House of Hamaguchi

Eigentlich ist es banal. Das Leben ist eine komplizierte Sache. Im Kino spürt man das aber selten. Da herrschen andere Gesetze. Da wird vereinfacht und gelogen. Nicht so bei Ryûsuke Hamaguchi. Bei ihm spürt man das Gewicht der Welt. Man begreift die Widersprüche von Handlungen und Nicht-Handlungen. Man erahnt die Verletzlichkeit jedes Schrittes und jedes Wortes. 2021, so kann man lesen, war das Jahr des 43jährigen Drehbuchautors und Regisseurs. Mit dem episodischen Wheel of Fortune and Fantasy sowie der losen Murakami-Adaption Drive my Car etablierte er sich im jährlichen (und vergesslichen) Kanon des Festivalkinos.

Es ist nicht leicht, seine Filme zu beschreiben. Sie sind zwar handlungsgetrieben und erinnern in ihrer Ästhetik und aufgrund der generellen Settings und Figuren gar an TV-Serien, aber sie fransen aus und entdecken an den Wahrnehmungsrändern ihre wahre Bestimmung. Scheinbar Nebensächliches löst große Krisen aus. Unausgesprochene Wahrheiten verbergen Traumata. Je länger seine Filme dauern desto mehr wird bewusst, dass man nicht alles verstehen kann. Im Nicht-Verstehen versteckt sich jedoch die Identifikation. Man entdeckt darin dieselben Zweifel und unbeantworteten Fragen, die man sonst eher als innere Stimme kennt. So stark wie bei Hamaguchi blicken heute wenige Filme auf ihre Betrachterinnen zurück. Sie kreisen um einen unbenannten Punkt in uns. Er hat mit Einsamkeit und Entfremdung, aber auch mit Begehren, Liebe und Zärtlichkeit zu tun. Der argentinische Filmemacher Matías Piñeiro hat einmal ein Zitat aus Jean Renoirs La Règle du jeu bemüht, als er gebeten wurde, die Filme seines japanischen Kollegen zu beschreiben: „Die wahre Hölle des Lebens ist, dass alle ihre Gründe haben.“ Treffender könnte man nicht beschreiben, was passiert, wenn sich zwei oder drei oder vier Menschen in einem Film Hamaguchis annähern.

Bereits seit seinem Studentenfilm Like Nothing Happened aus dem Jahr 2003 arbeitet Hamaguchi an den gleichen Gefühlen. Gedreht auf 8mm und mit einer technisch unausgereiften, aber seltsam berührenden Post-Synchronisation, begegnet man dort diesem so vertrauten wie entrückten Schmerz, der die Welt durch ein Fenster betrachtet und dabei nach menschlicher Nähe sucht. Der Film folgt wie fast alle Arbeiten des Drehbuchautors und Regisseurs einer Gruppe junger Menschen. Sie unterhalten sich, begehren, flirten und verlieren sich. Alle Filme von Hamaguchi sind Melodramen. Es ist nur so, dass die äußeren Hindernisse, die sich in den Weg einer Beziehung stellen, längst verinnerlicht wurden. Niemand verbietet eine Liebe, aber etwas hindert sie trotzdem.

Jugend

Hamaguchi entzieht sich keineswegs dem dominanten Genre seiner Zeit: dem Coming-of-Age-Film. Allerdings verzichten seine Filme auf den weitverbreiteten und anstrengenden Überlegenheitsgestus jener, die zurück auf die Jugend blicken, als wäre sie ein abgeschossenes Kapitel (Sorrentino, Cuarón, Joachim Trier). Nein, bei ihm gibt es nicht diesen überheblichen Nostalgieblick, der das Leben als chronologische Erzählung begreift. Stattdessen bleiben seine Figuren jugendlich. Sie zweifeln und erkennen nicht. Sie zögern und handeln falsch. Sie werden älter und ändern sich, aber das heißt nicht, dass aus sich selbst herauswachsen. Alle tragen die Schichten ihrer Unreife bis zum Lebensende mit sich. Hamaguchis mitreißender Abschlussfilm an der Kunsthochschule Tōkyō Geidai, Passion, folgt einigen Freunden, die nicht erwachsen werden können und wollen. Die Männer haben geheiratet, aber schämen sich dessen. Sie würden lieber jung und verantwortungslos bleiben. Die Frauen unterdrücken ihre Gefühle zugunsten eines Lebensideals, das zunehmend verschwimmt. Innere und äußere Bewegungen verunsichern das Selbstverständnis. Ein überraschender Kuss und alle sind wieder Teenager. Ein unerwarteter Gefühlsausbruch und die ganze Jugend ist verloren.

