Les statues meurent aussi: Bullfighter and the Lady von Budd Boetticher

Wer melancholisch dreinschauend und mit Zigarre im vernarbten Mundwinkel, geschmückt in golden flimmernden Kleidern, einige tödliche Pirouetten dreht, um sich dann geradezu lasziv und triumphal vor einem verwirrten, tragisch dem Tod geweihten Stier hinzuknien im staubigen Sand einer entzückten Arena, der ist nicht nur Musterexemplar, der an Abartigkeiten so reichen Menschenrasse, sondern auch genau richtig in Budd Boettichers als autobiografische Fiktion verkleidetem Dokument über die Würde des Machismos. Diese Würde, so zeigt der Filmemacher, ist eine Sache der männlichen Statuenwerdung. Vor der Arena nämlich thronen neben Werbeplakaten für mexikanisches Bier die überlebensgroßen Marmorabbildungen von Toreros, die wortwörtlich die Stiere an den Hörnern packen. Und später, wenn Boetticher mit Hilfe des im mexikanischen Klima heimischen Kameramannes Jack Draper (Jahre danach sollte Orson Welles diesen aufsuchen, um an Don Quixote zu scheitern) ein Feuerwerk an gegen die spärlichen Wolken und die Einsamkeit der Arena perlenden Nahaufnahmen seiner Protagonisten abfeuert, werden diese wieder zu Statuen, versteinerte Zeugnisse einer unbeweglichen, verlorenen und sich doch feiernden Männlichkeit.

Es wäre ein leichtes diesen von John Ford im Auftrag von Produzent John Wayne für den ursprünglichen Kinorelease 1951 radikal gekürzten Film (sei 1986 kann man den weitaus überlegenen ursprünglichen Cut des Regisseurs sehen mitsamt einer quasi-avantgardistischen, fast stummen, minutenlangen Stierkampfsequenz in Zeitlupe) durch die bereitliegenden Käsereiben einer Kritik zu ziehen, die in Protagonist Johnny Regan (Robert Stack), der nach Mexiko geht, um Stierkämpfer zu werden und eine Frau zu lieben, den Protofaschisten allen Übels männlichen Imperialismus erkennt. Mit riesiger Sonnenbrille und US-amerikanischem Dominanzgebaren stolziert er folglich durch die ersten Szenen, nimmt sich, was er will. Dann aber würde man dem Film, der auf Boettichers eigenen Erlebnissen in Mexiko basiert, seinen Wert als Dokument absprechen, dann würde man glauben, dass ein Film nicht das zeigen wollen dürfe, was ist, sondern nur, was man sich so bestenfalls vorstellen würde.

Was nämlich sichtbar wird, wenn man sich auf diese an Hemmingway gemahnende Welt einlässt, sind eben jene Statuen, die, wir wissen das spätestens seit Chris Marker und Alain Resnais oder der Sprengung des Stalinův pomník 1962 in Prag, auch sterben werden. Statuen, das weiß man, bilden selten ab, was wirklich war, aber das Bild einer Statue vermag hinter oder besser in deren Antlitz das erkennen, was die Bildhauer nicht aus den Charakteren entfernen konnten. Was sie nicht geheim halten konnten oder wollten. Statuen sind nicht für Nahaufnahmen gestaltet. Deshalb muss man sie sich aus der Nähe anschauen und Boetticher macht das. Die Pupillen tanzen unter seinem Blick, die Haut schillert, der Schweiß tropft. Was man dann erkennen kann, ist die Sterblichkeit dieser Statuen, die Menschen sind.

Die Würde, die für die Toreros im ruhigen Abgang aus der Manege und dem eleganten finalen Stich mit dem espada gegen den Rücken des Stieres liegt, erfüllt sich in dieser Welt zum einen im rituell durchgeführten Tanz mit dem drohenden Tod und zum anderen im tatsächlichen Ableben. Ersteres zeigt Boetticher in einer sich unablässig wiederholenden Gestik dieser Männer, die selbst in der Sauna auf und ab gehen und ihre Hände schwingen, als würden sie ein unsichtbares muleta halten. Zweites vollzieht sich in den Nahaufnahmen, in denen das Bestreben all dieser Würde zu erkennen ist, nämlich, die Zerstörung. Das gilt übrigens für alle Teilnehmenden dieser absurden Veranstaltungen. Die Stiere, die schnaubend und verzweifelt im Kreis rennen, die Frauen, die hier das Unheil immer bereits vorausahnen, die Kinder, deren romantische Verklärung schon beginnt. die gleichen Bewegungen auszuführen, die Touristen, die sich am Spektakel ergötzen und die Toreros, die Leichtigkeit vermitteln, wenn es um das schwerste Ende geht.

