Richard Leacock über Louise Brooks: Als ob es gestern gewesen sei

Ein Gespräch mit Richard Leacock über Louise Brooks. Das Gespräch fand 2006 in Paris statt.

„Für mich war klar, dass unser Gespräch im Mittelpunkt stehen würde, da ist der Titel A Conversation with Louise Brooks auch sehr präzise: Man weiß, worauf man sich einlässt. Oder auch nicht. Das ist schon so lange her! Wir hatten beide schon vorher miteinander telefoniert. Sie öffnete die Tür und bat mich, die Schuhe auszuziehen. Das tat ich.

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Ein sauberes, kleines Apartment. Eigentlich mochte sie keine Besuche, sie hatte irgendwie Angst, dass man ihr die Mietbeihilfe streichen würde, wenn bei ihr die Leute ein und aus gingen. Wir setzten uns, und sofort begann sie über G. W. Pabst zu sprechen, soweit ich mich erinnere. Das war ein einfacher und logischer Beginn, da wir ihn beide enorm respektierten. So viele Filme von ihr kannte ich gar nicht, aber natürlich die beiden, die sie mit Pabst gedreht hatte. Erst wollte sie diesen direkten Kontakt nicht, rief mich nur immer an aus Rochester, sie hatte ja da diese kleine Wohnung, und eines Tages vergaß sie wohl all ihre Vorsicht und hinterließ ihre Telefonnummer auf meinem Anrufbeantworter! Ich rief sie zurück, und endlich sagte sie zu. Und natürlich wollte sie ein Honorar haben. Ich wartete ab, dachte schon darüber nach, was ich alles würde verkaufen müssen, um mir das leisten zu können. Produziert habe ich den Film damals fürs deutsche Fernsehen. Sie war erst gar nicht begeistert von der ganzen Idee. Jahre vorher hatte dieser Amerikaner, der vom New Yorker … Kenneth Tynan … genau der! Der hatte irgendwelchen Unsinn angestellt, wilde Texte geschrieben, auf jeden Fall war ihr das alles später nicht recht gewesen. Und dann rief sie mich an und sagte, dass sie das Interview machen würde, ich müsste ihr aber einen Bankscheck mitbringen. Über 300 Dollar! Das muss man sich vorstellen, das ist ja nichts! Und was mit Tynan war, das weiß ich nicht so genau. Ich glaube, er hat einfach Dinge geschrieben, die sie ihm im Vertrauen gesagt hatte. So was macht man auch nicht: alles Mögliche erzählen und sich dann nachher wundern, dass es veröffentlicht wird! Es waren ja nicht alle so von ihr begeistert. George Cukor fragte mich später auch: „Was habt ihr nur mit der? Die ist doch völlig unwichtig!“

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Das Besondere an meinem Film war, dass einfach zwei Leute zusammensaßen, die Ahnung hatten, wovon sie sprachen. Das ist auch heute selten genug. Sie hat gerne und auch viel geredet: Als sie mich damals anrief, sagte sie noch, dass sie nun seit vier Tagen nichts getrunken habe und ihr Kopf frei sei. Das darf man bei ihr nicht unterschätzen: Das Trinken, das war tatsächlich schlimm. Ich kannte das damals selbst, wir wussten beide sehr gut Bescheid, besser, als gut für uns war. Vier Tage nichts getrunken, um mit mir reden zu können! Alles war in ihrem Kopf, als ob es gestern gewesen sei. Und viel zu Papst. Ja. Sie liebte Pabst, sie mochte überhaupt Männer, die ihr sagten, was sie zu tun hatte. Sie mochte Menschen um sich herum, die sie für klug hielt, die ihr etwas beibringen konnten. Sie hielt sich ja nicht für besonders klug, obwohl sie es doch war. Die Gespräche mit ihr, das war immer das reinste Ping-Pong-Spiel. Und ihre Texte später, sie hat einfach herrlich geschrieben, klug und wortgewandt, sie wusste, wovon sie sprach. Die Wohnung war voll von Büchern, aber über Bücher haben wir nicht gesprochen. Aber über Pabst. Und über Riefenstahl. Da war sie immer etwas eifersüchtig. Die tauchte ja immer am Set auf, schnappte sich Pabst, verschwand in die hinterste Ecke mit ihm; ich glaube, sie wollte ihn anheuern für ihre Truppe. Pabst hat immer auf Louise aufgepasst, hat ihr ununterbrochen irgendwas aus der Hand gerissen, entweder das Glas oder die Zigaretten. Und früh im Bett sein musste sie auch; das kannte sie so gar nicht, dass der Regisseur sich darum kümmerte, dass du wohlbehalten und vor allem früh genug im Hotel warst. Über Riefenstahl wollte ich auch immer was machen … Und ich sollte ja einen Film mit ihr machen, aber mein Deutsch war nicht gut genug, um mich wirklich mit ihr unterhalten zu können. Ich habe ja damals im Internat Deutsch gelernt, die Deutschlehrerin war …, ich war damals ganz verliebt in sie, und da habe ich eben Deutsch gelernt. Als Filmemacherin habe ich Riefenstahl immer sehr respektiert. Sie kannte Pabst, er hat ja auch für Hitler gearbeitet. Sie hat geschauspielert und Regie geführt, sehr geschickt war sie in allem. Triumph des Willens hat herrlich aufgelöste Szenen, diese kämpfenden Männer, und sie arbeitete mit Synchronton, das kannte man damals nicht. Vor der Büchse der Pandora kannte Pabst Louise nicht. Er wusste nichts über Louise. Es gibt doch diese herrliche Tanzszene am Anfang, diese Szene mit der Mundharmonika. Pabst wusste gar nicht, dass Louise tanzen konnte. Und so wartete er einfach mal ab, was sie denn da improvisieren würde. Und als er sah, dass sie tanzen konnte! Er schnappte sie nach dem Take und jubelte: Du kannst ja tanzen! Man stelle sich das vor: Er wirbelte sie herum und freute sich.

