Taubenblicke IV

Erster Blick des Tages: Kein Taubenblick, sondern ein Taubenfleck; die Vogelscheiße auf dem Fensterbrett

Die Krähe unter dem Schnurbaum im Regen stehend, als ginge sie das alles nichts an.

Das junge Mädchen unten im Park, das mit ihrem Hund spazieren geht, sagt in ihr Handy: „Halt deine verfickte blöde Schnauze“, und der Hund neben ihr schaut verlegen zur Seite.

Der Alkoholiker im Rollstuhl blickt auf die am Boden liegenden Sonnenblumenkerne, als schaue er in den Spiegel.

Die Menschen betreten den Supermarkt, als ob sie ihre Wohnungen betreten würden.

Der linkshändige junge Mann auf der Bank, seine zitternde zeichnende Hand

Die vielen Zigarettenstummel auf dem Boden, eine nicht zu entziffernde Sprache

Verwechslung: das Hin- und Herrollen einer Blechdose mit einem letzten Atemzug

Vom offenen Fenster hören: „Polizei! Stehenbleiben! Ich schieße!“ und draußen ist nur ein allein im Sandkasten spielendes Kind.

Abend im Park während des Ramadans, das einzige Geräusch: das Geklirr von Blechbesteck in der Souterrain-Moschee.

Letzter Blick des Tages: Der alte Asiate unten im Park beim Hunde-Spazieren, der „Rollin‘ on the River“ von Creedence Clearwater Revival vor sich hinsingt, und der Hund neben ihm schaut ihn liebevoll an.

Notiz zu Te von Szabó István

Te von Szabó István aus dem Jahr 1963 ist der Film, den Jean-Luc Godard im selben Jahrzehnt trotz zahlreicher ordentlicher Versuche nie hinbekommen hat. Die Rede ist von einem Film als verspielten Liebesbrief, als Flirt, als Dialog zwischen der geliebten Frau und der Kamera. Godard übersah, dass auch ein noch so lässiger Schnitt nicht an die Wirkung fließend ineinander übergehender Einstellungen heranreicht. Szabó dagegen erreicht einen wahrhaftigen Schwindel, den man unter Verliebten kennt, wenn man unablässig den Augen einer Person folgt, sodass alles verschwimmt und ein Raum in den anderen tritt, ohne dass man noch wüsste, wo eine Schwelle überquert worden wäre. Godard war außerdem so sehr in das Kino verliebt, dass er seine Bilder, die Liebe zeigen sollten, als filmisches Zitat verstand, ein bisschen so, als würde man einen Liebesbrief mit den Worten anderer schreiben. Ich filme dich wie Dreyer, das ist meine höchste Form der Hingabe und so weiter. Szabó dagegen ist durchaus auch in das Kino verliebt, spielt mit der Form, aber nur, um durch sie etwas sichtbar zu machen, was dem hypersensitiven Rausch des Verliebtseins sonst entrinnt, nämlich die tänzerische Eleganz im Unbedarften, die sich manifestierende Verletzlichkeit in der Hingabe und die spielerische Flüchtigkeit dieser Augenblicke, die nur scheinbar die Welt bedeuten. Im Gegensatz zu Godard war er nicht daran interessiert, ein ewiges Bild seiner Liebe auf Film zu bannen, sondern vielmehr, es von den Rahmungen des Filmstreifens zu befreien, es aufzulösen in einer sich um sich selbst drehenden Kontinuität. Diese Liebe drückt sich bei Szabó als Schwingung aus, bei Godard als Stasis. Deshalb dient die geliebte Anna Karina bei Godard auch dem Blick des Filmemachers, während Szabó den Bewegungen seiner damaligen Partnerin Esztergályos Cecília folgt. Ich muss nicht weiter betonen, dass die stupide, unter Kinoliebenden weit verbreitete Hinwendung an westliche Bildikonen dennoch Anna Karina bevorzugt, wenn es um eine Definition von Liebe und Kino geht. Man darf es den heimlich schmachtenden Intellektuellen nicht übel nehmen, schließlich können sie in den Bildern Godards dann ihr ganz eigenes Zitat entdecken und ja, auch das ist das Kino, ein sich bis in die Wirklichkeit aufeinander aufbauendes Konstrukt von Bildern, die nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben. Godard hat das verstanden wie kaum ein Zweiter, Szabó aber hat es besser verstanden, mit der Kamera zu lieben.

