Ausschreibung
Workshop »Von Filmen schreiben«
Duisburger Filmwoche x Jugend ohne Film

7.-11. November 2023

Die Duisburger Filmwoche und Jugend ohne Film laden fünf Teilnehmer:innen zu einem fünftägigen Workshop ein, in dem das Schreiben über Dokumentarfilm im Fokus steht.

Die Duisburger Filmwoche, das Festival für Dokumentarfilme aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, beschäftigt seit ihrer Gründung nicht nur das gemeinsame Schauen, sondern auch das Nachdenken, Reden und Schreiben über Dokumentarfilm. In Publikationen, dem Festivalkatalog oder Essayreihen – wie zuletzt etwa der „Distanzmontage“ (zu lesen auf dem Blog der Filmwoche www.protokult.de) – wird auch über das Festival hinaus über Dokumentarfilm nachgedacht. Auf protokult.de finden sich auch die Protokolle der Filmgespräche, die seit über vierzig Jahren gesammelt und öffentlich zugänglich gemacht werden und mittlerweile ein Archiv bilden, dessen Gegenstand die Dokumentation der Dokumentarfilmdebatten ist. So verschieden das Sprechen über Film, so unterschiedlich auch die Protokolle, die sich als ein Format erwiesen haben, in dem mit diversen Schreibstilen experimentiert wurde und wird. Auch Jugend ohne Film vertritt ein Schreiben, das sich nicht an die Regeln journalistischer Arbeit halten muss. Stattdessen werden die Berührungspunkte von Filmkritik und Literatur, Lyrik und Essay, Bild- und Textcollagen, Notiz und Porträt erforscht. In Kollaboration mit der Duisburger Filmwoche öffnen Eh-Jae Kim und Patrick Holzapfel einen Raum für junge Schreibende, den kritischen Austausch des Festivals zu nutzen, um den Arbeitsweisen von Bildern und Tönen mit Worten auf die Schliche zu kommen und verschiedene Textformen zu erproben.

Im Workshop werden wir uns mit einem Film, den wir gemeinsam während des Festivals sehen, beschäftigen und in Austausch treten, um gemeinsam nachzudenken, zu fühlen, zu sprechen, zu streiten, zu schreiben. Wir treffen uns täglich in kleinen Sessions bestehend aus Diskussionen und Schreibübungen, zudem laden wir Gäste ein, die sich in ihrer Arbeitspraxis ebenfalls mit dem Verhältnis Text und Film beschäftigen. Alle Teilnehmer:innen werden im Anschluss mit unserer redaktionellen Betreuung einen Text verfassen, der auf der Website von Jugend ohne Film veröffentlicht wird.

Akkreditierung und Unterkunft werden gestellt. Die Teilnahmegebühr beträgt 30 Euro.

Interessierte bewerben sich bitte bis zum 20. September 2023 an folgende Adresse: jugendohnefilm@gmail.com und beschreiben in 5 Sätzen, was sie auf der Leinwand sehen, wenn kein Film läuft.

Wir freuen uns über Interessierte jeder Altersgruppe und jeder Erfahrungsstufe. Wichtig sind uns eine Offenheit für freie Formen des Schreibens und die Lust, sich intensiv mit Film zu befassen.

Il Cinema Ritrovato 2023: Cinema Libero – freies Kino?

Ritrovato – wiedergefunden hatte mich das Festival in Bologna dieses Jahr nach meinem allerersten Besuch im vergangenen Juni. Wir beide waren um ein Jahr gealtert. Stolze 37 Ausgaben hat das Event in der Emilia-Romagna nun hinter sich gebracht. Ein Erfahrungsschatz, den ich selbst noch nicht mein eigen nennen kann. Ich fand mich auch dieses Mal von früh bis spät am häufigsten in den nach großen Namen benannten Spielorten und Sälen (Cinema Lumière, Sala Mastroianni und Sala Scorsese), in (dem für CinemaScope konzipierten) Cinema Arlecchino und im Cinema Jolly ein. Wohlgemerkt neben dem – wir wissen es alle und wie könnte es anders sein – Gustieren diverser Köstlichkeiten. Bologna und Essen sind nicht voneinander zu trennen. Am besten gibt man sich dem Genuss unter den Arkaden hin, die vor der Hitze der Sonne und der Frische der Klimaanlagen zugleich schützen. Oder man zerfließt dort symbiotisch mit einem Gelato. Auch auf dem kleinen Platz vor der Cineteca hat sich neben dem Eingang verlockend ein Eiswagen positioniert. Im Nachhinein lese ich, dass sich die zentrale Piazetta Pier Paolo Pasolini, die eben jenen Anker zwischen den verschiedenen Räumlichkeiten der Cineteca bildet, auf einem ehemaligen Schlachthofgelände befindet. Ich muss an die Wiener Arena denken und an den Tod. Während hier früher der Tod zuhause war, versucht man ihn heute gewissermaßen aufzuhalten. Den Tod des Kinos, meine ich, den wir im Gegensatz zu unserem eigenen eher hinauszögern können: Indem man das Kino zelebriert, wiedergefundenen, reparierten Streifen nach präzisen Eingriffen ein neues Leben ermöglicht und sie von der Cineteca aus weiter in die Welt hinausreisen lässt. Die Fluktuation und der Austausch wirken hier einige Tage lang dem Tod entgegen. Doch nicht nur die Filme selbst, auch die Protagonist*innen derselben und die Besucher*innen des Festivals befinden sich in Bewegung. Zielgerichtet oder ziellos, nach neuen Orten, nach einem vertrauten Anker oder nur nach (filmischen oder kulinarischen) Zwischenhalten suchend, wechseln sie zwischen den immer gleichen Cinemas und Gässchen hin und her.