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Louise mochte ihn sehr und fühlte sich von ihm verstanden. Er kümmerte sich sehr um sie, ließ sie aber auch gleichzeitig in Ruhe. Er sagte ihr vor jedem Dreh einfach, was sie zu tun hatte: Geh die Treppe runter und schau traurig. Das tat sie dann. Er erklärte überhaupt keine Zusammenhänge. Er wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie erzählt ja in meinem Film, wie sie und Pabst sich am Bahnhof Zoo in Berlin trafen, als ob sie sich schon immer gekannt hätten. Solche Menschen gibt es. Manchmal trifft man sie. Mit Louise und mir war das auch so. Wir kamen gut miteinander aus. Sie sagte, ich hätte sie zum Lachen gebracht.“

Richard Leacock, drehte im März 1974 in Rochester für den Norddeutschen Rundfunk den mehrteiligen Interviewfilm A Conversation with Louise Brooks, der damals zusammen mit Die Büchse der Pandora ausgestrahlt wurde und hauptsächlich Brooks’ Erinnerungen an G. W. Pabst beinhaltet. Es ist einer von insgesamt drei Brooks-Interviewfilmen und war nach ihrer eigenen Aussage derjenige, der ihr den größten Spaß bereitet hatte.

Pabst-Retro: There Will Be Blood: A Modern Hero

In A Modern Hero zeichnet Georg Wilhelm Pabst auf den ersten Blick eine klassische amerikanische Aufstiegs- und Fall-Geschichte. Interessiert ist er aber eigentlich an dem, was sie antreibt: Der innere Zerfall durch Ehrgeiz. Es ist sein einziger amerikanischer Film geblieben. Wenn ich bisher nicht näher auf die problematischen biographischen Hintergründe von Pabst eingegangen bin, dann nicht weil ich sie ignorieren möchte, sondern weil ich mich der Politik aus Sicht der Ästhetik nähern möchte. Es ist erstaunlich, dass sich in A Modern Hero keines jener „deutschen“ Bilder findet, die noch wenige Jahre früher zum Beispiel seinen Die weiße Hölle vom Piz Palü bewegten. Es ist die (technische) Anpassungsfähigkeit, die erstaunlich bis abstoßend wirkt bei Pabst. Sein erster und einziger Hollywoodfilm ist stilistisch völlig dem amerikanischen Kino verschrieben. Zwar gibt es inhaltliche Auffälligkeiten mit europäischen Bezügen, aber darüber hinaus verschwindet die Seele des Filmemachers hier völlig. Seine Rückkehr ins Nazideutschland Ende der 1930er Jahre, seine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit Goebbels und seine ausbleibende Reue im Anschluss daran bleiben unverständlich, wenn man heute mit den linken Sentiments seiner früheren Arbeiten konfrontiert wird. Die Geschichten, die dazu geführt haben sollen, sind letztlich ohne Bedeutung.

A Modern Hero ist am Ende trotz seiner formalistischen Angepasstheit kein amerikanischer Film der Depressionszeit, er ist vielmehr ein Film über Amerika in der Depressionszeit (und darüber hinaus), den man im moderneren Kino vielleicht mit Dogville von Lars von Trier vergleichen kann.