Bei Hamaguchi ist es gerade die Unreife, die das Erwachsenenleben auszeichnet. Ein schönes Beispiel dafür findet sich auch in seinem Asako I & II. Die Mutter eines Freundes der Hauptfigur errötet, als der gutaussehende Freund sie beim Namen nennt und ihr Bier einschenkt. Sie sagt, dass sie auch eine Frau sei und wenn ein schöner Mann sie mit ihrem Namen anspreche, dann erröte sie eben. In der Folge spricht sie unentwegt von ihrer eigenen Jugend, die sie nie wirklich abgeschlossen hat, sondern wie ein entzückendes Bedauern weiter mit sich trägt.

Geister

Asako I & II zeigt auch Hamaguchis Interesse für scheinbar Übersinnliches. Im Film verliebt sich die junge Asako auf den ersten Blick in Baku, der dann von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben verschwindet. Zwei Jahre später begegnet sie einem anderen Mann, der genauso aussieht wie Baku. Sie heiratet diesen Mann, aber irgendwann kommt Baku zurück und wirft Asakos Gewissheiten einmal mehr aus den geregelten Bahnen. Sind es in Asako I & II zwei verschiedene Seelen in einem identischen Körper, so sind es in Heaven is still far away zwei verschiedene Seelen im gleichen Körper. Ein verstorbenes Mädchen ergreift Besitz vom Körper eines Klassenkameraden und muss fortan dessen Leben teilen. Solche Gegebenheiten stehen bei Hamaguchi neben alltäglichen Ereignissen. Sie werden nicht dramatisch, wohl aber mit einer leicht flirrenden Unheimlichkeit inszeniert. In der finalen Episode von Wheel of Fortune and Fantasy erscheinen wieder lang vermisste Menschen in fremden Körper. Dieses Mal ist es eine Verwechslung oder ein Rollenspiel. Man denkt an einen Text von Alex Turner:

She was nothing but a vision trick
Under the warning light
She was close
Close enough to be your ghost
But my chances turned to toast
When I asked her if I could call her your name

Manchmal mutet das an wie ein verführerisches oder plattes Experiment. Was wäre, wenn dieses oder jenes passierte? Das gilt auch für die Ehrlichkeit. Wiederholt testen Figuren aus, was passiert, wenn man ganz ehrlich ausspricht, was man fühlt. Dabei wird vor allem klar, dass man Gefühle in der Regel versteckt.

Egal wie unmöglich die Prämisse, Hamaguchi versteht sie zu erden. Letztlich markieren die Geister und schaurigen Zwischenfälle in den Filmen, das Begehren auch unter die Haut der Figuren zu kriechen. Die Intimität der Bilder erlaubt Hamaguchi eine solche Nähe. Er hat einen Weg gefunden, intime Bilder zu machen, die nie so wirken, als würde er in die Privatsphäre seiner Figuren eindringen. Stattdessen herrscht eine Sanftmut vor, die selbst klischeehaften Bildern (von denen es nicht wenige gibt) zur Wahrhaftigkeit verhilft. Die Geister sind freundlich, sie gemahnen einer nie ganz verlorenen Zeit. Genau wie die anhaltende Jugend der älterwerdenden Figuren legen sich die Geister als Schicht in den Körpern ab. Sie sind, wie alles in diesem Kino, nur eine Facette des unbegreiflichen Großen und Ganzen.

Verlust

Das gilt auch für die tieferen Narben, die das Leben in einem Menschen hinterlässt. Die Geister erzählen, wie zum Beispiel im Fall von Touching the Skin of Eeriness, von einer Trauerarbeit. Todesfälle und die Scherben von Beziehungen durchziehen die Werke Hamaguchis. Ein Mensch verschwindet. Was dann? Seine Protagonisten schweben, berührt von Unheil, in einer Abwesenheit. Der Theaterregisseur in Drive my Car ist dafür ein gutes Beispiel. Nach dem Tod seiner Frau bewegt er sich wortwörtlich als Passagier durch sein eigenes Leben. Die Welt wird durch den Filter dieses Verlusts betrachtet. Sie verstummt beinahe und entfernt sich. Die Erfahrung ist nicht unmittelbar, sie ist verzögert, gebrochen. Es überrascht nicht, dass sie die Figuren der Kunst widmen, um auszudrücken, was ihnen fehlt.

