In meiner Schulzeit bin ich mit einem unklaren Bild konfrontiert worden. Es muss in der fünften Klasse gewesen sein. Ich hatte zu lange Haare und schämte mich für mein Lächeln. Ich runzelte meine Stirn, weil ich fand, dass meine Augen so besser aussehen würden. Man schrieb mit Tintenschreibern, deren Blau ganze Hände zierte, eine Bildergeschichte. Ich mochte das. Bilder zu Worten machen, Worte zu Bildern machen, Worte für etwas finden, was man nicht beschreiben kann, Bilder für etwas finden, was es nicht gibt. Eine unmögliche Aufgabe, in der für mich immer eine Sehnsucht steckt. Vielleicht jene erbärmliche Sehnsucht nach Vollendung. Unser Lehrer war ein verkrampfter, rundlicher Glatzkopf, der immer nach Rauch stank. Wenn er lachte, erschrak man, weil er nicht lachen konnte. Auch die Hefte, die er von der Korrektur zurückgab, stanken nach Rauch und ich bildete mir manchmal ein, dass das Weiß der Seiten Gelb geworden war. Einmal einige Jahre später sollte er weinend vor uns stehen, weil seine Katze gestorben war. Er ging aus dem Klassenzimmer. Wahrscheinlich, weil er einen Anschein wahren wollte.
Ich kann mich nicht mehr genau an die Bilder dieser Geschichte erinnern, nur an ihre Unklarheit. Es hat mir immer sehr viel bedeutet, wenn ich etwas aufschreiben durfte. Ich war schon beim Frühstück sehr konzentriert. Meine Finger und Handgelenke mussten geschont werden. Ich nahm die Teetasse mit manierierter Vorsicht. Ich schloss meine Augen, um meinen Kopf zu befreien von den verzerrten Eindrücken des Morgens. Auch keine Gespräche mit den umtriebigen Freunden über die Fußballspiele des Vorabends, nichts. Eigentlich war alles unbedeutend, aber für mich existiert immer und immer noch ein schwebender Raum, wenn ich schreiben muss. Eine Art Schwamm in meiner Wahrnehmung. Manchmal drückt er einen zu Boden, wenn er zu voll ist. Man hatte nicht viel Zeit für diese Schulaufgaben. Es gab fünf über das Jahr verteilt, die den Hauptteil der Endnote ausmachten. Ich studierte also in einer gewissen Aufregung die Bilder. Es war ein Comic. Auf dem letzten Bild gab es eine Pointe. Es waren zwei kleine Wassertropfen darauf zu sehen, die aus dem Hahn einer Badewanne kamen. An diesen zwei Tropfen hing die Bedeutung der Bildergeschichte. Ich habe sie ignoriert. Ich habe sie nicht gesehen. Ich habe sie vergessen, als ich sie gesehen habe. Vielleicht hatte ich eine bessere Idee. Mit einem mir selbst unerklärlichen Eifer, der mir immer ein Rätsel bleibt und der mich immer noch überfällt, wenn ich ein Licht am Ende meines Schreibens erahne, penterierte ich meine Handgelenke in den heftigen und zackigen Bewegungen der hilflosen Inspiration. Ich schrieb, weil ich eine Fata Morgana sah. Ich erzählte eine Geschichte aus den Bildern heraus, machtlos gegenüber den Bildern. Es war vielleicht mehr über das Gefühl, dass sich durch die Kombination dieser Bilder einstellt, als über die tatsächliche Geschichte, die diese Bilder erzählen. Andere würden sagen, so auch der glatzköpfige Raucher: Ich habe nicht genau hingesehen. Themaverfehlung. Ich frage mich heute, ob man ein Bilder verfehlen kann. Meine Geschichte hatte alles. Anfang, Mitte, Ende, Figuren, Erzählfluss, Emotionen, Spannung und eine Relation zu den Bildern. So zumindest wurde mir das gesagt. Nur eben nicht die Tropfen, nicht die Pointe, sie war nicht genau das, was die Bilder erzählten, als würden Bilder etwas erzählen. In späteren Schulaufgaben ist mir das nicht mehr passiert. Ich habe gelernt, genau hinzusehen. Aber habe ich dabei auch etwas verlernt?