Auch wenn es nicht gefallen mag: Hier zeigt sich letztlich, wie einfallsreich die Menschen sind, wenn es darum geht, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren, grauenvoll und sinnlos wie er auch sein mag. Weniger einfallsreich sind sie, wenn es darum geht, den Tod weniger grausam zu gestalten. Es ist wichtiger, so scheinen auch die Photographien von aufgespießten Toreros im Moment ihres Todes zu sagen, die einmal im Film zu sehen sind, für Prinzipien zu sterben, als so lange wie möglich zu leben und zu lieben. Es wird als mutig betrachtet, in die Schlacht zu ziehen und als ängstlich, zu fliehen. dabei ist es genau andersherum. Aber Statuen können nicht fliehen. Auf diesem Denken errichteten sich Kulturen, die Kriege führen.

Bei Boetticher nun erkennen wir die ganze Tragik dieser Verklärung. Und wir erkennen auch, dass es ein Leichtes ist, für sie zu fallen. Bei Ovid war die Versteinerung noch die schlimmstmögliche Strafe, die sich die Götter einfallen ließen. Für den stolzen Mann ist sie der einzige Ausweg aus der eigenen Nichtigkeit. Toreros unterscheiden sich da nicht von anderen, da darf man sich nichts vormachen. Dabei kostet Boetticher den Triumph Johnny Regans so sehr aus, lässt den Mann Schnitt für Schnitt endlos die gleichen bejubelten Bewegungen durchführen, dass man unweigerlich an die eigentlich schlimmste Strafe der Götter denken muss, nämlich jene, die gegen Sisyphos ausgesprochen wurde. Wer nicht sterben will, muss jeden Tag den Tod überlisten. Jeden Tag. Das ist der Preis für die Ewigkeit. Diese Männer wissen das und suchen sie trotzdem.

Zwischen Trümmerrealismus und Restfleisch

Eine Wanderung vom italienischen Nachkriegsfilm zum Kannibalenzyklus

von Florian Weigl

Ein Text, der gescheitert ist. Weil ich zu gut geblufft habe und ungeguckt einen Text versprach, der versucht die Landschaften des italienischen Nachkriegskinos und des Kannibalenzyklus gegenüberzustellen. Nur gibt es bei letzterem keine Pluralität. Die Bilder der Landschaften in den Nachkriegsfilmen sind präzise und spannungsreich, sie kämpfen sich durch die politischen Visionen, die man für Italien hatte. Die Dschungelentwürfe der Kannibalenfilme gleichen sich hingegen an das gesellschaftliche Klima an. Was die Filme untereinander macht, beginnt und endet in der Wahl und Qualität der Perücken, die den indigenen Völkern aufgezogen werden. Das, was ich an Exploitation schätze – die Produktionswut, das blanke Totdrehen eines Sujets, bis sich ein neues eröffnet, die Performances und Eigenheiten, die durch die Gleichheit stoßen –, nutzt sich hier schnell ab.

Im Nachkriegskino steckt eine Nähe und Liebe zu dem Wenigen, was Italien nach dem Krieg bleibt. Der Kannibalenfilm verschwendet ganze Kontinente an seiner europäischen Arroganz. Was von diesem Text vor allem bleibt, ist die persönliche Annäherung an das Kino – skizzenhaft und von Film zu Film, Stadt zu Stadt und Dschungel zu Dschungel. Immer wandernd, immer suchend.

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Das, was das italienische Nachkriegskino der italienischen Linken vor allem schenkte, war die ideologische Gewissheit, gewonnen zu haben. Roberto Rossellinis Roma città aperta spielt vor allem in Innenräumen und auf Wandkarten. Die eine Karte arbeitet für ein freies Rom, die andere für die Dominanz der Herrenrasse. Was von der Stadt zu sehen bleibt, sind Ausschnitte, die Pier Paolo Pasolini später in Accattone ausformen wird: Die engen Gassen und Hinterhöfe, die Weite der Außenbezirke, die noch nicht vom Kern vereinnahmt wurden.

In Ladri di biciclette weicht Vittorio De Sica die Härte der Bildern auf, macht sie publikumswirksamer. Die Route Antonios (Lamberto Maggiorani) ist von Verzweiflung und Glück zugleich gezeichnet. Sie führt vom Tatort in der Via Francesco Crispi, zu den Märkten auf dem Piazza Vittorio und dem Piazza di Porta Portese. Die Spur führt weiter in die Kirche Santi Nereo e Achilleo und schließlich bis in die Via de Panico, in der Antonio den Dieb zwar stellen, aber nicht überführen kann und von den Bewohnern am Ende vertrieben wird. Auf der Karte ergibt die Route keinen Sinn. De Sica meidet bewusst die touristischen Gegenden (und Attraktionen). Rom bleibt dabei eng: Schmale vicoli, in denen Männer sich aneinanderdrängen und breite corsi, auf denen man fast von Autos erfasst wird. Wenn es wie in den Vororten oder am Stadtrand Platz gibt, wird gebaut. Die Stadt wächst nach dem Krieg in die Höhe, stapelt neue Wohnungen. Ganz gleich, ob die Menschen ihre Mieten nicht bezahlen können.