Selbst wollte ich, aus Wien angereist und auf der Suche, am Cinema Ritrovato auch Neues für mich entdecken. Ungesehenes habe ich genug im Programm erspäht, doch sehnte ich mich danach zuallererst Filme kennenzulernen, deren Macher*innen mir nicht vertraut waren und die meinen gewohnten Blick erweitern, infrage stellen, vielleicht herausfordern könnten. Meine Aufmerksamkeit galt neben den „Sorelle del cinema“ („Sisters of Cinema“) wie der Drehbuchautorin Suso Cecchi D’Amico, der Kamerafrau und Regisseurin Elfie Mikesch, der Hollywood-Pionierin Dorothy Arzner oder der Stummfilm-Schauspielerin Dianne Karenne, also besonders der Cinema Libero Sektion. Seit 2013 widmet die Cineteca dieses Programm Filmen, die sich „true to their spirit of innovation and discovery“ zeigen, um der Tendenz entgegenzuwirken, dass „cultural differences“ immer mehr verschwinden und Stile sich einander angleichen, so die Ankündigung 2013, dem ersten Jahr des Schwerpunkts. Doch die Geschichte des Cinema Libero reicht eigentlich weiter als nach 2013 zurück: Unter dem Namen Mostra Internazionale del Cinema Libero hatten Bruno Grieco, Gian Paolo Testa, Cesare Zavattini und Leonida Repaci 1960 ein Filmfestival in Poretta Terme gegründet, das eine Alternative zu Venedig und zu der allgemeinen Marktgetriebenheit von Wettbewerbsfestivals bieten sollte. Es bestand bis in die 1980er Jahre, bis es vom Cinema Ritrovato abgelöst und nach Bologna verlegt wurde. Cinema Libero, freies Kino also. Aber freies Kino – was ist das eigentlich?

Heute gibt es wohl so viele Filmfestivals wie nie zuvor und „frei“ Filme zu produzieren, ist, hat man Zugriff auf Produktionsmittel und -wissen, so günstig möglich wie nie zuvor, der Einstieg ist niederschwelliger denn je. Aber wie frei können das Kino oder Filme in all ihrer Komplexität aus zunehmenden Verstrickungen und Abhängigkeiten in einem Netz aus staatlichen und privaten Förderungen sein? 

Unabhängig produziert und sich selbstausgebeutet = freies Kino? 

Müsste der Sektionstitel nicht mit einem Fragezeichen ergänzt werden –  „Cinema Libero?“  -, um zu implizieren, dass Schaffensprozesse, Distributions- und Archivierungsgeschichten bei jedem Film neu ergründet werden müssten? Wie frei sind wir als Zuschauer*innen in unserer Filmwahl? Ist es nicht eine der Besonderheiten des Kinos, dass wir anderen Perspektiven als der eigenen näher kommen können, um deren Sicht auf die Welt mitzuerleben? Oder wollen wir nur den Personen zusehen, die unserem eigenen Lebensraum am nächsten sind? Was ist mit den Geschichten, die über unseren eigenen Horizont hinausgehen? In unserer globalisierten Welt findet Kulturtransfer hauptsächlich vom West to „the Rest“ statt. Als westlich bezeichnete Gesellschaften und ihre Geschichten dominieren unsere Kinos und Watchlists. Der Kulturtheoretiker und Soziologe Stuart Hall beschreibt in „The West and the Rest“ wie Europa mit seinem Konzept von West und Nicht-West und den damit verbundenen Attributen und Weltvorstellungen seine eigene Einzigartigkeit und Überlegenheit manifestiert und sich gegenüber den als anders erachteten Kulturen abgrenzt. Mir scheint gerade das Kino ein gutes Beispiel für diese Dynamik. Frei sind wir als Teil des Kino-Apparats nie, frei verfügbar sind vor allem jene Filme nicht, die nicht Teil der westlichen Kulturdiskurses und Distributionskreislaufs sind. Cinema Libero – vielleicht finde ich eher Filme darunter, deren Geschichten und Akteur*innen um Freiheit kämpfen.

