie beispielsweise Manoel de Oliveira oder Apichatpong Weerasethakul (unterdrückte Gefühle als perfektes Interesse für eine Kamerafahrt, die zugleich entblößt und bekleidet?), dann wirkt der Einsatz dieser Stilistik wie der mutige Schritt in ein neues Leben oder ein erster Atemzug nach einer Dürre. Einen ähnlichen Effekt erzielen Filmemacher immer wieder mit Musik, die erst spät im Film einsetzt. Beispiele hierfür wären Jauja von Lisandro Alonso und El cant dels ocells von Albert Serra. Die Kamerafahrt in den Raum ist wie ein lauernder Tiger. (wenn sie richtig eingesetzt wird: bewusst, behutsam, zärtlich, gewaltvoll).

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Die erste Einstellung in Man Hunt von Fritz Lang, mehr eine Kranfahrt denn eine Zufahrt und doch beides zugleich: Eine Aufblende und ein Titel: „Somewhere in Germany- shortly before the War“ und schon bewegen wir uns durch ein für Deutschland eher untypisches Gestrüpp, ganz so als wären wir in The Thin Red Line von Terrence Malick, Gräser fassen in unser Augen, sie neigen sich im Wind der sich bewegenden Kamera. Nebel steigt auf vom Boden, die Mitte des Bildes ist erwartungsvoll leer, eine unerträgliche Spannung und Konzentration liegt in den Sekunden. Sonnenlicht drückt durch den dicken Wald und Nebel, die Kamera richtet sich langsam auf den Boden, als würde sie Spuren suchen. (eine ähnliche Einstellung zu Beginn eines Films findet sich in The Big Lebowski von den Coen-Brüdern). Eine fließende Blende und nun entdecken wir tatsächlich eine Spur auf dem Boden, eine menschliche Fußspur auf sandigem Untergrund. Die Kamera bewegt sich kontinuierlich in der gleichen Geschwindigkeit weiter und eine weitere fließende Blende bringt uns zum Held des Films, einem Jäger im Wald, einem lauernden Tiger (wir denken an Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul, aber trauen uns nicht zu sprechen, ob der greifbaren Spannung, die uns auch an die Fahrt des Bootes in das Lager von Brando in Apocalypse Now denken lässt mit Trommeln aus der Ferne und einem Tiger im Film). Die Kamera und der Jäger verharren, sie blicken sich um, ein leichter Schwenk. Ein Geräusch. Der Jäger weicht zurück und hält sich an einem Baum fest. Die Kamera schwenkt leicht nach unten. Sie hat ihre Beute, den Helden längst im Visier, sie ist im Vorteil. An dieser Stelle schneidet Lang zum ersten Mal in einen POV seiner Hauptfigur, also just an der Stelle, an der er diese gefunden hat. Erst die Kontroller durch die Fahrt hat den Weg frei gemacht für eine bewusst-klassische Montage. Wie der Jäger selbst hat sich die Kamera durch den Wald herangepirscht. Viele Filme beginnen bei der Jagd, viele Filme beginnen mit einer Fahrt.

Man Hunt von Fritz Lang

Man Hunt von Fritz Lang

Die besten Filme finden ihre Beute nie. Sie streifen umher, lösen sich wieder, sehen etwas, sehen nichts, wollen etwas sehen, sie sind zu weit weg, zu nah, sie haben eine richtige Position, sie warten, sie suchen, sie schlafen, sie bewegen sich und bewegen sich und bewegen sich und irgendwann schießen sie uns direkt ins Herz.