Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Holz und Kerzenlicht: L’Envol von Pietro Marcello

„Ein weißes Schiff unter riesigen, leuchtenden Purpursegeln wird die Wellen durchschneiden und geradewegs auf dich zukommen.“ So steht es in Alexander Grins Märchen Purpursegel (Алые паруса) geschrieben, so, wir alle haben das einmal gewusst, wird es geschehen. In seiner losen Adaption des Stoffes evoziert Pietro Marcello, zusammen mit Alice Rohrwacher und Michelangelo Frammartino so etwas wie die Rettung des zerstörten italienischen Kinos, den abendroten Glanz vergessener Träume, die feinen, kaum merklichen Verschiebungen zwischen dem Wirklichen und dem, was von der Wirklichkeit nur erträumt werden darf.
Vergessen sind diese Träume eigentlich nicht, nur vom Kino werden sie längst nicht mehr aufgegriffen. Dabei ist es im Kino doch viel dunkler als in den Schlafzimmern der künstlich beleuchteten Welt, die Träume viel süßer, farbenfroher, als die panischen, die sich zwischen den Tagen einstellen können in einem Heute, das sich seiner selbst nicht mehr sicher ist.
Das Träumen darf anderswo nicht so frei, nicht so schlicht sein wie in L’Envol. Marcello bewegt sich erstaunlich leichtfüßig durch Zeit und Raum und Wirklichkeiten. Wie in vielen seiner Arbeiten, nur ungleich fließender montiert der Filmemacher Archivaufnahmen aus der Spätzeit des Ersten Weltkriegs zwischen seine anderen Bilder. Es ist eine jener Nicht-Zeiten europäischer Geschichte, in denen Träume besonders fern liegen. Mit nur scheinbar simplen Schuss-Gegenschuss-Spielereien macht Marcello glaubhaft, dass seine Figuren diesem historischen Material entwachsen, er zeigt, dass die Fiktionen dann besonders blühen, wenn sie aus ihrer eigenen Unmöglichkeit entstehen; die Träumenden sind dann am stärksten, wenn Träume undenkbar werden. Drohender Kitsch wird zu einem Bollwerk gegen die verheerende Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Pathos zum Indikator einer verlorengegangen Bedeutung. Diese oftmals schon mit einer Wertung versehenen Beschreibungen, also Kitsch oder Pathos, wandeln ihre Bedeutung je nach Kontext, in dem sie präsentiert werden und natürlich auch je nach der Art und Weise, in der sie präsentiert werden.
Der Film erzählt (auch wenn er wenig sagt und sagen lässt, er lässt eher Körper und Stimmen durch die Bilder fließen) von Juliette und Raphaël, Tochter und Vater in einem französischen Dorf am Meer. Wie all diese zerbrechlichen, zärtlichen Männer bei Marcello, zu nennen wären insbesondere Vincenzo Motta und Martin Eden, ist Raphaël ein auf den ersten Blick grobschlächtiger, seine Gefühle tief in sich vergrabener Mann. Seine unablässig in Nahaufnahme gefilmten Fleischhände aber produzieren die feinsten, schönsten Holzarbeiten, seine Liebe für die verstorbene Frau und Juliette ist kolossal. Juliette dagegen wächst heran zur bewundernswert Ausgestoßenen, zur Hexe vom Bauernhof, die vom Dorf gleichermaßen verabscheut und begehrt wird. Eine alte Waldfrau, die an manche Figur Olga Tokarczuks erinnert, sagt ihr, dass sie eines Tages Purpursegel am Himmel sehen wird. Der Realismus ist magisch. Dass dann ausgerechnet Louis Garrel mit einem Flugzeug und der diese Welt aus Holz und Kerzenlicht durchkreuzenden Moderne am Himmel auftaucht, könnte man fast ambivalent begreifen, er sieht nicht aus wie einer, in den man sich verlieben sollte. Die Wahrheit ist, dass Juliette diese Segel unablässig sieht, ein einziges blassblau-hellrotes Schimmern betört ihre hoffnungsvollen Blicke, die sich stets auf etwas richten, das über allem schwebt. Man braucht es nicht zu benennen, alle die jung waren und alle, die wieder jung sein wollen, kennen dieses unbenannte Etwas, das zu Abenteuern anstiftet und Menschen verschwinden lässt. Manche haben den Film als Meta-Märchen bezeichnet. Diese Menschen haben entweder noch nie ein Märchen gelesen oder den Film ganz und gar nicht verstanden. L’Envol ist einfach nur ein Märchen, es erzählt von einer Welt, die es gibt und die durch ihre Erhöhung zu etwas wird, aus dem man lernen kann. Für den Anfang könnte man damit beginnen, zu lernen, wie man fühlt.
Warum aber diese Worte zu diesem Film, mag man fragen. Es ist gar nicht so leicht, L’Envol ist nicht der beste Film Marcellos und sicherlich kann man dem Film einen gewissen Fetisch mit dem 16mm-Filmmaterial und der mit Musicalelementen angereicherten Märchenmotivik ankreiden. Er behauptet den filmischen Zauber so sehr, dass er droht, ihn zu verlieren. Heute ist allerdings das, was man noch vor kurzem als Schwärmereien und weltflüchtige Phantasien abgekanzelt hätte, der eigentliche Widerstand. Er richtet sich gegen den Fatalismus und Zynismus einer Zeit, die sich keine Liebesgeschichte mehr vorstellen kann, die im Bild einer im Wind welkenden Blume nur Metaphern entdecken kann und keine Schönheit.
In einem Sommer, in dem das Kino von großen, belanglosen Produktionen nur so überflutet scheint, ist das der Film für diese Zeit. Sein ausgestellter Anachronismus ist nur Vorwand. Wenn das Kino existiert, um die Leerstellen des Alltags zu füllen, ist L’Envol der einzige Film diesen Sommer, nach dessen Sichtung man ein besserer Mensch, ein besserer Träumer wird.