Dagegen blickt Rossellini in die Weite, er reist mit Paisà über das Land. Sizilien ist Stein, Lava und Wasser. Die Alliierten landen an der Küste, aber die Einwohner bleiben misstrauisch. Charaktere definieren sich durch ihre räumlichen und kulturellen Distanzen, was sich besonders an dem italoamerikanischen GI erkennen lässt. Die Mutter ist US-Amerikanerin, der Vater ist ein Sizilianer aus Gela, doch seine italienische Identität wird sofort angefochten. Ob Gela überhaupt existiert?, fragt einer der Einwohner. – „Gela!“, hört einer der Dorfälteren und springt ins Bild, „Ich bin ebenfalls aus Gela!“. Zu seiner Verteidigung benutzt der italoamerikanische GI fast unbewusst seine Hände, schiebt sie von unten ins Bild und drückt sie sanft aber stetig fordernd nach oben.

In der Neapel-Episode verhandeln Kinder über die Besitztümer und den Körper eines Schwarzen GIs, der als Kriegspolizist die Stadt patrouilliert. Es entwickelt sich zuerst ein Duett, das sich durch die zerbombte Stadt manövriert. Man streitet und zofft sich und findet schließlich auf dem Trümmerhaufen zusammen. Joe (Dots Johnson) spielt Mundharmonika und träumt von der Wall Street, die einmal ihm gehören wird. Pasquale (Alfonsino Bovino) will Schuhe verkaufen. Die Kamera berichtet mehr, als das sie zeigt. Gegen Ende des Tages erkundigt Joe sich nach den Eltern und das Kind wird still. Er bringt ihn zu einem Steinbruch in Mergellina, der zur Wohnung für alle Obdachlosen und Kriegswaisen geworden ist. Überwältigt und erschrocken von der Armut bricht er auf und lässt das Kind zurück.

Senza pietà! von Alberto Lattuada:Auch hier steht die Beziehung einer Italienerin mit einem Schwarzen GI (John Kitzmiller) im Fokus. Der GI ist flirty und interessiert – on a good time, Angela (Carla Del Poggio) gedanklich vor allem auf der Suche nach ihrem Bruder und gefangen in drohender Armut. Die Apartments sind überfüllte Zweckgemeinschaften. Man zankt und keift über die Pasta hinweg, aber alles locker und komödiantisch inszeniert. Außerhalb des Apartments wird der Film zum Noir. Die Besitzverhältnisse zeigen sich an der Garderobe. Der Gangster mit beschmutztem Geld aber weißem Anzug, Angela im immergleichen, schlichten Kleid. Menschen gehen unschuldig ins Gefängnis und brechen wieder aus. Das einzige glückliche Ende neben den anderen Enden ist hier ein karges Boot mit der Hoffnung auf Amerika. Der Strand ist genauso nackt und trostlos wie die Stadtruinen bei Rossellini.

Kitzmiller blieb nach seinem Militärdienst in Italien und wurde Teil der Filmindustrie. Er debütierte in Luigi Zampas Vivere in pace, einem Dorfpanoramafilm, realisiert kurz vor dem Ende des Krieges. Der Blick auf die Natur bleibt bewusst naiv. So soll sie gegenüber dem Faschismus den Bauern Zuflucht spenden. Am Ende des Films verstecken Sie sich in den Bergen und warten wie Schafe. Zampa eröffnet mit einem dynamischen Schwenk durch die einzige Straße des Dorfes: Schule neben Kirche neben Einkaufsladen. Alles ist miteinander verwoben und kein Gebäude liegt in Trümmern, wie es in den Stadtszenen von Paisà zu sehen ist. Der Schein des Sets trügt. Wie in Roma città aperta verhandelt Aldo Fabrizzi mit allem und jedem: Er beherbergt zwei GIs, eine Waise und einen Kriegsdienstverweigerer, er ist sowohl mit dem partisanennahen Arzt, dem kollaborierenden Bürgermeister und dem stationierten SS-Offizier verbandelt. Feindschaften sollen begraben und der Krieg für beendet erklärt werden.

Die wirtschaftliche und soziale Umstellung nach dem Krieg ist immer auch eine Systemfrage. In Francesco De Robertis La vita semplice kämpft in Venedig eine kleine, familiengeführte squero, eine Reparaturwerkstatt für Gondeln, um ihre Existenz. Sie wird von einem Vater-Sohn-Duo geführt, das einfach nicht arbeiten will. Lieber wollen sie das Leben in seiner Einfachheit genießen, indem sie aus den neu formierten kapitalistischen Strukturen aussteigen. Der Film setzt die Schnelligkeit der neuen Motorboote dem Schatten des Kirschbaums und dem Chorus der Wellensittichen entgegen. Wie Tag Gallagher so treffend festhält: “In America it was thought that reality determined ideas; in Italy it was obvious that ideas determined reality. Rhetoric and willpower can transform reality, said the Fascists and Gramsci too. Since the world exists only in our imagination, we can make of it anything we choose.”