Bei all der Schwere interessiert sich Hamaguchi auch für die Pflaster, die es für die Wunden gibt. Seine Filme lindern Schmerzen. Das gelingt ihnen nur selten aufgrund billiger emotionaler Tricks, sondern, weil sie es wagen, die Schmerzen wirklich zu befragen. Woher kommt diese Einsamkeit? Wer würden wir gern sein? Was wäre ein glücklicher Tag? Diese Fragen sind nicht willkürlich erfunden, sie werden so in Hamaguchis Intimacies im Rahmen eines in einem Theaterstück vorgetragenen Gedicht gestellt. Würden diese Fragen im falschen Ton gestellt, wären die Filme lächerlich. Nur Hamaguchi hält Stimmungen in einer betörenden Schwebe, sodass man sich unentwegt ganz nah an den Figuren wähnt und gleichzeitig ihre Entfremdung teilt. In seinen Filmen gibt es keine Peinlichkeit. Selbst die nacktesten, schlimmsten Situationen sind würdevoll, weil die, die sie erleben, Menschen sind. Man könnte ihn als Humanisten oder Existenzialisten bezeichnen. Ganz falsch wäre es nicht. Als Einflüsse nennt er Éric Rohmer und John Cassavetes, aber wer tut das nicht? Die Trauerarbeit ist ein Politikum im japanischem Kino des Katastrophenzeitalters. Nicht umsonst realisierte Hamaguchi gemeinsam mit Ko Sakai einige Filme, in denen sie mit Opfern des Erdbeben und Tsunamis in der Tōhoku Region rund um Fukushima sprechen. Diese Filme sind Zeugnis eines nationalen Traumas. Es ist bezeichnend, dass Hamaguchi sich diesem mit Sprache statt mit Bildern nähert. Wenn eine Figur bei Hamaguchi trauert, dann weint sie nicht, sie spricht.

Theater

Intimacies ist ein entscheidender Film für das bisherige Werk Hamaguchis. Er kann getrost als direkte Vorlage für Drive my Car gesehen werden. Durch ihn vollendete der Filmemacher seine Vorliebe für lange Einstellungen, in denen zwei Menschen ein tiefes Gespräch führen. Durch ihn entdeckte er die Kraft des Schauspiels und des Theaters. Entstanden im Rahmen eines Schauspielworkshops (vergleichbar also zum Beispiel mit Cristi Puius Trois exercices d’interprétation) gliedert sich der Film in zwei Blöcke und einen Epilog. Der erste Block dreht sich um die Arbeit an einem Theaterstück und das Leben der Mitwirkenden. Vor allem die Beziehung zwischen dem Autor und der Regisseurin wird in ihrer Unmöglichkeit beleuchtet. Der zweite Block zeigt eine komplette Performance des Stücks samt Zuschauerreaktionen. Am Ende kehrt der Film nochmal zum Leben der Regisseurin zurück. Die Struktur, die Präsenz des Theaters und das Bedürfnis, Szenen ungeschnitten und ungekürzt ablaufen zu lassen, erinnert an Jacques Rivette. Es ist sehr leicht, zu viel über Rivette nachzudenken. Deshalb sei auch Patrick Wangs A Bread Factory als Referenz genannt. Manche Dialoge filmt Hamaguchi ungeschnitten mehr als 15 Minuten. Dass sich dieses Jahr so anfühlt wie sein Durchbruch hat sowieso nichts mit der Qualität, sondern einzig mit der Länge seiner Filme zu tun. Happy Hour war bereits eine formvollendete Arbeit. Man kann sich Hamaguchi wie einen Steinmetz vorstellen. Er arbeitet immer mit dem gleichen Grundmaterial und formt daraus unterschiedliche Objekte. Manche sind größer und rauer, andere sind kleiner und feiner. In ihrem Kern aber sind sie gleich.