Meine Cinema Libero-Programmwahl richtete sich – hierin beschränkte sich meine Wahlfreiheit – natürlich auch nach den angebotenen Spielzeiten: Yam Daabo von Idrissa Ouedraogo (Burkina Faso 1986), Al-Makhdu’un von Tewfik Saleh (Syrien 1972), Aham Al-Medina von Muhammad Malas (Syrien 1984), The Senegalese Actuality Films von unterschiedlichen Filmemachern aus den 1960er und 1970er Jahren, Bushman von David Schickele (USA 1971) und Ceddo von Ousmane Sembène (1977). Letzterer blieb mir besonders in Erinnerung, weshalb ich kurz davon berichten möchte. 

Das Screening von Ousmane Sembènes Film Ceddo wurde von einer Einführung seines angesichts des vollen Cinema Jolly Saals sichtlich gerührten Sohnes Alain Sembène begleitet. Ousmane Sembène, aufgewachsen im von Frankreich kolonisierten Senegal, wird oft als „Vater des afrikanischen Kinos“ bezeichnet, unter anderem da sein 18-Minüter Borom Sarret als einer der ersten Spielfilme gilt, die außerhalb des afrikanischen Kontinents gezeigt wurden. Er gehört einer Generation von Filmemacher*innen der Subsahara an, darunter auch Diop Mambéty und Désiré Ecaré, die mit der Erlangung der politischen Unabhängigkeit einen postkolonialen Filmblick auf die Welt warfen. Viele der Werke aus der Zeit nach dem offiziellen Ende einiger Kolonien werden heute in Archiven in Ländern außerhalb Afrikas aufbewahrt, sodass nur wenige in Bildungseinrichtungen in Afrika zugänglich sind.