Nördlich von Sizilien, genauer auf Stromboli scheitert diese Idee in Vittorio De Setas Isole di fuoco am kargen Leben. Die Möwen schweigen. Der Vulkan vergisst sich nicht, er schlummert nur und das, was lebt, lebt in seinem Schatten. Die Häuser sind schlicht und weiß. Zwei Kerben für Fenster, die etwas Licht hineinlassen. Nachts bändigt man das Feuer in Laternen. Die Männer fahren als Fischer zur See, die genauso unnachgiebig ist wie das Land. Sie arbeiten barfuß und mit hochgekrempelten Hosen. Es braucht bis zu zehn von ihnen, um eines ihrer Boote an Land zu ziehen.

Wieder Stromboli (Roberto Rossellini), aber “our story begins in the displaced persons camp of Farfa, Italy”. Stacheldrahtanträge und pragmatische Montage: Altar, Zug, Schiff, Stromboli. Bald Ingrid (Ingrid Bergman) verloren zwischen schlichten Häuserschluchten. Im Hintergrund hallt ein Kinderschluchzen, doch es wird nicht zur bekannten Dynamik zwischen Eltern und Kind kommen wie in Ladri di biciclette. Stattdessen küsst Bergman verdorrtes Gras und umgibt sich mit “little old men who speak of America all the time”. (Rossellini dirigierte die Männer, indem er einen Faden um ihre Zehen zog. Ihr Englisch war nicht existent und sie lernten ihre Sätze rein phonetisch, ohne deren Inhalt zu verstehen.) Schönheit stößt sich hier immer erstmal ab. Zwei Modi – Land und Star – die durch ihre Größe nur selten in das gleiche Bild passen und gegeneinander montiert werden.

Die Welt, die Vittorio De Setas zeigt, ist in sich verloren und wird doch in der Montage gefestigt. Viele seiner Filme zeigen Männer bei ihrer Arbeit. Die Methoden der Arbeit sind älter als jene, die sie praktizieren, der Ertrag bleibt jedoch gering. In Lu tempu di li pisci spata geht es um die Jagd. Sie benötigt sechs Männer, dauert Stunden und bringt dabei vielleicht einen Fisch. Durch De Setas Augen und Hände wird sie pure, ekstatische Bewegung. Dagegen ist die Mattanza in Stromboli eine mechanisch-industrialisierte Tötungsmontage. Hier zeigt sich die Zukunft, Bergmans vor Grauen verzogenes Gesicht als gewollter Nebeneffekt.

Andernorts verhärten sich die Fronten. In Riso amaro und Non c’è pace tra gli ulivi dramatisiert Giuseppe De Santis seine Landschaftsbilder. In der Anfangssequenz von Non c’è pace tra gli ulivi erhebt sich die Kamera in einem nahezu vollständigen Panoramaschwenk über die Berge Ciociarias, während De Santis die Geschichte der Landschaft auf Phrasen verknappt. Harte Jahre, harte Seelen. Hirten erheben sich wie Statuen, still und perfekt platziert. Alle tragen ciòcie, das traditionelle Schuhwerk der Region. Dann werden in Einzeleinstellungen die Figuren in einer Strenge und Stringenz inszeniert, die den Film als einen sozialistischen Rachefilm offenbaren. Politisch wie auch formal bekennt sich De Santis damit zum sowjetischen Kino.

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Als Benito Mussolini 1935 mit dem Plan, sein Africa Orientale Italiana auszuweiten, Äthiopien überfiel und unter Einsatz von Bomben und Senfgas annektierte, jubelte Italien. Als nach einem vereitelten Anschlag auf Rodolfo Graziani, die italienischen Streitkräfte als Vergeltung ein äthiopisches Kloster überfielen, in dem sie die Fadenzieher vermuteten, nicht vorfanden und stattdessen alle Mönche und Nonnen umbrachten, jubelte Italien. Als sich Vittorio Emanuele III di Savoia nun ebenfalls „König von Äthiopien“ nannte, was nur von Deutschland und Japan anerkannt wurde, jubelte Italien erneut.

Der Krieg kostete und Italien bezahlte mit Chauvinismus und leeren Mägen. Nachdem Italien Äthiopien eingenommen hatte, ließ Mussolini das Land allerdings nicht ausbluten. Er versuchte, italienische Bauern in Äthiopien anzusiedeln, aber die meisten Emigranten gingen wegen des besseren Bodens nach Eritrea und Somalia. Dennoch wurde investiert: Italien baute Straßen, weitere Zugverbindungen und Flughäfen mit einer eigenen Fluglinie. Dazu kamen Telefonmasten, Krankenhäuser und Schulen. Es war ein Kolonialismus, der sich durch die Kultur definierte, der mit einem gewissen utopischen Trotz Italien und dessen Geschichte in Ostafrika fortschreiben wollte. Dann kam der Zweite Weltkrieg.