Schneegestöber und Durchlichtbilder: All the Beauty and the Bloodshed von Laura Poitras

In der ersten Einstellung schneit es. Man sieht ein Gebäude von außen, ein Straßenlicht leuchtet, es leuchtet das Schneegestöber an. Kleine Flocken fliegen hernieder, während sie ihre kaum sichtbaren Schatten auf die Schneedecke werfen. Jede Flocke ist einzigartig. Das hatte ich als Kind gelernt und dabei vergeblich versucht, ihre Form mit bloßem Auge zu entziffern. Bevor ich eine einzelne Flocke aus dem Gewimmel isolieren konnte, schmolzen sie alle in meiner Hand zusammen zu einem kleinen Tropfen.

Es schneit weiter und nun sieht man in das Innere des Gebäudes. Nan Goldin sitzt in einem abgedunkelten Raum. Der Lichtstrahl eines Diaprojektors leuchtet, das Rauchgeschwader ihrer Zigarette füllt den Raum. Cembalomusik erklingt. Der Klang des Cembalos wird durch ein Zupfen erzeugt, das Ende einer Feder – dasselbe Ende, das man zum Schreiben in Tinte taucht – reißt die Saite mit sich. Ein kleiner Tupfer erklingt. Mein Klavierlehrer erklärte mir, dass es deshalb in den Stücken für Cembalos viele Verzierungen gibt. Ein Tontupfer hält nicht lang. Indem man schnell zwei Halbtöne abwechselnd erklingen lässt, erzeugt man die Illusion eines langen Tones.

Die spitzen und fragilen Töne vermischen sich mit dem rhythmisch-mechanischen Klicken des Projektors. Es ist ein mir fremdes Geräusch. Ich war nie mit dem endlosen Kreisen einer solchen Apparatur vertraut. Es hat etwas Unaufhaltsames, die Maschine, die einem gerade genug Zeit gibt, sich zu erinnern. Es ist ein Mittel konstanter Überforderung und Konfrontation. Vielleicht ist es daher das richtige Mittel, sich mit vergangenen Geschichten zu beschäftigen. Laura Poitras erzählt den Film in Dias, in Kapiteln, in Fotosammlungen. Das Licht erleuchtet die Durchlichtbilder, eines nach dem anderen, und eine Ruhe legt sich über mich, wie eine Schneedecke. Man legt sich in die Dunkelheit und schaut.

Goldin beginnt mit ihrer Kindheit. Sie erzählt von ihrer Schwester, ihrer Rebellion und ihrem tragischen Schicksal, worüber ihre Eltern schweigen. Sie selbst sei lange Zeit verstumm. Es macht Sinn, alles um einen scheint sich zu drehen, man bleibt ruhig und sieht dabei zu. Eine geliebte Person verschwindet spurlos aus dem Leben und alle schauen weg, als ob nichts passiert wäre. Ist es die Trauer, die einen dann wortlos überfällt? Ist es die Taubheit in den Fingerspitzen, die Taubheit in einem, die bewirkt, dass man versucht, die eigene Wahrnehmung festzuhalten? Die Fingerspitzen, die den Weg zum Auslöser finden und abdrücken. Erst mit ihrem neuen Namen, der ihr von ihrem Freund gegeben wird – Nan –, scheint sie diejenige zu sein, die ihr Karussell selbst antreibt. Sie entflieht dem Vorort, lebt mit ihren Freunden in New York, lebt mit Künstler*innen zusammen. Sie drehen Filme, machen Kunst und Fotos, veranstalten Parties, um ihre Arbeiten zu zeigen. Einmal verdient sie ihr Geld mit einer Buttonmaschine. Aus Fotos werden Buttons, die sie auf der Straße verkauft. Sie verwandeln sich zum Gegenstand, zu Sammlungen, zu tragbaren Erinnerungen. Kleines Kreise, die den Moment festhalten. Ihre Erinnerungen spritzen mit Lust, stechen mir mit ihren farbenvollen Bildern direkt ins Herz.

Zwischen den Dias sind Bilder der Gegenwart geschaltet. Die aktivistische Gruppe um Nan Goldin, die sich gegen die Sacklers und ihren Einfluss einsetzt und sie zur Rechenschaft für ihre Verbrechen zieht, wirft Flyer, klebt blutiges Falschgeld auf ihre Leiber, wirft leere Medikamentendosen ins die Kunsthallen. Mit dem Geld, das die Sacklers mit Oxycodon verdienen, mit der Sucht der Menschen, die diese Droge auslöst, benennen sie die Flügel und Hallen der Museen und Universitäten. Im Film fällt ein Ausdruck – »Blizzard of Prescription«. Ein schreckliches Bild, überall ein Film von hartnäckigem Papier, das sich auf die Menschen niederlegt. Mit ihren Aktionen machen sie das Bild konkret, man sieht wie sich die Zerstörungskraft der Droge manifestiert.