Liebe

Die Zerbrechlichkeit macht auch vor der Liebe nicht halt. Sie blitzt manchmal auf, ein unwiderstehliches Licht. Es scheint aus den Augen der Figuren. Dann vergräbt sie sich wieder in ihrer sicheren Abwesenheit. Die, die sich berühren bei Hamaguchi sind verflucht. Etwas wird ihnen widerfahren. Sie werden aber weiter glauben. Das Potenzial der Liebe bleibt intakt in ihnen, auch wenn sie nicht gelebt wird. Sie existiert weiter wie ein glühender Zigarettenstummel auf dem trockenen Waldboden. Aber selbst wenn es brennt, ist das nicht genug. „Warum ist Liebe nicht genug?“, heißt es in Intimacies. Was hindert uns am Glück? Hamaguchi dreht erwachsene Beziehungsfilme, eine eigentlich ausgestorbene Spezies im Kino, das sonst nur zynisch, kitschig oder gar nicht auf die Liebe schaut. Happy Hour ist ein Film, in dem das Lächeln verschwindet. Wolken schieben sich vor die Sonne. Liebe existiert in der Vergangenheit. Beziehungen lagern sich als weitere Schicht in einem Ich ab, das ohnmächtig durch das Leben gefahren wird. Die unschuldige Suche nach dem Sinn wird als naiv entlarvt. Die Krise ist beständig. Jeder Tag wird zum Drama, an dem man sich Ängsten stellen muss. Hamaguchi liefert keine Antworten oder Analysen. Er beschreibt. Man könnte seine Filme mit einem Freund vergleichen, der einem zuhört. Das Zuhören ist bei Hamaguchi allerdings ein Sprechen.

Sprache

Bei keinem anderen narrativen Filmemacher wird heute so stark über das Verhältnis von Sprache und Bildern beziehungsweise von Sprache und der Wirklichkeit nachgedacht. Genau das hebt ihn ab vom Festivalallerlei zeitgenössischer Prägung. Es ist ohnedies nicht schwer, Hamaguchi zuvorderst als herausragenden Drehbuchschreiber zu betrachten, der es versteht, seine Worte durch seine Regie zu schützen. Hamaguchi macht Dialogkino. Sein Wheel of Fortune and Fantasy denkt darüber nach wie Sprache Wirklichkeiten erschafft. Sie verändert, das, was passieren kann. Sie erzeugt ein eigentlich verborgenes Innenleben. Sie lässt Nähe entstehen. Sie ist erotisch. Sie lässt Menschen zurückkehren oder verschwinden. Ein Wort kann in allen drei Episoden des Films alles verändern. In Intimacies gibt es ein Diagram der Worte, das das alles und mehr beschreibt:

Worte sind ein Zug, mit dem die Phantasie reist
Durch ganz Japan reist die Phantasie
Landkarten, die zeigen, wer wir sind
Wer alle sind, die ich bin
Eine Phantasie, die zusteigt und aussteigt
Wie an allen Bahnhöfen

An den kleinen Bahnhöfen
halten Worte wie Regionalzüge
Unsere Arbeit wird beschleunigt
von Worten wie Expresszügen
Nur für die, die es wissen
sind Worte wie Schnellzüge
Nur an an den wortüberfülltesten Bahnhöfen
halten Worte wie ein Superexpress.

Manchmal versagt die Sprache in den Filmen. Dann ist der Schmerz zu groß, die Überwältigung zu stark. Trotzdem muss kommuniziert werden. Dann wird also berührt, zugehört oder erschaffen. Hamaguchi glaubt daran, dass eine Sekunde unser Leben verändern kann. Ein Zufall möglicherweise. Er schenkt diesen Momenten keine besondere Bedeutung. Er lässt sie vergehen wie die Sätze. Es ist die Luft, die nicht mehr aufnehmen kann, was gefühlt wird.

Wiederholt begegnet man Totalen einer städtischen Landschaft. Züge rattern durchs Bild, alles wirkt ganz weit weg, anonym. Ein paar Lichter versinken in den Pfützen, Augen treffen nur noch ihre Spiegelung, wenn sie aus dem Zugfenster nach der Welt suchen. Man hört einen Dialog, aber erst nach einiger Zeit entdeckt man die sprechenden Figuren im Bild. Manchmal sind es nur Silhouetten am unteren Bildrand. Sie werden förmlich verschluckt von der Betonwelt, die sich um sie schließt wie ein Kokon. Für einen Ausbruch ist man längst zu müde. Man lächelt noch kurz oder schluckt einige salzige Tränen. Vielleicht ist es doch schön hier. Man lebt halt. Das ist schwer genug.