1979, Kolumbien an der Grenze zu Brasilien: Das Grün des Regenwalds ist stark und weitflächig, durchbrochen von braunen Flussbetten. Durch das Wasser ziehen sich die Spiegelungen der Wolken. Das Bild ist unruhig, denn die Kamera filmt aus einem Helikopter, der niemals landen wird. Der Lärm der Maschine wird überspielt von Riz Ortolanis sanftmütigem Flautando der Streicher. Das Bild zeigt den Titel des Films: Cannibal Holocaust (Ruggero Deodato). Wer den Helikopter verlässt, wird sterben. In Ultimo mondo cannibale, dem Vorgänger, den Deodato auf Mindanao in den Philippinen drehte, bleibt das Flugzeug als Fremdkörper im Bild, hier ist der Blick auf die Landschaft unverstellt, als blicke man selbst hinaus.

Ende der 1970er, Anfang der 1980er-Jahre wurde der italienische Genrefilm vom Kannibalenfilm dominiert. Die Ausgangslage war immer dieselbe: Eine Reise – von Europa nach New York nach Südamerika – und in kleinerer Besetzung zurück. An Bord immer Journalisten, Wissenschaftler oder Drogendealer. Die Struktur der Filme variiert kaum: Man geht in den Dschungel, man stirbt.

So wie das Flugzeug und der dadurch entstehende Blick ist ebenso die Gewalt durch Tiere und jene gegen sie ein elementarer Teil der filmischen Sprache. Man sieht wie vor der Kamera Schildkröten, Alligatoren, Affen und anderes zerstückelt, gebraten oder roh gegessen werden. Die Gesichter der Abenteurer blicken in die Leere des Dschungels und versuchen vergeblich ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen, während vermeintlich dokumentarische Todesszenen zwischen ihre Blicke montiert werden.

Ich erinnere mich an die Anakondas. In Sergio Martinos La montagna del dio cannibale sieht man wie eine Anakonda einem Kapuzineräffchen langsam in den Schädel beißt, um es dann zu verschlingen. Lenzi wiederholt dasselbe Szenario in Cannibal Ferox mit einer Bisamratte. Diese wird angebunden, sodass sie keine Möglichkeit zur Flucht besitzt. Als sie von der Anakonda gefasst wird, kreischt sie, ehe auch ihr langsam das Leben ausgequetscht wird. Cut zu Giovanni Lombardo, der sich an der Grausamkeit aufgeilt, während Zora Kerova sich entsetzt abwendet. Unterdessen zoomt die Kamera auf die Augen des sterbenden Tiers und es lässt unweigerlich staunen, ein Lebewesen beim Todeskampf zu beobachten. Das Tier wird sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst.

Der Dschungel ist sowohl Gegenspieler als auch unreflektiertes Exotikum. “In there the more that you carry, the quicker you get tired, the sooner you die.” In Ultimo mondo cannibale sieht Massimo Foschi seinen Begleiter vermeintlich ertrinken, ehe er sich in blanker Angst zum Dschungel wendet, während auf der Tonspur die vertrauten Laute von Affen, Vögeln und allem, das kreischt, ertönen. Das Einzige, was noch mehr Angst macht, ist die Abwesenheit dieser Tiergeräusche.

Schon in der Anfangssequenz von Umberto Lenzis Mangiati vivi! Zeigt sich die interkontinentale Spannung: Der Übergang zwischen Zivilisation und Dschungel ist in diesem Genre immer nur einen Schnitt entfernt. In Mangiati vivi! wird diese oft linear verlaufende Beziehung – man begibt sich von der Zivilisation in den Dschungel – zum ersten Mal rückgekoppelt. Ein indigener Auftragsmörder streift durch Kanada und New York und tötet ausgewählte Zivilisten mit einem Giftpfeil. Er wird mit der verschwundenen Schwester der Protagonistin verknüpft, die sich einer südamerikanischen Purification-Sekte (“a real bunch of crazies”) angeschlossen hatte, ehe sie verschwand. Man begibt sich auf die Suche nach ihr und stößt auf Ivan Rassimov, der sich wie Colonel Kurtz aus Apocalypse Now seine eigene Sekte aufbaut.

Es scheint fast so, als würden die Filme abseits von Italien mit sich selbst fremdeln. Der Blick auf die Landschaft ist und bleibt bewusst touristisch. Er verknappt, banalisiert und zeigt wenig Interesse an dem, was ihn verkomplizieren könnte. Obwohl der neorealistische Nachkriegsfilm sich vor allem durch die Gleichheit seine Trümmerbilder in Szene setzt, behält jede Stadt einen eigenen Charakter. Jedoch bleibt es kaum rational fassbar. Florenz fühlt sich wie Florenz an, Venedig wird immer seine Kanäle behalten. Vielleicht sind es auch nur die Menschen, für die sich der Nachkriegsfilm mehr interessiert, während sie bei den Kannibalenfilm zu Material werden, das sexualisiert, exotisiert, zerhackt und zerfleischt werden kann.

