Hou Hsiao-Hsien Retro: Café Lumière

Keiner hört den Zügen zu. Wie hören sich Züge an? In „Café Lumière“ widmet sich Hou Hsiao-Hsien unter anderem dieser Frage in seiner ganz eigenen Tokyo Story zwischen den Gleisen, Straßen, Wohnungen und Identitäten einer ihm nahestehenden und doch fremden Nation: Japón, ici. Zum 100. Geburtstag von Yasujirô Ozu, jenem japanischen Kinogott, der über so vielen zeitgenössischen Filmen schwebt (man kann bei so diversen Künstlern wie Claire Denis, Nuri Bilge Ceylan, Steve McQueen, Asghar Farhadi, Joanna Hogg, Aki Kaurismäki oder Béla Tarr nachfragen) entstand dieser Film, der offensichtlich macht, was sowieso klar ist: Hou Hsiao-Hsien ist die Reinkarnation von Yasujiro Ozu, oder? Unter anderem entstand auch der Film „Five dedicated to Ozu“ von Abbas Kiarostami in diesem Programm (dies nur eine Randbemerkung)

Café Lumiere

Die schmalen Türen, knieenden Menschen, stillen Momente, die Simplizität der gerahmten Beobachtungen, die kleinen und großen Themen des familiären Zusammenlebens, die Arbeit, die Jugend, die Liebe, die alltäglichen Probleme und Gespräche. All das vereint Ozu mit Hou Hsiao-Hsien. Allerdings scheint mir der taiwanesische Erbe ein viel bewussterer Formalist zu sein, ein sentimentaler Trancemechaniker des Kunstkinos, wogegen Ozu sich regelrecht dazu zwingt keine Bewegung, keine Sekunde, kein Gefühl zu viel in seinen Filmen zu haben und sein Werk dennoch oder deshalb um einiges einfacher für ein breites Publikum zugänglich ist. Dementsprechend ist es also nur passend, dass „Café Lumière“ eine Art Metareflexion (oder besser: eine Hommage) über Motive und Bildsprache von Ozu geworden ist; irgendwie ein Film für Menschen, die gerne spätnachts im Fernsehen an etwas hängenbleiben und am nächsten Morgen begeistert davon erzählen (wenn es solche Menschen gibt). Das Werk wurde von Shochiku in Auftrag gegeben, jener Produktionsfirma, die sich für viele Ozu-Filme verantwortlich zeigte. Dementsprechend beginnt „Café Lumière“ auch mit dem Fuji, ein Bild, das zugleich das Logo dieser Firma ist. Dann beginnen die Züge durch das Bild zu rollen und schon bald werden wir lernen sie nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören.

Es geht um eine junge Frau, Yôko (gespielt vom japanischen Popstar Yo Hitoto), die für einen Text über den taiwanesischen Komponisten Jiang Wen-Ye recherchiert und sich einer überraschenden Schwangerschaft im Angesicht ihrer traditionellen Eltern stellen muss. Jiang Wen-Ye ist wichtig für den Film. Seine Musik füllt auch die Bilder (manchmal etwas zu viel) und seine japanische Frau und Tochter haben Gastauftritte. Was immer bleibt-sowohl bei Ozu als auch bei Hou Hsiao-Hsien-sind die schweigenden Väter, undurchschaubar in ihrer Reaktion machen sie einen nervös. Immer im Beobachten, im Denken, im Urteilen ist der Vater in „Café Lumière“ nicht zufrieden mit der Lebensgestaltung seiner Tochter. Ansonsten betört der Film mit lichtdurchfluteten Räumen, Zügen und kleinen Begegnungen, die fast nie ein Ende finden, aber immer bewegen.