Der Film zeigt die Geschichte Goldins Lebens, ihrer Kunst und ihres Aktivismus. Der Tod und die Gewalt sind verwoben mit ihrer Geschichte. Sei es ihre Kindheit in den 1950ern in den Vororten, die Erinnerungen an ihre Schwester oder die an ihre Freunde und Wahlfamilie in New York während der AIDS Epidemie. Oder ihre eigene Sucht. Eine Sucht die in Berlin beginnt, nachdem sie von ihrem Freund geschlagen wird, dabei beinahe erblindet. Man gibt ihr die Pillen, die sie abhängig macht. Berlin, Blind, The Ballad of Sexual Dependency. Eine Ballade, die beißt, die blutet, die zerrt, die zerrüttet. Ballad, Battered, Body. Im Film treffen fragile Momente zusammen mit der Gewalt des US-amerikanischen Gesundheitssystems und einer Gesellschaft, die Probleme nicht anspricht, sondern betroffene Menschen noch weiter marginalisiert und zum Schweigen bringt. Zum Schluss wendet sich der Film nochmal Goldins Schwester zu, den Akten, die während ihres Klinikaufenthaltes über sie verfasst wurden. Goldin findet ihre Worte: All the Beauty and the Bloodshed – die beiden Extreme, das unerträgliche Gefühl, das Goldins Schwester beschreibt. Die Fragmente von ihr finden zu uns.

Von einer Frau, die stirbt und sich nicht mehr an den letzten Film erinnert, den sie gesehen hat

Eine, die stirbt und sich nicht mehr an den letzten Film erinnert, den sie gesehen hat, ist eine ganz gewöhnliche Frau. Sie hatte das Kino und die Filme immer gemocht, zumindest hatte sie das gesagt und es gab keinen Anlass, ihr nicht zu glauben.

Ich denke, dass man Menschen generell glaubt, wenn sie sagen, dass sie das Kino mögen oder nicht mögen. Das ist nichts, worüber man lügt. Das Kino lügt, aber man selbst lügt nicht gegenüber dem Kino. Höchstens gegenüber einzelnen Filmen, die man so sehr lieben möchte, dass man sich belügt, wenn sie einen nicht erreichen. Und andersherum, wenn man zu Tränen gerührt wird und sich dafür hasst.

Diese Frau mochte das Kino. Sie sagte, dass sie vier oder fünf Filme jede Woche sehe, manche Zuhause, manche im Kino. Sie wäre meist allein gegangen, weil es dann schöner wäre, wieder nach Hause zu gehen. Allein mit dem Film und nicht mit den Gedanken, den Worten der Anderen.

Sie ist auch allein gegangen, weil da keiner war, der mit ihr gegangen wäre. Vielleicht wäre sie, hätte es diesen Menschen in ihrem Leben gegeben, gar nicht ins Kino gegangen. Aber das kann man nicht mit Gewissheit sagen. Manche gehen ins Kino und manche gehen nicht. Das war immer so.

Alle aber vergessen den allerletzten Film, den sie gesehen haben.

Der letzte Film, den diese Frau gesehen hat, war entweder gut oder schlecht für sie. Er hat sie zum Lachen gebracht oder zum Weinen oder er hat sie gar nicht berührt. Wahrscheinlich muss man festhalten, dass es keine Rolle spielt.

An ihren ersten Film hat sie sich noch erinnert. Sie hat gelächelt, als ich sie gefragt habe. Ihre müden Pupillen haben sich geweitet. Vielleicht war es auch nur dieser verheißungsvolle Klang: Der erste Film. Als könnte alles noch einmal beginnen, als gäbe es nur diesen einen Film, der einem zeigt, was ein Film, was das Kino ist.

Ich glaube nicht, dass dem so ist. Es wäre aber schön.

Der letzte Film ist ein zufälliger Film, es sei denn man weiß, dass man gleich danach stirbt. Aber wenn diese Frau gewusst hätte, dass sie gleich stirbt, dann hätte sie sich keinen Film angesehen. Wenn wir sterben, haben wir Besseres zu tun, als einen Film zu sehen.

Ich denke, dass diese Frau Filme gesehen hat, um ihr Leben zu verlängern. So lange sie noch Filme ansehen konnte, egal ob im Kino oder Zuhause, hat sie noch gelebt. Sie hat in der Zeitung nachgesehen, welche Filme laufen und dann hat sie sich entschieden, ob sie ins Kino geht oder Zuhause bleibt. Das hat sie vierzig Jahre so gemacht.