Genau hinsehen und genau hinhören ist wichtig. Insbesondere, wenn man sich mit Film beschäftigt. Es gibt zu viele subjektive, spekulative Aussagen. Vor kurzem jedoch ist es mir wieder passiert. In meiner Besprechung von Dheepan habe ich eine Einstellung gesehen, von der mir später berichtet wurde, dass es sie nicht gibt. Eine Nahaufnahme, die es nicht gibt. Ich glaube, dass ich ein Luftanhalten des Films an der spezifischen Stelle bemerkt habe, eines, dass sich für mich wie ein Schnitt, ein Innehalten angefühlt hat, eine Betonung des Gesichts, ein Bewusstwerden. Vielleicht war es gar nicht da, aber was habe ich dann gesehen? Ich erinnere mich an das Ende von Our beloved month of August von Miguel Gomes. Der Tonmann Vasco Pimentel wird beschuldigt, dass auf seinem Material Dinge auftauchen würden, die es gar nicht gegeben hat. Er würde Dinge hören, die es nicht gibt. Was es nicht alles gibt, denke ich und schaue weiter. Bilder sind nicht fest, denke ich. Heute stehe ich oft in kleinen Gruppen nach Screenings. Irgendwer spricht immer über Bilder, oft bin ich es selbst. Man rudert hilflos mit den Armen, was hat man gesehen, was hat man gesehen? Manchmal bin ich überrascht. Die anderen haben etwas anderes gesehen als ich. Erstaunlich viele haben gar nichts gesehen. Sie sprechen über ihre Gedanken während des Sehens. Sie haben nicht mal etwas nicht gesehen. Sie haben nichts übersehen. Meist sprechen sie über sich selbst. Oder über den Film als Spiegel für eine gewisse Zeit. Sie stehen über dem Film. Sie verstehen ihn. Sie erklären ihn. Andere entdecken Kleinigkeiten. Sie sehen nur die Tropfen. Als würde ein Bilder einzelne, isolierte Informationen beinhalten, wie eine weiße Wand.
Ich glaube, dass Filme oft zwischen den Bildern stattfinden. Und es gibt Töne. Worte für diese Dinge zu finden, ist unmöglich. Es ist eine Umöglichkeit einen Film zu beschreiben. Das gilt sowohl für das Drehbuch, als auch für die Kritik. Es gibt ein Element der Erinnerung, der Wahrnehmung und der Zeit dabei. Diese haben keine Relation zum Film und doch sind sie alles, was wir haben, um Film zu denken. Film ist kein statisches Objekt, dass man ansieht und dann irgendetwas über die Zeit herausfindet. Viele behaupten, dass man bei einem Film immer die Zeit mitdenken muss, in der er entstanden ist. Ich behaupte, dass man aus einem Film immer etwas über die Zeit erfahren kann, in der er gedreht wurde. Aber vor allem spricht er in der Gegenwart. Er spricht zu meiner Sehnsucht nach dem, was wir nicht sehen können, nicht erklären können. So wie der Tonfilm laut Bresson die Stille erfunden hat, so geht es für mich im Film nur um die Abwesenheit. Der Fokus liegt zwischen den Bildern, nicht in ihnen. Im Dialog zwischen On und Off. In der Erinnerung, dem Rhythmus, der Vorgeschichte, der Imagination, der Assoziation, der ständigen Zeitlichkeit, die alles verändert, was wir sehen. Was wir sehen ist nur Ausdruck dieser Abwesenheit. Und wenn wir es beschreiben mit rudernden Armen oder gestellter Sicherheit, dann nur um für eine Sekunde festzuhalten, was es nicht gibt. Im Kern ist das Schreiben über Film immer ein Akt der Liebe, der die Flüchtigkeit einer Begegnung in Bedeutung umwandeln will, um sich sicher zu fühlen, um sich selbst im Verhältnis zu den Bildern zu definieren – nie, um die Bilder zu definieren. Wenn ich über einen Film schreibe, sage ich „Ich liebe dich.“.
Man sagte mir, dass ich die Bildergeschichte nicht richtig verstanden habe. Ich musste weinen. Dafür schämte ich mich weniger als für mein Lächeln. Diese Tränen schmecke ich noch heute in meinem Hals, obwohl sie längst vertrocknet sein müssten. Sie ersetzen die Tropfen auf dem Bild. Ich habe mich irgendwann dafür entschieden, lieber diese Tränen zu fühlen, als zu verstehen.