Ceddo – damit ist auf Wolof, die Umgangssprache des Senegals, die Gruppe der Außenseiter*innen eines Dorfes benannt, die sich als Nicht-Muslim*innen mittlerweile in der Minderheit befinden. Denn König Demba War stellt sich auf die Seite des Imam und befürwortet eine Islamisierung der dörflichen Gemeinschaft. Aus Protest entführen einige Ceddo Dior Yacine, die Tochter des Königs. Die christlich-französischen Kolonialherren verlieren gegenüber dem Imam an Macht, führen aber ihren Sklavenhandel weiter. Ceddo spielt in einem Zeitraum von wenigen Stunden und in einem einzigen Dorf und seiner Umgebung. Auch die Handlung bildet eine Einheit: meist lauschen wir Gesprächen, die mal als politische Verhandlungen zwischen Herrschern und Bewohner*innen ihre Funktion erfüllen, mal persönliche Bedürfnisse und Meinungen preisgeben. Trotz dieser Einheit umspannt der zugrunde liegende Religionskonflikt über die konkreten Szenen hinaus mehrere Jahrzehnte und geht über das im Film repräsentierte Dorf hinaus. Die Kritik an religiösen Überzeugungen, die über Demokratie und Freiheit gestellt werden, repräsentiert neben dem Aufzeigen der Ausbeutung durch weiße Kolonialisatoren eine Grundproblematik afrikanischer Geschichte und Lebensrealität. Sembène richtet seinen Film an ein afrikanisches Publikum und betonte auch, nachdem Ceddo 1977 erschienen war, die vernachlässigte, wesentliche Rolle der Frau für Gesellschaften Afrikas. Der Kern der Konflikte hält als weiter andauernde Problematik an, sowohl was die Religionen, Machtansprüche als auch die Geschlechterdiskriminierung betrifft. Führen in Ceddo vor allem Männer das Wort und Frauen werden ohne Umschweife im Gegenzug für eine Flasche Wein als Sklavinnen verschenkt oder als Mittel zum Zweck politischer Taktik genutzt, übernimmt doch am Ende die Tochter des Königs Dior Yacine die entscheidendste Handlung. Als Entführte muss sie an einem Schattenplatz abwarten, wie die Verhandlungen über ihr Schicksal ausgehen. In keinem Moment wirkt sie wie ein um Hilfe ringendes Opfer, sondern eher als wäre sie jederzeit zum Sprung bereit. Ich möchte das Close-Up auf Dior Yacine und ihren direkten Blick in die Kamera in der letztem Szene des Films nicht unerwähnt lassen. Während seiner zweistündigen Laufzeit zeigt uns der Film bis dahin kaum Gesichter in Großaufnahme, sondern betont viel mehr durch seine (Halb-)Totalen und Amerikanischen Einstellungen das Kollektive statt das Individuelle der Konflikte. Nun blickt Dior Yacine in die Kamera. Ihr Blick signalisiert Entschlossenheit. Ihr Blick füllt das Bild aus, nimmt es vollständig ein. Dass am Ende die Tochter des Königs die für das Dorf einzig wesentliche Entscheidung trifft, verstehe ich als Aufbruch und als Gegenschuss zum Besitzanspruch der Kolonialherren und ihrer Kollaborateure. Doch ob das kurze Vakuum der Befreiung von einer Herrschaft mit Freiheit gefüllt werden kann, lässt sich nur erahnen. Der Blick auf die Geschichte lässt Freiheit nur in Träumen, nicht jedoch in der Realität wahr werden. Sembène findet einen Ausdruck, um vom Kam pf für Freiheit zu erzählen. Es ist der Kampf gegen Unfreiheit durch und in den Bildern des Films. Es ist der Ausdruck von Entschlossenheit in Dior Yacines Gesicht sich selbst und zugleich uns als Publikum von der vierten Wand zu befreien, die der Film bis dahin aufrecht erhält. Ob wir nun nach Freiheit in der Produktion, der filmischen Form oder der Handlungen der Figuren suchen, stets kann sie nur als temporär oder für einen Teil der Gesellschaft gelten. Oder?