Sie hatte eine Rentnerinnenkarte und an der Kasse kannte man sie bereits. Das hat ihr gefallen. Es hat ihr gefallen, dass sie einen Ort hatte, an dem man sie kannte. Sie hat sich auch angezogen und parfümiert, auch das hat ihr Leben verlängert.

Auch Zuhause hat sie sich manchmal etwas Schönes angezogen, wenn sie einen Film gesehen hat. Sie konnte gar nicht sagen weshalb, aber das musste sie auch nicht. Sie hatte auch etwas Schönes an, als ich bei ihr saß einige Tage bevor sie starb.

Ich habe diese Frau gar nicht gut gekannt, aber ich war mit ihr in ihrem letzten Film. Das muss doch etwas bedeuten, habe ich mir gedacht. Wahrscheinlich bedeutet es nur mir etwas. Den letzten Film mit wem geteilt zu haben. So wie die letzte Zigarette, den letzten Blick ins Blau des Himmels.

Ich bilde mir ein, dass ich ein wenig durch ihre Augen sehen durfte, sehen durfte, was es bedeutet, zum letzten Mal ein Bild zu sehen. Sie sagte mir, dass das keine Rolle spiele.

Es sei nur ein Film. Nur ein Film, den man auch sehen wird können, wenn sie nicht mehr da wäre.

Ich frage mich, wie es wäre, wenn man wüsste, dass der Film, den man sieht, der Letzte wäre. Würde das keine Rolle spielen? Ich denke, dass einem das Kino dann ganz sinnlos vorkäme. Wie ein Zeitverlust. Eine Zeit, die dem noch verbleibenden Leben abgezogen würde.

Ich glaube, dass man Filme sieht, weil man glaubt, dass man noch lange lebt. Man schaut einen Film, weil man noch glaubt, darin etwas sehen zu können.

Aber ich kann das gar nicht sagen. Ich müsste diesen Text schreiben, nachdem ich diesen letzten Film gesehen habe.

Alles, was ich tun konnte, war die Frau zu fragen. Aber sie wollte nicht über den Film sprechen. Sie wollte gar nicht mehr sprechen. Und ich kannte sie auch nicht gut genug, um ihr Schweigen zu deuten. Ich denke, dass sie eine gewöhnliche Frau war. Sie ging gern ins Kino und dort ist sie gestorben. Das hat auch etwas Schönes, auch wenn es wahrscheinlich nicht wichtig ist. Manche Menschen sterben an Orten, die sie mögen. Andere sterben irgendwo.

Wenn ich so darüber nachdenke, ist es auch seltsam, dass ich diese sterbende Frau fragte, ob sie sich an den Film erinnern könne. Ich habe das nur getan, weil der Notarzt immer wieder gefragt hat, was das Letzte sei, an das sie sich erinnern würde. Sie sagte nur, dass sie sich an nichts erinnern würde und das gut so sei. Es sei gut so wie es ist.

Also habe ich ihr den Film nacherzählt einige Tage später, als ich bei ihr am Bett saß. Ich weiß nicht, ob ich mir erhofft habe, dass sie sich dann erinnern würde. Irgendwie wollte ich auch, dass ihre letzten Stunden etwas bedeuteten. Aber sie war ja nur im Kino, da war nichts, was wirklich etwas bedeutet, wenn man auf ein Leben zurückschaut. Nur ein paar Bilder und Töne, vielleicht einige Gefühle, die es anderswo auch ohne Eintritt gegeben hätte.

Es spiele keine Rolle, sagte sie mir. Ein Film oder ein anderer. Der erste Film, an den könne sie sich erinnern.

Eine Menschengruppe versammelte sich um uns. Ich weiß gar nicht, woher die alle kamen, den Film hatten sie nicht gesehen. Diese gewöhnliche Frau wurde weggetragen und ich blieb zurück mit den Erinnerungen an ihren letzten Film. Es war ein guter Film. Wie das klingt. Als würde es etwas bedeuten, ob ein Film gut oder schlecht ist.

Es war ein Film und es war im Kino. Immerhin das. Ich weiß jetzt, dass es mir egal sein wird, was der letzte Film sein wird, den ich sehen werde. Ich werde da nicht anders sein als diese Frau.

Ich sollte wahrscheinlich schreiben, dass das etwas Tröstliches hat. Aber dann würde ich lügen, auch gegenüber dem Kino lügen. Also schreibe ich, dass es halt so ist. Man sieht einen Film und dann sieht man keinen Film mehr und dann sehen die anderen weitere Filme oder sie sehen auch keine Filme mehr. Solange irgendwer irgendwo einen letzten Film sieht, wird es auch das Kino noch geben.