Café Lumière

Züge gibt es viel bei Ozu, aber ein Zug verweist auch-wie der Titel-auf jenen berühmten ersten Zug des Kinos, den die Lumière Brüder einfahren ließen. Züge sind ein fester Bestandteil der Filme von Hou Hsiao-Hsien. Sie verbinden häufig Stadt und Land, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit oder zwei Menschen. In „Café Lumière“ stehen die Züge vor allem für Zeit, also für das Kino. Am deutlichsten wird dies bei Betrachtung der digitalen Arbeit von Yôkos Freund Hajime (Tadanobu Asano), in der er selbst in Embryonalhaltung zwischen Zügen hängt. Eine fortwährende Bewegung, die nicht stillstehen kann und gleichzeitig fragt sich Hou Hsiao-Hsien wie man diese Bewegung aufnehmen kann, wie man sie sozusagen sichern kann, sichtbar machen kann und vor allem hörbar, erfahrbar. Hajime nimmt wie aus existentialistischen Trotz die Geräusche der Züge, also der Zeit auf, man hört zu und erlebt die Gegenwart jener Momente aus denen sich das Kino von Hou Hsiao-Hsien zusammensetzt. Dabei zählen kleinste Regungen, minimale Töne.

Café Lumière

Wenn man genug Filme von Hou Hsiao-Hsien gesehen hat, dann stößt man auf die Frage des Bedauerns. Dadurch, dass seine Filme die Vergangenheit mit einer zärtlichen Wärme aufgreifen und immerzu als vergangen behandeln, findet man sich in einer traurigen Nostalgie. „Café Lumière“ ist voll mit Vergänglichkeit: Die Vergangenheit des Kinos (Lumière, Ozu), die Vergangenheit der Musik (Jiang Wen-Ye), der Gegensatz zwischen den Generationen, die Vergangenheit Taiwans in Verbindung zu Japan, die Vergangenheit der Hauptfigur in ihren Beziehungen; dabei kann man nichts rückgängig machen, die Uhren sind eine Horrorshow. Die langen Einstellungen und schwebenden Züge verstärken diesen Effekt noch. Wenn man also fragt wie sich die Züge anhören, dann fragt man auch wie sich die Zeit und das Kino anhören. Die Antwort findet Hou Hsiao-Hsien wieder in einem kurzen Moment der Zärtlichkeit. Diese kurzen Momente definieren sein Kino und setzen es parallel zu Jonas Mekas. Nur Mekas löscht in seine Beauty-Moments-Orgien die Zeit zwischen den Momenten, während Hou Hsiao-Hsien diese Zeit betrachtet und manchmal gerade in dieser Zeit schöne Momente entdeckt. Und genau in dieser Zeit fahren die Züge von einem Moment zum nächsten, als ewiger Moment, der zwar am Anfang des Kinos ankam, aber von dort an immer weiter fuhr in allen Ländern und auch zwischen Yasujirô Ozu und Hou Hsiao-Hsien.

Hou Hsiao-Hsien-Retro: A Time to Live and a Time to Die

Bereits zum dritten Mal widmet sich das Österreichische Filmmuseum dem Schaffen von Hou Hsiao-Hsien. Zuletzt waren seine Filme im Dezember 1997 geballt im Unsichtbaren Kino des Hauses zu sehen und damals wie heute öffnete man die Schau mit „A Time to Live and a Time to Die“ aus dem Jahr 1985, der sich wohl aufgrund seiner persönlichen Färbung besonders als erste Annäherung an die Person und das Schaffen von Hou Hsiao-Hsien eignet. Damals wie heute wurde der Film im Programmheft des Filmmuseums mit der vollmundigen Ankündigung versehen, dass es sich um einen der schönsten Filme der Filmgeschichte handele.

Im bis zum letzten Platz gefüllten Kino beginnen dann die sentimentalen und doch grausamen Bilder von Hou Hsiao-Hsien, lebendig zu werden. Der Film ist eine Erinnerung an die Kindheit, das Portrait einer Familie im ländlichen Taiwan. Ursprünglich aus dem Hauptland kommend, lebt diese Familie in einfachen Verhältnissen getrennt von ihren Ahnen. Protagonist ist der junge Ah-ha, dessen Heranwachsen „A Time to Live and a Time to Die“ von Mitte der 40er Jahre bis Mitte der 60er Jahre beleuchtet. Die Schlichtheit des Lebens und die Schonungslosigkeit des Sterbens werden in elliptischen Montagen beobachtet, die sich wie ein Puzzle, ja eine Erinnerung vor dem Zuseher zusammensetzen. Inhaltlich erinnert der Film an die Apu-Trilogie von Satyajit Ray. Die stillen Momente des Ich-Werdens, die Einsamkeit und Schönheit einer Kindheit wurde dort mit derselben Leidenschaft und Geduld betrachtet. In beiden Filmwerken geht es immer um eine individuelle Haltung zur Welt, die Entwicklung einer Wahrnehmung, einer Selbstständigkeit im Angesicht der Existenz. Immer wieder wird Ah-ha durch diese Welt gespült, von ihrer Wut übermannt, aber manchmal bekommt er auch die Chance zu Sein, es sind dies die Momente des Werdens genau wie bei Apu. Auch bei Ray wurde der Großmutter eine besonders herzliche Rolle zugedacht. Neben ihr gibt es bei Hou Hsiao-Hsien drei Brüder, eine Schwester, Vater und Mutter.