Notiz zu Angels with Dirty Faces von Michael Curtiz

In James Cagneys Körper sammelt sich auch heute noch der aufbegehrende Trotz, den man der unablässigen Ungerechtigkeit der Welt entgegenhalten müsste. Mal verkrampft, mal tänzerisch feuert sein Rocky, Gangster mit verstecktem Herzen, aus allen verbalen und metallenen Rohren, die ihm zur Verfügung stehen. Wenn Cagney mit seinen Revolvern feuert, sieht das aus, als schleudere er sein Inneres auf die Welt. Er wehrt sich gegen einen unausgesprochenen, den meisten von uns gemeinsamen Feind. Dieser Feind, das sind die Fehler, die wir ständig wiederholen, ohne zu wissen weshalb.

Einmal gestolpert in der Kindheit und ein Leben lang verflucht. Sein bester Freund entwischt den Polizisten und wird Priester. Cagney wird gefasst und wird Verbrecher. Die Kamera zeigt die Narbe des Priesters als Erinnerung an dessen mögliches anderes Leben als Gangster und sie sucht verzweifelt in den Augen des Gangsters nach eben einer solchen Narbe, die von dessen möglichen Leben als Priester erzählen würde.

Mehr ist es nicht und doch, so zeigt Michael Curtiz kann man sich gegen diese Bestimmtheit der vorgezeichneten Wege wehren, indem man menschlich wird oder bleibt in den Momenten, in denen es zählt. Die extrem verdichtete Atemlosigkeit legt einmal mehr die hilflose Langsamkeit des zeitgenössischen Erzählkinos offen. Als man noch mit Bildern zu berichten wusste, dauerte es nur Sekunden zwischen Liebe und Tod, alle Eindrücke des gelebten Lebens blitzen aus den Blicken hervor, die keiner Zeitlichkeit folgten, sondern einer Unbedingtheit. Letztere schwappt ständig und unberechenbar gegen die Pupillen Cagneys, der darauf wartet, vernichtet zu werden, um alle vorbestimmte Ungerechtigkeit mit sich in den Abgrund zu reißen.

Duisburger Filmwoche 2022: Unrecht und Widerstand von Peter Nestler

Der Film erzählt vom Unrecht, das den Sinti:zze und Rom:nja in der NS-Zeit widerfahren ist und vom Unrecht, das ihnen bis heute widerfährt. Lange wurden die Verbrechen der Nazis gegen sie nicht anerkannt, stattdessen wurden und werden Sinti:zze und Rom:nja bis heute diskriminiert. Der Film erzählt aber auch vom Widerstand dagegen, vor allem von der Arbeit Romani Roses, dessen Vorfahren nicht alle das KZ überlebt haben.

Zu Beginn der Diskussion weist Alexander Scholz daraufhin, das Z-Wort nur im historischen Kontext zu benutzen. So führen zwei frühere Filme von Peter Nestler und Rainer Komers das Z-Wort im Titel: Zigeuner sein und Zigeuner in Duisburg. Anschließend berichtet Scholz von seiner Seherfahrung, dass der Film ihn zum Recherchieren angeregt hätte, da er sich bisher noch nicht so viel mit der Geschichte der Sinti:zze und Rom:nja befasst habe. So ist auch der weitere Verlauf der Diskussion von einer gewissen Ehrfurcht vor dem Thema geprägt. Es wird betont, wie wichtig es sei, sich mehr mit den Sinti:zze und Rom:nja zu befassen, mit ihren Verfolgungserfahrungen in der NS-Zeit, sowie dem bis heute andauernden Rassismus gegen sie. Scholz nennt die Filme von Nestler und Komers „Gegendiskurse“ zu den hegemonialen Erzählungen, da die Aufarbeitung der NS-Verbrechen an den Sinti:zze und Rom:nja bisher in Deutschland zu kurz kam. So wurden auch die beiden früheren Filme von Nestler und Komers lange Zeit in Deutschland gar nicht gezeigt, Zigeuner in Duisburg wurde 1980 noch vom WDR abgelehnt, berichtet Komers. Die Form des Films wird kaum diskutiert, Scholz weist lediglich auf die „Politik des Ausredenlassens, des Raumgebens“ hin, dass es auffallend sei, dass die Gesprächspartner:innen ausreden dürfen.

Vonseiten des Publikums wird ebenfalls unterstrichen, wie wichtig der Film ist und dass er diese Leerstelle im öffentlichen Bewusstsein der NS-Erinnerung ein Stück weit füllt. Weiter wird von einem „Eindruck des durchgängigen Betroffenseins“ gesprochen, was Nestler als Grundvoraussetzung des Widerstands sieht. Daraufhin erzählt er von seinen Kindheitserinnerungen, wie er als Kind mit Antiziganismus und Nazismus konfrontiert wurde. Eine Person aus dem Publikum fügt dem ebenfalls eine Kindheitserinnerung der Begegnung mit Antiziganismus hinzu.