Und mit dem Kino wird es auch irgendwen geben, der irgendwo einen ersten Film sieht.

Nahe Ferne: Mythos und Mystik im Kino bei Music von Angela Schanelec

Auftreten: Manchmal geht man ins Kino und denkt sich nicht viel dabei. Ein andermal vielleicht, weil man gerade sehr viel nachdenkt und vergessen will. Oder aber auch, weil man nicht weiterkommt und dringend eine Antwort benötigt. Wahrscheinlich kann ein Film all das hergeben, aber am Ende auch nur unter der Bedingung, das Gezeigte wieder zurückzunehmen und vergessen zu lassen. Demgegenüber haben womöglich Angela Schanelecs Filme deshalb eine so unwirkliche Bedeutung, weil sie die Sehnsucht, die das Kino verspricht einzulösen, auf Distanz halten. Nicht weil Bilder oder Worte im Kino automatisch darauf hindrängen würden, leicht verträgliche Antworten nach den Bedürfnissen des Publikums zu vergeben, sondern eher, weil die Menschen, für die sich Schanelec interessiert, zwischen Hoffnungsschimmer und Schicksalsergebenheit zerrissen sind. So bewegen sich ihre Figuren durch urbane und rurale Landschaften, als zöge sie etwas Unbestimmtes an. Kaum setzen sie einen Fuß auf den Boden, erfahren sie durch ihr Eigengewicht von der Schwerkraft ihres Tuns. Willkür oder Wahlfreiheit scheinen kaum zu existieren, stattdessen überwiegen Stetigkeit und Komplexität. Bei Schanelecs Filmen handelt es sich um konsequente Filme im doppelten Sinne. Tugendhaft bescheiden sie sich auf wenige filmische Mittel, doch anstatt zu verstummen, dringt eine Stimme hervor, die tonangebend nach dem »Weil« in der Welt mit dem Blick des Kinos fragt.

Setzen: Schanelecs Film Music führt diesen eingeschlagenen Weg weiter und verengt ihn durch außergewöhnliche Präzision. Der Film beginnt mit einer Gewitterwolke, die grollend über einen Bergrücken zieht. Wenig später wird ein Kind gefunden. Als wäre nur ein Augenblick vergangen, folgt der Film dem erwachsen gewordenen Waisenkind Jon. Ein Unfall, ein Selbstmord und ein erneuter Unfall reihen sich aneinander, dazwischen zärtliche Blicke im Gefängnis. Während Jon seine Strafe für das Unglück absitzt, lernt er die Aufseherin Iro kennen. Sie kommen sich näher. Doch Iro wird herausfinden, dass sie sich schon vor ihrer Liebe zueinander nah standen. Nachdem sich Iro dessen klar wird und sich ihr Leben nimmt, findet sich der Film in Berlin wieder. Zwar müssen Jahre vergangen sein, aber die Vergangenheit scheint immer noch an Jon zu haften. Das Geschehen des Films löst sich in einzelnen, kraftvollen, monolithischen Bildern auf. Meistens sind es Hände oder Füße, die vom Blick der Kamera umschlossen, nicht nur dem Eigensinn des Films folgen, sondern auf etwas darüber hinaus liegendes verweisen. Fugenhaft zersprengt fügen sie sich aber trotzdem frei von effekthaschendem Erzählen zu einem Ganzen zusammen. Nimmt man beim Sehen die Perspektive ein, gleichzeitig nach vorn und zurückblicken zu können, ließe sich erkennen, wie jedes Bild aus dem anderen hervorgeht. Wie vom fließenden Wasser getragen, führt ein Bild des wunden Kinderfußes, zum wunden Fuß des erwachsenen Jon am Meer, hin zum wunden Fuß in der Gefängnisdusche. Schanelec entwirft so eine großangelegte Bewegung, die detailversessen in jedem Blick die Richtung aufsucht, ausweist und jener unhintergehbar folgt.