A time to live and a time to die

Dabei vollzieht sich die Handlung rund um das Leben, Überleben und Sterben der Familie in Tableaus und Ransprüngen. Die Tableaus, das sind zurückhaltende Bilder voller Anmut, die immer etwas von der Umgebung mit erzählen. Es handelt sich oft um totale Einstellung an Orten, die man im Lauf des Films kennenlernt, weil sie immer wieder aus demselben Blickwinkel gezeigt werden. Der Baum an der Straße, das Laternenlicht über dem Haus, der Fahrradhof an der Schule. So vermag Hou Hsiao-Hsien ein Gefühl von Heimat zu vermitteln. In dieser Heimat des Films bewegen sich die Figuren so natürlich als wäre es kein Film sondern ein klarer Moment der Erinnerung, der nur von den elliptischen Schnitten gebrochen wird, als könne man der Welt nicht mehr folgen, als könne man sich nur an Momente erinnern. „A Time to Live and a Time to Die“ ist ein Film des Moments. Häufig wurde ein Vergleich mit Yasujirō Ozu bemüht, der auch unmöglich von der Hand zu weisen ist. Die Nüchternheit und formalistische Strenge und die Betonung der kleinen Regungen, die den Blicken der Kamera nie entgehen, ohne dass sie betont werden würden, erinnern an den japanischen Meister. Aber für Hou Hsiao-Hsien ist eine Auseinandersetzung mit der Kindheit auch ein sentimentales Unterfangen. Immer wieder schneidet er in Nahaufnahmen, immer wieder springt er aus den Tableaus in die Gesichter, die sich der Realität ausgeliefert, verloren und doch liebend durch die Welt bewegen.

Der Film ist vom Gestus eines Verzeihens aller Taten geprägt, er vollzieht sich in der Vergangenheitsform wie eine Altersweisheit, ein Blick zurück voll nostalgischem Lächeln und Bedauern. Passend dazu ertönt ein eingängiges Gefühlsthema, das die oft wortlosen Montagesequenzen trägt. „A Time to Live and a Time to Die“ droht zu transzendieren in eine Sphäre, in der die Persönlichkeit nur mehr ein Symbol für etwas Größeres ist. Ein universeller Ton des Heranwachsens ist nicht von der Hand zu weisen, man wird sich selbst auf der Leinwand erkennen hier und dort. Schon der internationale Titel erzählt nicht von Individuen sondern vom Leben an sich. Der Blick des Regisseurs ist daher niemals ein Blick aus der ersten Person. Er nähert sich der Familie wie ein entfernter Verwandter. Nur die Nahaufnahmen verraten seine Zuneigung und seinen Schrecken über das Leben und Sterben.

A Time to live and a time to die

Die Figuren werden durch ihre Bewegung und Positionierung im Raum charakterisiert. So sitzt der Vater zumeist im selben Stuhl am Rand des Bildes. Die Großmutter liegt in ihren letzten Tagen immer auf derselben Matte. Ein Bruder kriecht in der ersten Hälfte des Films fast durchgehend über den Boden. Der jungen Frau, für die sich Ah-ha interessiert begegnet er immer an derselben Stelle im Ort. Es wird bewusst, dass diese Menschen leben, weil man sie im gleichen Atemzug wie ihre Umgebung und ihre Zeit kennenlernt. Die Bilder sammeln sich nicht nur in der eigenen Wahrnehmung, sondern im Gedächtnis, sodass man von einer geteilten Erinnerung sprechen kann. Man hat das Gefühl, dass die grausamsten Momente in dieser Erinnerung warmgehalten werden, eine Wärme, die sich durch den Schrecken zieht, sodass man ihn nicht mehr berühren kann und dennoch tief in sich trägt.