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Ein Zirkusartist gespielt mit anbiedernder, schmeichelnder und betörender Körperlichkeit von Richard Barthelmess (dem Chinesen aus Broken Blossoms ) möchte sein, in seinen Augen, niederes Dasein verlassen. Er klettert mit unbedingter Konsequenz die Karriereleiter nach oben und wird zu einem erfolgreichen Unternehmer. Alles am Körper dieser Figur ist der eleganten Unmöglichkeit des destruktiven Ehrgeizes untergeordnet. Man könnte es wohl mit einer Mischung aus gesenktem Haupt und funkelnden Augen beschreiben, die für Sekunden die Welt versprechen, aber letztlich nur in sich selbst verkrampfen. Parallel zu seinen beruflichen Errungenschaften und in einer Wechselwirkung, die ihm gleichzeitig Aufstiege und Bekanntschaften ermöglicht, nimmt er sich auf jeder Stufe dieser Leiter eine neue Frau. Er bleibt ein Artist. Bis eine Stufe bricht und mit ihr alles andere auch in einem Leben, das den Boden verlassen hat. Aber, so meint Pabst, es gibt ja noch die Mutter, die der Film als Figur und Idee liebt wie nichts anderes. Allgemein liegt ein aus heutiger Sicht merkwürdig erscheinender Fokus auf der Bedeutung von Blut als DNA. Figuren scheinen nur zu dem werden zu können, was ihnen durch die Adern fließt. Der junge Artist hat den Ehrgeiz seines erfolgreichen Vaters geerbt, aber auch das Durchhaltevermögen seiner Mutter. Sein eigener Sohn strebt ihm nach und wie er selbst muss er erkennen, dass im Aufstreben ein Abgrund wartet. Das ist streng genommen eine Umkehr des amerikanischen Traums. In der Unmöglichkeit des Ausbruchs findet sich dann Liebe und Durchhaltevermögen, die in der verzeihenden Mutterfigur gipfeln.

Das ganze wird in unsichtbarer, handwerklicher Perfektion gefilmt. Das klingt fast als wäre es nicht hier und da mit virtuoser Brillanz gesegnet, die sich vor allem in einer enormen Präsenz der Körper dieses amerikanischen Schauspieles wieder findet. Man spürt den Druck und die Ambivalenz, die über dem Geschehen lastet. Genau diese Präsenz wird leider etwas durchkreuzt von der extremen Kürze des Films (71 Minuten), die zwar erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass Pabst es schafft ohne einen Anflug von Hektik eine epische Geschichte zu erzählen, der aber dennoch das Gefühl des Alterns abgeht, dass wir in harten Schnitten hinnehmen müssen. Es ist dies eine Sache, der ich immer wieder – vor allem in amerikanischen Filmen – begegne. Die Idee des Zeitsprungs, der eine Idee bleibt. Es gibt eine sehr schöne Aussage von Quentin Tarantino, als der über einen anderen zerfressenen Ehrgeizigen des amerikanischen Kinos spricht, nämlich Daniel Plainview gespielt von Daniel Day-Lewis in There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson. Tarantino spricht über den Anfang des Films und wie Plainview mit gebrochenem Bein durch den Staub robbt. Er sagt, dass es natürlich erstaunlich sei, dass dieser Mann alleine eine derartige Strecke mit einer derartigen Verletzung zurücklegen könne. aber alles, was Anderson bereits gezeigt habe von diesem Mann, alles was man in seinem Körper lesen könne, würde deutlich machen, dass wir alle wissen, dass dieser Mann diesen Weg zurücklegen kann. Und damit hat er Recht. Es geht hierbei um Notwendigkeit. Man muss nur zeigen, was man zeigen muss. Pabst ist ein Meister darin wie zum Beispiel sein grandioser Die Dreigroschenoper zeigt. In A Modern Hero jedoch scheint etwas zu fehlen. Vielleicht ist der amerikanische Traum zu leicht erreicht, vielleicht ist die Mutter nicht weit genug entfernt, um wieder nah zu sein. Vielleicht fehlt das Blut.