Binden: Mit dem Gewitter, den Unfällen und dem Aufeinandertreffen zweier Menschen, die sich nicht kennen, obwohl sie einander nicht fremd sind, geht Music vom Zufall aus. Doch anstatt sich über das Eintreten der unerwarteten Möglichkeit zu wundern, erkennt der Film die Ereignisse nur nüchtern an. Vielleicht macht sich der Film gerade dadurch die Unabwendbarkeit des Geschehens stoisch bewusst. Dass sich Schanelec am Ödipus-Mythos bedient, indem sie unverkennbare Motive und Figuren in ätiologischer Weise, aufgreift, wie etwa Jons wunden Fuß, macht den Film aufschlussreich, aber nicht unbedingt einleuchtend. Insofern muss der Film vielleicht eher als eine Meditation verstanden werden, deren Inhalt sich nicht nur auf antike, sondern ebenso christlich-abendländische Mystik bezieht. Beides verbindet sich in der Suche nach dem Auskommen mit einer zugeführten Wunde. Sie lässt sich verbinden, doch ihre Ursache kann dadurch nicht verschwinden. Was Schein und was wirklich ist, gerät allerdings zunehmend durcheinander. So sitzt Jon auf einer Berliner Polizeiwache, als er plötzlich blitzartig von einer Erkenntnis getroffen wird. Worauf seine Eingebung zielt, lässt sich nicht versprachlichen. Ob es sich um einer Vision oder eine Einsicht handelt, wird der Film nicht beantworten, weil es das Kino nicht beantworten kann. Schanelecs Kino eröffnet hierbei konzentriert den unverstellten Blick auf die eigenen Wunden, die sich einerseits unmittelbar auf der Haut, und andererseits weit in der Vergangenheit befinden. Dass sich die Ursache der Wunden nicht restlos verstehen lässt, muss erst zur Bedingung werden, um mit ihnen leben zu können.

Sehen: Eine Sache lange zu betrachten, hat seine Tücken, denn irgendwann bildet man sich ein, die Dinge könnten zu einem sprechen. Oftmals verharren Schanelecs Einstellungen so, als würde ein Gedanke stehen bleiben, so wie man selbst manchmal mit starrem Blick innehält. Folgt man Ödipus ins Kino, müsste man jedoch mit dem zwanghaften Versuch, klarer sehen zu wollen, paradoxerweise erblinden. Das Kino kann aber nicht blind machen. Vielmehr verspricht es, sogar dann etwas sehen zu können, wenn es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt. Wie in Schanelecs Bildern stellt sich so eine Aporie ein: Nach einem Bild zu suchen, das nichts zeigt, klingt absurd, und trotzdem ist diese Suche nicht zwecklos – Wenn wir die Augen verschließen, verdrehen oder uns abwenden. In diesem Fall sind es Momente, in denen die persönliche Verbindung zum Kino klarer wird. – Wenn wir etwas gesehen haben, was uns gefiel oder verärgerte, das aber niemand sonst bemerkte. Beim Kino handelt es sich zwar um einen Raum, der Platz für eigene Gedanken bietet, sie lassen sich aber dort nicht aufbewahren. So wie man seinen eigenen Kopf mitbringt, muss man auch denselben wieder mit nach Hause nehmen. In dieser Hinsicht mag die Vorstellung, vom Kino erleuchtet zu werden, indem man nur noch ganz Auge ist und seinen Kopf verliert, erleichternd und befreiend sein. Aber die Geschichte der Mystik lehrt, dass sich dieses Ziel allein mit größter Entsagung verwirklicht. Diese Absicht ließe sich Music vielleicht unterstellen. Der Mythos spricht dafür ebenso wie die Armut an Ornament. Doch dem Film schwebt dabei nichts unmittelbar Kosmisches oder Schicksalhaftes vor, denn genauso wenig, wie sich etwas aus dem Nichts für Jon ergab, führte er eine Änderung herbei. Der Film versucht vielmehr den Blick auf das »Weil« – die Verkettung des Geschehens – einzuüben, ohne gegen seinen Widerstand – die Willkür – anzuarbeiten. So verhält sich gerade die Musik im Film weder als klanglicher Teppich noch als Kontrapunkt. Vielmehr verleiht sie dem wortkargen Film seine Stimme, sie stößt ihn an. Vielleicht gibt sie ihm sogar sein Licht. Und wahrscheinlich wird erst mit dem Verklingen des letzten Bildes wirklich begreifbar, was die ganze Zeit zwar sichtbar war, aber sich nicht sehen ließ. Es gibt eine spürbare Parallele zwischen Film und Musik, in der Weise wie am Ende die Kamera in einer langen Parallelbewegung den singenden und tanzenden Menschen auf der anderen Seite des Flusses folgt.