Jemand weiteres merkt an, dass es nicht nur Nestlers und Komers Filme zum Thema gebe und dass es gelte, auch andere Filme, die sich mit Antiziganismus befassen und die in der Vergangenheit vom Fernsehen abgelehnt wurden, wieder auszugraben und zu entdecken. Zum Schluss weist eine Meldung aus dem Publikum daraufhin, nicht nur die Sinti:zze und Rom:nja als homogene Gruppe zu sehen, sondern auch die verschiedenen, einzelnen Stimmen wahrzunehmen, „Der Schritt von der Gruppe zum Individuum steht an.“

So wichtig und aufschlussreich ich den Film inhaltlich fand, hat er mich formal nicht überzeugt. Schade, dass auch in der Diskussion das schwere Thema eine kritische Auseinandersetzung mit dem relativ konventionellen dokumentarischen Zugang nicht zuließ.

Von Anna Stocker

Duisburger Filmwoche 2022: EIGENTLICH EIGENTLICH JANUAR von Jan Peters

Wenn ein Monat zu dreien wird. Drei Minuten, manchmal zu fünf. Und Alltag plötzlich zum Film. Wie in einem Videotagebuch versucht der Filmemacher Jan Peters seinen persön lichen Januar analog auf Super-8-Film einzufangen. Eine Struktur, die bedarf, gebrochen zu werden. So fügen sich am Ende zwar 31 Filmausschnitte zusammen, jedoch entstehen diese weit über den bedachten Monat hinaus. Wesentlich ist das aber nicht, denn Blick und Linse liegen hierbei genau auf dem vermeintlich Unwesentlichen.


Ein Film bestehend aus vielen kleinen Filmen. Jan Peters nimmt uns mit auf eine Reise durch kleine Alltagsmomente, die sich in ihrer Mischung aus Trivialität und Besonderheit zu einem bunten Mosaik zusammenfügen. Nach seinen zwei Projekten NOVEMBER, 1-30 und DEZEMBER, 1-31 war es für den Filmemacher an der Zeit, erneut den Versuch zu starten, einen Monat lang, jeden Tag eine dreiminütige Filmrolle, wie ein Tagebuch mit Erinnerungen zu füllen.

Der Name ist Programm. Denn Peters „eigentlicher Januar!“ wird erst durch weitere Aufnahmen der Monate Februar und März zum letztlich dokumentierten Januar. Anspielend auf genau dieses Prinzip der Zeitlichkeit eröffnet der Moderator das Gespräch mit der Frage nach dem Regelbruch innerhalb der geplanten Chronologie. Sehr unkompliziert und offen gibt der Filmemacher zu, dass er es sowohl bei diesem als auch bei seinen zwei Vorgänger-Filmen einfach nicht geschafft habe, täglich zu filmen und sich der Dreh deshalb über einen längeren Zeitraum erstrecken musste. Eine authentische Antwort, die im Publikum für Sympathiepunkte sorgt, von denen Peters bereits einige mit seiner im Film zur Schau gestellten und unendlich wachsenden To-do-Liste sammeln konnte. Auf die Frage, warum er es denn trotzdem immer wieder versuchen würde, dieses Format erneut aufzugreifen, antwortete Peters ziemlich schlagfertig mit dem Zitat „a picture a day keeps the doctor away”. Bezüglich seines Spiels mit den 31 Filmrollen, die mitten im flüsternden Voice-Over abbrechen, erklärt er seine Struktur in genauso simpler Manier: „Ich habe 31 verschiedene Rollen und die füge ich am Ende einfach zusammen”.

Wenn man jedoch seinen 100-minütigen Film anschaut, wird einem schnell bewusst, dass sich der Filmemacher an dieser Stelle durchaus zu bescheiden gibt. Denn obwohl die eingefangen Momente relativ willkürlich erscheinen, steckt lange Arbeit hinter den künstlerischen Aufnahmen und ihrem Prozess der Entwicklung.

Ein simples Regelwerk bildet den Rahmen des Filmes, welcher seine Dynamik aber dadurch behält, dass die eigens auferlegten Regeln an vielen Stellen bewusst gebrochen werden und Sequenzen mal länger, mal kürzer andauern. Der Moderator erkennt die Thematik von analogen Fotos als möglichen roten Faden des Filmes. Wir sehen Bilder über Bilder. Darunter sind heimatlose und fremde Fotos, gefunden auf der Straße nach Neujahr, wie auch intime Aufnahmen aus dem eigenen Familienalbum.

Während des Gesprächs erhält Peters einiges an positiver Resonanz. Doch äußerten sich auch ein paar Stimmen, die auf eine gewisse Überforderung durch Reizüberflutung aufmerksam machten, welche sich durch die schnell wechselnden Aufnahmen in Kombination mit der gesteigerten Sprechgeschwindigkeit des Voice-Overs entstand. Demnach fühlten sich manche aus dem Publikum entweder hellwach oder ziemlich ermüdet nach dem Film. Allerdings empfindet Peters beide Reaktionen als völlig legitim. Denn genau diese Einheitlichkeit der Struktur mit den uneinheitlichen Aufnahmen erlaube es einem innerhalb der drei Minuten auch mal „abzudriften!”, um sich dann in einem neuen Januartag wiederzufinden. Die Überforderung des Textes und der Bilderflut würde zudem nur noch mehr dazu einladen, den Film ein zweites oder sogar drittes Mal zu sehen, wie eine Stimme aus dem Publikum feststellt und somit das beklatschte Schlusswort bildet.