Holz und Kerzenlicht: L’Envol von Pietro Marcello

„Ein weißes Schiff unter riesigen, leuchtenden Purpursegeln wird die Wellen durchschneiden und geradewegs auf dich zukommen.“ So steht es in Alexander Grins Märchen Purpursegel (Алые паруса) geschrieben, so, wir alle haben das einmal gewusst, wird es geschehen. In seiner losen Adaption des Stoffes evoziert Pietro Marcello, zusammen mit Alice Rohrwacher und Michelangelo Frammartino so etwas wie die Rettung des zerstörten italienischen Kinos, den abendroten Glanz vergessener Träume, die feinen, kaum merklichen Verschiebungen zwischen dem Wirklichen und dem, was von der Wirklichkeit nur erträumt werden darf.
Vergessen sind diese Träume eigentlich nicht, nur vom Kino werden sie längst nicht mehr aufgegriffen. Dabei ist es im Kino doch viel dunkler als in den Schlafzimmern der künstlich beleuchteten Welt, die Träume viel süßer, farbenfroher, als die panischen, die sich zwischen den Tagen einstellen können in einem Heute, das sich seiner selbst nicht mehr sicher ist.
Das Träumen darf anderswo nicht so frei, nicht so schlicht sein wie in L’Envol. Marcello bewegt sich erstaunlich leichtfüßig durch Zeit und Raum und Wirklichkeiten. Wie in vielen seiner Arbeiten, nur ungleich fließender montiert der Filmemacher Archivaufnahmen aus der Spätzeit des Ersten Weltkriegs zwischen seine anderen Bilder. Es ist eine jener Nicht-Zeiten europäischer Geschichte, in denen Träume besonders fern liegen. Mit nur scheinbar simplen Schuss-Gegenschuss-Spielereien macht Marcello glaubhaft, dass seine Figuren diesem historischen Material entwachsen, er zeigt, dass die Fiktionen dann besonders blühen, wenn sie aus ihrer eigenen Unmöglichkeit entstehen; die Träumenden sind dann am stärksten, wenn Träume undenkbar werden. Drohender Kitsch wird zu einem Bollwerk gegen die verheerende Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Pathos zum Indikator einer verlorengegangen Bedeutung. Diese oftmals schon mit einer Wertung versehenen Beschreibungen, also Kitsch oder Pathos, wandeln ihre Bedeutung je nach Kontext, in dem sie präsentiert werden und natürlich auch je nach der Art und Weise, in der sie präsentiert werden.
Der Film erzählt (auch wenn er wenig sagt und sagen lässt, er lässt eher Körper und Stimmen durch die Bilder fließen) von Juliette und Raphaël, Tochter und Vater in einem französischen Dorf am Meer. Wie all diese zerbrechlichen, zärtlichen Männer bei Marcello, zu nennen wären insbesondere Vincenzo Motta und Martin Eden, ist Raphaël ein auf den ersten Blick grobschlächtiger, seine Gefühle tief in sich vergrabener Mann. Seine unablässig in Nahaufnahme gefilmten Fleischhände aber produzieren die feinsten, schönsten Holzarbeiten, seine Liebe für die verstorbene Frau und Juliette ist kolossal. Juliette dagegen wächst heran zur bewundernswert Ausgestoßenen, zur Hexe vom Bauernhof, die vom Dorf gleichermaßen verabscheut und begehrt wird. Eine alte Waldfrau, die an manche Figur Olga Tokarczuks erinnert, sagt ihr, dass sie eines Tages Purpursegel am Himmel sehen wird. Der Realismus ist magisch. Dass dann ausgerechnet Louis Garrel mit einem Flugzeug und der diese Welt aus Holz und Kerzenlicht durchkreuzenden Moderne am Himmel auftaucht, könnte man fast ambivalent begreifen, er sieht nicht aus wie einer, in den man sich verlieben sollte. Die Wahrheit ist, dass Juliette diese Segel unablässig sieht, ein einziges blassblau-hellrotes Schimmern betört ihre hoffnungsvollen Blicke, die sich stets auf etwas richten, das über allem schwebt. Man braucht es nicht zu benennen, alle die jung waren und alle, die wieder jung sein wollen, kennen dieses unbenannte Etwas, das zu Abenteuern anstiftet und Menschen verschwinden lässt. Manche haben den Film als Meta-Märchen bezeichnet. Diese Menschen haben entweder noch nie ein Märchen gelesen oder den Film ganz und gar nicht verstanden. L’Envol ist einfach nur ein Märchen, es erzählt von einer Welt, die es gibt und die durch ihre Erhöhung zu etwas wird, aus dem man lernen kann. Für den Anfang könnte man damit beginnen, zu lernen, wie man fühlt.
Warum aber diese Worte zu diesem Film, mag man fragen. Es ist gar nicht so leicht, L’Envol ist nicht der beste Film Marcellos und sicherlich kann man dem Film einen gewissen Fetisch mit dem 16mm-Filmmaterial und der mit Musicalelementen angereicherten Märchenmotivik ankreiden. Er behauptet den filmischen Zauber so sehr, dass er droht, ihn zu verlieren. Heute ist allerdings das, was man noch vor kurzem als Schwärmereien und weltflüchtige Phantasien abgekanzelt hätte, der eigentliche Widerstand. Er richtet sich gegen den Fatalismus und Zynismus einer Zeit, die sich keine Liebesgeschichte mehr vorstellen kann, die im Bild einer im Wind welkenden Blume nur Metaphern entdecken kann und keine Schönheit.
In einem Sommer, in dem das Kino von großen, belanglosen Produktionen nur so überflutet scheint, ist das der Film für diese Zeit. Sein ausgestellter Anachronismus ist nur Vorwand. Wenn das Kino existiert, um die Leerstellen des Alltags zu füllen, ist L’Envol der einzige Film diesen Sommer, nach dessen Sichtung man ein besserer Mensch, ein besserer Träumer wird.

P.S.

Peter Schreiner war ein ruhiger Mann. Man könnte fast sagen, er war still. In Gesprächen mit ihm fiel mir vor allem die Sanftheit seiner Stimme auf. Er war ein sensibler, empfindlicher und empfindsamer Mensch. Ungerechtigkeiten und Missstände, die wir oft nur als “Nachrichten” wahrnehmen, schmerzten ihn zutiefst. 

Kein Wunder, dass ein solcher Mann, auch sensible Filme gemacht hat. Der Versuch, sie zu beschreiben erscheint den Filmen gegenüber ungenügend. Als ob sie an den falschen Worten zerbrechen könnten. Es sind keine Filme der Worte, wenn auch in manchen seiner Filme einiges gesprochen wird. In seinem Film Garten beispielsweise berichten die Figuren von vergangenen Verletzungen. Oftmals sind ihre Worte nicht synchron zum Bild, sondern wir hören sie in einer Art Voice-Over. Währenddessen tauchen sich die Bilder des Filmes in Dunkelheit, sie bewegen sich durch einen fast abstrakten Raum aus Blättern, Gesichtern und Nacht.