Man könnte denken und hoffen, der Film würde eine greifbare Antwort bereithalten, worin diese Parallelität besteht. Dabei müsste man sie sich aber vielleicht gerade in der Uneindeutigkeit und Unschärfe einer nahen Ferne vorstellen: Was Parallelität bedeutet, lässt sich zwar einfach erklären, aber dass sich zwei Sachen wirklich nie treffen werden, weil sie immer gleich nah und fern sind, traut man sich nicht vorstellen. Gleichsam ermüdend ist es, immer nur zu benennen, was unsichtbar oder unerklärlich – kurz: abwesend – blieb. Film und Musik können helfen, sich daran anzunähern, aber auch nichts ungeschehen machen. Das wäre Hybris.

Begegnung vor einer öffentlichen Toilette: Napló gyermekeimnek von Márta Mészáros


Napló gyermekeimnek (Tagebuch meiner Kindheit) von Márta Mészáros: So heißt der erste Teil einer autobiografisch geprägten Trilogie der ungarischen Regisseurin, 1984 mit dem großen Preis der Jury in Cannes ausgezeichnet. Wenig mehr Informationen lassen sich den meisten im Internet kursierenden Kurztexten entnehmen. Na gut, ein wenig zum Inhalt finden wir dort auch: Es geht um die Waise Juli, die Ende der 1940er Jahre aus dem Exil ihrer verstorbenen Eltern in der Sowjetunion in die Heimat Ungarn, nach Budapest, zurückkehrt. Als Kind lässt sich die jugendliche Protagonistin aber kaum mehr bezeichnen, schließlich strebt sie entschlossen nach Unabhängigkeit von der parteitreuen Adoptivmutter. 

Ins Englische übersetzt trägt der Film den Titel Diary for My Children – was die Betonung auf das Nachleben der geschriebenen Erinnerung für die nächste Generation setzt. Das Erinnern und Verdrängen, das Reden und Schweigen einer älteren Generation gegenüber einer jüngeren setzt Mészáros immer wieder in Szene. Die Nachkriegsjugend stellt Fragen, trifft aber auf eine Mauer des Schweigens. Nur der gelegentlich von traumatischen Erinnerungen ereilte Großvater berichtet von erlebten Kampfhandlungen und von seinem Todesurteil als Revolutionär im Jahr 1919. Indem Juli ihn unterbricht, um seine Geschichte fortzusetzen, verlieren seine Worte an Sprengkraft: die Familie weiß über diese Zeit Bescheid, kennt die Erlebnisse in und auswendig. Ist sein Wiederholen der Versuch, sich seiner Existenz zu versichern? Oder versucht er die eigene Vergangenheit in ein anderes Licht zu stellen und seine Glaubwürdigkeit durch Wiederholungen zu stärken? Was zwischen 1919 und dem Ende der 1940er in Budapest geschah, bleibt für Juli, die unter dem Verlust ihrer Eltern leidet, im Dunkeln, nebulös. Die politische Einstellung der Adoptivmutter Magda und deren strenges Regiment sorgen für Distanz – auch die geschenkten Schuhe aus den USA können das Verhältnis zwischen Juli und Magda nicht mehr stärken. Juli flüchtet sich aus der Schule ins Kino – ein Dorn im Auge der Adoptivmutter. Als sie erfährt, dass Juli mit einem Jungen ausgeht, interveniert sie allerdings nicht. 

An dieser Stelle drücke ich geistig auf Pause. Während des ersten Rendezvous ereignet sich eine Szene, die mich nach dem Streamen noch länger beschäftigt und von der ich zögere zu erzählen, weil sie so banal erscheint im Angesicht der von politischen Haltungen durchwobenen, geschichtsträchtigen Handlung. Andererseits entfalten die auf den ersten Blick trivialen, profanen Momente oft gerade als fast unauffällige Abweichungen von den großen, bedeutungsschwangeren Zusammenhängen ihre Wirkung. Juli und ihr Freund flanieren abends Hand in Hand durch die Straßen, als sie verlautbart, sie müsse dringend auf die Toilette und schaffe es nicht bis nachhause. Gleich vor ihnen befindet sich ein öffentliches Toilettenhäuschen, doch haben beide nicht das nötige Kleingeld für eine Benutzung. Er weiß zu improvisieren und holt ein Ziertaschentuch hervor, mit dem es Juli bei der Toilettenfrau versuchen solle. Gesagt getan: Schnitt, eine Totale: Juli läuft zu jener Frau hin, die, wir sehen es zunächst nur aus der Ferne, auf einem Hocker sitzend den Eingang bewacht. Die Teenagerin reicht ihr, während sie zögerlich in die Knie geht, das Tuch. Es folgt ein Close-Up der älteren, vom Leben gezeichneten Frau. Wir beobachten ihren kritischen Blick und es entsteht ein kurzer Moment der Spannung. Als sie den Kopf hebt, um Juli in die Augen zu sehen, kündigt sich noch immer kein Anflug eines Lächelns an, ihre Züge verharren in einem ernsten Ausdruck. Das nächste Close-Up zeigt die zittrigen Hände der älteren Frau, mit denen sie das Tuch im Schoß hält und befühlt. Kein Gegenschuss. Es folgt auf den nächsten Schnitt wieder eine Totale: Juli verlässt dankend das Toilettenhaus. 