Von Sina Wohnhaas

Duisburger Filmwoche 2022: 5 Dreamers and a Horse von Vahagn Khachtryan

Träume. Werden sie in Erfüllung gehen oder zerfallen? Während sich ein junger Mann in einer abgeschiedenen Gegend Armeniens nach einer Partnerin sehnt, kämpfen am anderen Ende des Landes zwei junge Frauen für eine gendergerechte Zukunft. Die Fahrstuhlführerin hingegen träumt von den Sternen.

Der Beginn des Filmes 5 DREAMERS AND A HORSE scheint Mischa Hedinger auch passend als Einleitung für das Gespräch mit dem Filmemacher Vahagn Khachtryan und dem Editor Federico Delpero Bejar zu sein. Der Reiter, der mit seinem Pferd durch die weiße Weite galoppiert, erscheint wie ein Traum. Doch plötzlich fällt das Pferd und wir erwachen. Es ist ein Film über Träume, aber auch über die Realitäten unterschiedlicher Generationen, der Gesellschaft Armeniens, in der Frauen noch immer für die Ehe gekidnappt werden können. Es ist kein Frieden für die LGBTQ+-Community in Sicht. Hedinger erkennt unterschiedliche Vorstellungen der Träumenden, sowie des Regisseurs und der Zukunft, aber auch das Gefühl der Stagnation.

Die Frage, wie viel Fiktives in dem Dokumentarfilm steckt, kann auch Khachtryan nicht beantworten. Er selbst arbeitet mit Menschen, um ihren Wirklichkeiten einen Raum zu geben. Die darstellenden Personen wurden im Laufe des Filmes selbst zu Regisseur:innen. Wie viel Fiktion also im Kaffeesatzlesen der alten Dame oder im Kartenspiel der Mädchen ist, muss das Publikum sich selbst beantworten.

Das Konzept des Films scheint sehr natürlich entstanden zu sein. Seine Arbeit begann vor einigen Jahren mit seinem Neffen, der damals unbedingt ein Pferd haben wollte, das sich die Familie aber nicht leisten konnte. Als Khachtryan einige Jahre später nach Armenien wiederkehrte, hatte sein Neffe zwar ein Pferd, aber wollte nun eine Frau. Im selben Jahr, 2017, traf er den Co-Regisseur Aren Malakyan. Sie fingen an, über die Träume verschiedener Generationen zu sprechen und suchten nach Charakteren, die nach den Träumen ihrer Kindheit strebten, erklärt Khachtryan nach einer Publikumsfrage.

Der filmische Prozess scheint, genau wie das Konzept, einen organischen Vorgang zu haben. Khachtryan ist nicht nur Regisseur, sondern auch Kameramann und Freund – es war eine Entwicklung in jeder Hinsicht. Das Gefühl sollte stimmen und so entstand auch ein Gefühl für die verschiedenen Kamera-Positionen, Bewegungen und Charaktere.

Wie kam es aber dazu, dass man nur drei anstelle der fünf Personen, wie im Filmtitel beschrieben, zu sehen bekommen hat? Federico Delpero Bejar erklärt, dass es schwierig war, alle Geschichten auf eine natürliche Art und Weise zu verbinden. Sie seien alle interessant, aber am Ende sei eben ein Fluss aus dem Schweben, Aushalten und Bewegen entstanden, welcher die Generationen und Personen auf natürliche Weise verbinde. Der Reiter beispielsweise sollte die Darstellung von Tradition wiedergeben und das Gefühl der Weite erwecken. Die Frau im Aufzug hingegen sei eingesperrt und isoliert, weswegen sie nach Weite strebe, ergänzt der Regisseur.

Hedinger wundert sich, warum am Ende die Häuser, fremde Menschen, Explosionen und die große Demonstration mit tausenden von Menschen gezeigt werden. Khachtryan entpuppt sich selbst als einer der Träumenden, dessen Wünsche eben 2020 durch den Krieg gestorben sind.

Durch die Explosionen und die Darstellung der Massendemonstration stellt sich das Publikum auch die Frage, wie der Film in Armenien selbst angekommen ist und ob dieser überhaupt gezeigt werden durfte. Der Film wurde in Armenien staatlich gefördert und dort schon zweimal gezeigt. Bei der Premiere selbst wären auch die Darsteller:innen, zum Teil mit Frau und Kind, gekommen. Manche Träume erfüllen sich, während andere sterben. Khachtryan gesteht, dass er Angst vor der internationalen Reaktion hatte, aber irgendwie habe jede:r den Film am Ende gefühlt und verstanden. Der Traum ist am Ende also auch das Träumen selbst. Doch Träume scheinen sich vor allem dann zu erfüllen, wenn man auf dem Weg dorthin nicht allein ist.

Von Fabia Suhl