Diese Bilder (und Töne) sind oft ganz groß, obwohl sie nie bombastisch oder grandios sind. Dass sie einen dennoch bewegen, zeigt die Feinfühligkeit der Filme. Eine kleine Geste, die kleinste Bewegung der Kamera oder der Personen und Gegenstände im Bild, ein sanfter Ton: sie bekommen Raum in den Filmen von Peter Schreiner. Ihnen wird geduldig Zeit gegeben, sich zu entfalten. In Schreiners Filmen, dürfen Bilder erst einmal für sich selbst stehen. Sie werden nicht sofort nach ihrem Informationsgehalt oder ihrer narrativen Wirkung gewertet und hinterfragt. Unsere Aufmerksamkeit verdienen sie einfach durch sich selbst. 

Vor allem in seinen frühen Filmen steht jede Einstellung für sich. Die Filme befinden sich im Hier und Jetzt. Es fühlt sich fast so an, als ob Schreiner die Filme ebenfalls von Sekunde zu Sekunde entdeckt, sowie auch wir es tun, wenn wir die Filme sehen. Manchmal drohen sie dabei fast zu zerfallen: Ist die Summe größer als die einzelnen Teile? Das ist nicht immer ganz klar. Doch es liegt eine große Schönheit darin, sich mit Offenheit auf das einzulassen, was Schreiner mit seiner Kamera entdeckt hat. Wie in den Filmen der Lumières, oder Peter Huttons könnten seine Filme nach fast jedem Bild enden. Doch man sitzt und hofft, dass es noch ein weiteres Bild geben wird. Es ist eine Form von Aufmerksamkeit, die für das Kino gedacht ist.

Peter Schreiner war immer auf der Suche danach, mit seiner Kamera wirklich etwas zu sehen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum er sie wiederholt auf dieselben Gesichter richtete: um sie wirklich zu sehen. 

Die Filme von Peter Schreiner, das sind auch Filme voller Leben. Er hat das Leben und die Welt gefilmt. Manchmal war er selbst Teil dieser gefilmten Welt, manchmal waren es andere Menschen. Öfters filmte er nicht nur das Leben sondern sein Leben. Das heißt nicht unbedingt, dass die Filme autobiographisch oder dokumentarisch sind (obwohl sie meist so bezeichnet werden in Texten und Festivalkatalogen). Die Intimität vieler seiner Filme hat sie nie einfach nur privat (im Sinne von home movies) gemacht. Wenn er die Gesichter derer gefilmt hat, die er geliebt und geschätzt hat und die ihn fasziniert haben, dann war da immer eine Begegnung mit der Welt und dem/der/den Anderen

Seine Filme waren bevölkert von den Menschen, den Orten und den Begebenheiten seines Lebens. Als Peter Schreiner die Liebe suchte, taten das seine Filme auch. Nachdem er seine Frau Maria kennenlernte, strahlen seine Filme in jedem Moment, in dem sie auftaucht, vor Freude. Als Peter Schreiner Italien für sich entdeckte und erkundete, tat er das auch mit der Kamera. Und so wurde das Land immer präsenter in seinen Filmen. Nachdem er an Krebs erkrankte, richtete er die Kamera wieder auf sich selbst und zeigte das Leben mit und trotz der Krankheit.

Film und Leben gingen für ihn immer Hand in Hand. Das Eine erfüllte und durchflutete das Andere. Wenn man sich das vor Augen führt, kann man wohl erst begreifen wie groß seine Enttäuschung gewesen sein muss, als Blaue Ferne kaum Aufmerksamkeit erfuhr. Schreiner zog sich aus dem Kino zurück und machte 10 Jahre lang keinen Film mehr. Und doch kehrte er zurück. 

Filme gut zu machen war ihm wichtiger als “gute Filme” zu machen. Es ging ihm darum, ein gutes Leben zu führen. In diesem Leben spielte die Filmkamera eine Rolle. Sie legte Zeugenschaft über das gut geführte Leben ab. Sie war nicht wichtiger als das Leben. Das Filmen stand nicht über dem Leben, sondern war Teil davon. Peter Schreiner erzählte gerne, wie er zum ersten Mal seinen Sohn filmte. Er sprach von der Angst, die er verspürte, als er dieses große mechanische Gerät über diesem kleinen Säugling aufbaute. Die Angst davor, dass die Kamera umfallen und den Jungen verletzen könnte. Doch es geschah nichts dergleichen, denn Peter Schreiner filmte seinen Sohn mit großer Vorsicht, sowie er alles in seinem Leben filmte: Familie, Freunde, Wüsten, Bäume, Wasser, Wind, Küsse, Schmerzen,  Kinder, Liebe, Krankheit,… 

Er hat gefilmt, solange er dazu imstande war. Für seinen letzten Film Tage war es ihm nicht mehr möglich, komplexe Kamerafahrten oder -bewegungen auszuführen. Das Bewegen des Stativs und das Einrichten eines Bildes kosteten ihm viel Kraft. Aber er tat es trotzdem, denn er hat das Filmen geliebt. 