Wie passt diese Szene in den Film? Verbildlicht sie eine persönliche Erinnerung von Mészáros? Selten, wage ich zu behaupten, denken wir an Harndrang-Momente zurück, es sei denn die Situation fühlte sich bereits sehr grenzwertig und schmerzvoll oder peinlich an. Juli wirkte aber nicht sehr gequält und ihr Ausflug schnell abgehandelt. Die Szene könnte auch als Kritik am Umgang mit dem öffentlichen Raum und dem Zugang zu sanitären Anlangen verstanden werden. Der Toilettengang ohne finanzielle Mittel und besonders für Frauen wird durch diese Szene als kapitalisiertes Ereignis in einem sozialistisch regierten Land erfahrbar. Andererseits hält auch eine Person Einzug in die Erzählung, die zwar eine Randfigur bleibt, dennoch nicht gänzlich außen vor gelassen wird: die für die Reinigung der Toilette zuständige Frau. Seit wann gibt es diese Beschäftigung und welche Geschichte trägt sie eigentlich in sich? 

Die Geschichte der öffentlichen Toiletten zählt schon über 5000 Jahre, verrät mir eine kurze Recherche.  Wer die Kultur des Klos zuerst erfand, darüber existiert natürlich eine Debatte – ob sie ähnlich hitzig geführt wird, wie jene über den Ursprung so mancher kulinarischer Köstlichkeiten? Einig sind Historiker*innen sich jedenfalls, dass das düstere Mittelalter auch ein dunkles Kapitel für Hygiene und WC-Anlagen bedeutete. Erst mit der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts sollte die Öffentliche-Toiletten-Bewegung bedeutsam werden: ein regelrechter Boom ereilte die Metropolen Berlin, London und Paris. In Wien sorgte ein Berliner Kaufmann 1883 für die Errichtung der ersten öffentlichen Bedürfnisanstalt in der Invalidenstraße. Dass es Personen brauchte, die diese reinigen, erscheint nur logisch, dass dafür meist Frauen eingesetzt wurden, überrascht als gesellschaftlich geprägtes Ungleichgewicht auch kaum. Nachdem Toiletten in Privatwohnungen ihren Siegeszug feierten, nahm ihre Frequenz im öffentlichen Raum zeitgleich ab. Und heute? In Budapest, lese ich auf der Homepage des International Office der Stadt Wien, hatten erst im Jahr 2016 Demonstrierende vor dem Parlament mehr öffentliche Toiletten eingefordert. Die Stadt wisse selbst nicht, wie viele Toiletten es gäbe, hieß es in einer ersten Reaktion, da die meisten von Privatunternehmen verwaltet würden. Man hat nicht nur in Budapest die Wahl: Zahlen um aufs Klo zu gehen oder die viel höhere Strafe zahlen, wenn man’s nicht bis zum stillen Ort schafft. Heute funktionieren die meisten WC-Anlangen schon über automatisierte Schranken: Münzeinwurf oder Kreditkarte werden als Zahlungsmittel akzeptiert – der Handel mit einem Ziertaschentuch erweist sich von vornherein als ausgeschlossen. Die Toiletten reinigenden Personen verlieren ebenso ihre Sichtbarkeit, die Transaktion wird mechanisch. Eine Szene wie in Napló gyermekeimnek könnte sich in der Form also gar nicht mehr abspielen. Mit dieser Überlegung hat der Moment zwischen Juli und der älteren Frau als Relikt einer vergangenen Zeit doch noch einen Sinn für mich gefunden. In meiner Erinnerung formt sich das Close-Up auf die Frau vor der Toilette nun in ein rührseliges Bild eines Augenblicks von zwischenmenschlichen Kontakt – eines Kontaktes, den die Invasion von Automatisierungen und Maschinen seit geraumer Zeit immer mehr verdrängt. Auf einmal wirkt die Szene gar nicht mehr so banal.

Der Film ist bis 31.08.2023 in der Mediathek von arte zu sichten:

https://www.arte.tv/de/videos/107476-000-A/tagebuch-meiner-kindheit/