Träume in öffentlichen Räumen

Text: Leonard Geisler

Es ist beschämend, beim Schlafen erwischt zu werden, peinlich irgendwie, vor einem anderen
Menschen zurückzukehren in den unbewussten Zustand, mit geöffnetem Mund womöglich. Der Schlaf verweist wie der Bauchnabel auf das Säuglingsstadium des Körpers. Im Schlaf ist der Organismus verletzlich. Er ist nackt, den Bildern, die ihn heimsuchen, nackt ausgeliefert. Ein Topf kochender Spaghetti, dessen Deckel zittert, schließlich überschäumt mit Träumen, biochemischen Geflechten aus Begehren und Angst.

Der Kinosaal ist dunkel und warm. Die Körper in seinem Innern regen sich nicht. Sie atmen leise und flüstern heimlich wie Kinder, deren Eltern vor der Zimmertür stehen und lauschen, ob die Kleinen denn nun endlich zur Ruhe gekommen sind. Es hat etwas Verbotenes, die Körper auf der Leinwand zu betrachten, die den Blick nicht erwidern können, etwas Verbotenes, sich in Komplizenschaft zu wissen mit den anderen Sehenden in der Dunkelheit. Wir teilen denselben Blick, teilen dasselbe Geheimnis. Das Kino ist, wie der Traum, Sonderverwaltungszone des Begehrens.

„Gut, dann träume ich von dir“, sagt in Rudolf Thomes Berlin Chamissoplatz nicht zufällig die junge Filmemacherin zu ihrem Liebhaber, als dieser keine Zeit für sie hat. Sie versteht sich aufs Schlafen, denn sie kennt das Kino. Sie ahnt vielleicht, dass es bei beidem ums Vergessen geht, ums Verlieren der Gewissheit, ein Ich, ein kohärentes Wesen ohne Brüche zu sein. Wer träumt, ist namenlos. Wird man doch gerufen, dann so, als trage man den flüchtigen Rollennamen eines Schauspielers, abgeschnitten von jeder Vergangenheit. Das Kino macht uns zum Mensch ohne Eigenschaften, zum reinen Rezeptionskörper des filmischen Affekts, so wie der Schlaf uns vergessen macht, es am Morgen einige Sekunden braucht, um zu erinnern, wer man denn eigentlich ist.

Die Filmindustrie will vor allem eines: psychologische Gutachten ausstellen. Sie tut dies, weil es sich rechnet, weil das Benennen vermarktbar macht, weil die eindeutige Markierung der filmischen Erzählung eine außerfilmische Funktion zuweist. Sie tut dies vor einem Raum Namenloser, einer
Masse Rezeptionskörper, zerstückelter Augen und Ohren, deren Schönheit in ihrem mosaikhaften
Erleben liegt, so wie Schönheit des Kinos zwischen den Zeilen zu suchen ist, nicht in den einzelnen
Bildern, sondern in den Fugen, dem Dazwischen, das durch die sicht- und hörbaren Bausteine
beschworen wird. Es muss doch darum gehen, Atheist zu sein, nicht rückzugreifen auf Erklärmuster, die außerhalb – die hinter – dem Kinosaal liegen. Es muss doch darum gehen, orgastische Schauer (1) im Kinosessel zu beschwören, in Wirbelsäule, Zwerchfell und Tränendrüsen einzudringen, allein durch das Dazwischen der Bilder.

Vielleicht kamen die Talkies wirklich zu früh. Kein Wunder, dass Leos Carax, Erneuerer des französischen Kinos, sich in seinen ersten zwei Filmen, seinen besten, so viel Vitalität, so viel Slapstick vom Stummfilm borgt. Und vielleicht ist Sprache wirklich eine Art Virus, eine Erbkrankheit, weitergereicht von Generation zu Generation, die unsere Körper infiziert, die hereinprasselnden Affekte kanalisiert, in eine gesetzliche Ordnung zwängt. Vielleicht war Bresson deshalb so gegen das abgefilmte Theater-Kino, das den Text, der doch der Bühne gehört, in den Vordergrund rückt. Verlockend der Gedanke, dass die Filme ihre Auslegung uns, und nicht ihren Figuren, überließen.

Es gibt einen schönen Spruch von Haruki Murakami, der besagt, dass man sich, wenn ein rohes Ei gegeneine Betonwand geworfen wird, immer auf die Seite des Eis stellen muss. Ich möchte an diese Ei-Werdung anschließen: es gilt sich auf die Seite des Kinos zu stellen, das Gänsehaut evoziert, es gilt, im Kino gänzlich werdend, gänzlich reisend zu sein, sich dem Ereignischarakter der filmischen Sequenz hinzugeben. Das Kino vermag es, die Rezeptionskörper in seinem Inneren durch seltsame Affekte in neuartige, seltsame Schwingungen zu versetzen, wunderliche Klänge zu erzeugen. Dagegen wird auf den Gräbern der Filme, die alles richtig machen, die sich mit dem bereits Benannten, dem Oberflächlich-Politischen, dem Anekdotischen befassen, eben dies geschrieben stehen: Sie haben immer alles richtig gemacht, sich immer an die ‚Regeln‘ gehalten.

Ich den ersten zehn Minuten eines Kinofilms schlafe ich oft ein, doch nicht weil die Filme mich müde machen – ganz im Gegenteil, das Kino ist nicht tot, untot vielleicht, da jeder gesunde Organismus sich durchs partielle Absterben am Leben hält – und erst recht nicht, weil ich den Filmen vertraue. Mein Misstrauen will ich ihnen doch schenken können, mir ihrer nicht sicher sein können, von ihnen in neuartige affektive Zonen voller Wunder und Perversionen katapultiert werden. Es liegt wohl eher daran, dass ich, seitdem ich 14 bin, zum Einschlafen Podcasts höre, mein Hirn darauf gepolt ist, Dunkelheit und körperlose Stimmen an Schlaf zu binden. Im Kino träume ich nicht. Die Zeit, bis ich mit schlechtem Gewissen hochschrecke, schlagartig wieder hellwach bin, ist zu kurz dafür. Dennoch macht der Schlaf mich vielleicht gefügiger, rückt mich näher an den vorsprachlichen Säugling heran, um die Welt im Kino als Kind zu erfahren. Kinder verachten die Welt der Erwachsenen mit all ihren Regeln, ihren Schulen, ihrer Politik. Doch gerade in seiner Unschuld, seiner Freude, liegt vielleicht das politische Moment des Kindes – und des Kinos.

(1) Am orgastischen Schauer im individuellen Rezeptionskörper lässt sich die gelungene filmische Sequenz rückwirkend ablesen: sie erstreckt sich von Ozus Apfelschale über Schraders Goldenen Pavillon bis hin zur Naheinstellung auf den Ehering an Patricia Arquettes Hand in Lost Highway.

Taubenblicke IV

Erster Blick des Tages: Kein Taubenblick, sondern ein Taubenfleck; die Vogelscheiße auf dem Fensterbrett

Die Krähe unter dem Schnurbaum im Regen stehend, als ginge sie das alles nichts an.

Das junge Mädchen unten im Park, das mit ihrem Hund spazieren geht, sagt in ihr Handy: „Halt deine verfickte blöde Schnauze“, und der Hund neben ihr schaut verlegen zur Seite.

Der Alkoholiker im Rollstuhl blickt auf die am Boden liegenden Sonnenblumenkerne, als schaue er in den Spiegel.

Die Menschen betreten den Supermarkt, als ob sie ihre Wohnungen betreten würden.

Der linkshändige junge Mann auf der Bank, seine zitternde zeichnende Hand

Die vielen Zigarettenstummel auf dem Boden, eine nicht zu entziffernde Sprache

Verwechslung: das Hin- und Herrollen einer Blechdose mit einem letzten Atemzug

Vom offenen Fenster hören: „Polizei! Stehenbleiben! Ich schieße!“ und draußen ist nur ein allein im Sandkasten spielendes Kind.

Abend im Park während des Ramadans, das einzige Geräusch: das Geklirr von Blechbesteck in der Souterrain-Moschee.

Letzter Blick des Tages: Der alte Asiate unten im Park beim Hunde-Spazieren, der „Rollin‘ on the River“ von Creedence Clearwater Revival vor sich hinsingt, und der Hund neben ihm schaut ihn liebevoll an.