Pabst-Retro: Hybrid-Fever: Le Drame de Shanghai

Das Fieber, das westliche Regisseure mit ihren Blicken auf asiatische Metropolen und Stätten oft zu befallen scheint, ist voller Lust und Gefahr. Undurchschaubare Gesichter, die wir nicht kennen, Unbekanntes, der Abgrund fehlender Kommunikation. Eigentlich sind solche Inszenierungen heute nicht zuletzt aus politischer Sicht kaum mehr tragbar, aber es geht auch etwas daran verloren. Die Überhöhung und Fiktionalisierung des Blicks von Hollywood oder anderen westlichen Produktionen auf das Fremde ist mit problematischen Vorurteilen gespickt, sie ist aber auch voller Sehnsucht und Sensibilität. Heute haben wir eine Tendenz bei großen Produktionen gar keinen Blick mehr zu haben, also das Fremde einfach zu ignorieren statt zu versuchen ihm eine Materialität und/oder Stimme zu geben. Wenn jemand einen subjektiven Blick auf etwas Fremdes wirft, dann darf sich dieses Fremde natürlich als fremd offenbaren. Wichtig ist dann nur, dass der Blick als subjektiv reflektiert wird. Ansonsten scheint es mir essentiell, eine Anstrengung zu unternehmen. Die Bequemlichkeit einer Subjektivität muss hinterfragt werden. Nicht, weil man einen objektiven Film machen könnte, sondern weil man in die Subjektivität einen Zweifel legen muss. Man kann dem Fremden eine Stimme geben, man kann sich interessieren, zuhören, vielleicht darf erst dann Fiktion entstehen.

In Le Drame de Shanghai der bei der Retro im Filmarchiv Austria ohne Untertitel gezeigt wurde, findet sich die Tendenz des Fiebers genauso stark wie eine gegenläufige, die beständig die Handlung in einen geschichtlichen Kontext packen will. Dabei interessiert sich Pabst in dieser Adaption eines Romans von Oscar Paul Gilbert weniger für das Noir-Potenzial seiner mysteriösen Handlung als für eine Schicksalssinfonie zwischen Tochter und Mutter und dem Ziel diese Hölle zu verlassen. Doch die Schicksalssinfonie wird zu einem Echo und darin liegt die große Kraft des Films. Pabst macht hier ein Drama in Shanghai und ein Shanghai-Drama und sie gehen zusammen. Im Hinblick auf das moderne Kino, das sich solchen Orten nähert, wie jenes von Jia Zhang-ke oder jenes von João Rui Guerra da Mata & João Pedro Rodrigues macht Pabst hier einen großartigen Vorläufer, dessen Fiktionalität sich mehr und mehr auflöst bis sie in einem Messerstoß aus dem Film verschwindet, als hätte es sie nie gegeben. Die Emotion einer Identifikation wird von der Unaufhaltsamkeit einer Masse, die Geschichte repräsentiert, geschluckt.

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Das Gefühl des Eingesperrtseins durchdringt die ersten Filme der Pabst-Retrospektive mit Konstanz, es ist das Gefühl des machtlosen Wartens. Erzählt wird von Kay Murphy einer russischen Emigrantin und Sängerin und ihrer Tochter, die mit nervender Naivität in diese düstere Welt kommt, um sogleich wieder gehen zu wollen. Etwas hat sich verändert in Shanghai. Hinter den Kulissen tummeln sich Chinesen mit tödlichen Spritzen, kriminelle Organisationen, die sich mit schwarzen Drachen schmücken, lenken die Geschicke und letztlich auch das Schicksal der Sängerin. Manchmal fährt Pabst mit der Kamera durch die Menschen, die dem Gesang lauschen, manchmal brechen Unschärfen am Rand der Bilder die Gesichter der Massen auf. Diese Fahrten schaffen es allerdings nicht immer die etwas lieblosen Sets mit Gefühlen zu füllen. Dennoch sind es unruhige, bedrohliche Stimmungen, die sich etablieren und die spannenderweise in einem französischen Gesicht ihren ambivalenten Höhepunkt erreichen. Louis Jouvet (Entre onze heures et minuit ist er immer am schönsten) mit einer Narbe auf der Stirn, das Vertrauen einer Rasierklänge erweckend. Ansonsten lockert Pabst das geschehen über eine Howard Hawks-artige Journalismusgeschichte auf, die egal in welcher Situation möglichst unberührt von alledem abläuft. Was schon im Titel klar ist: Es ist ein Drama, keine Komödie und Pabst hält sich an diese Vorgaben aus dem Theater.

Nach und nach werden immer mehr Found Footage Aufnahmen aus China im Film integriert. Der Freiheitskampf, Menschen auf den Straßen, der Chinesische Bürgerkrieg in den 1930ern. Pabst vermischt virtuos melodramatische und journalistische Element bis alles zu einer einzelnen Bewegung, jener des Dramas wird. Was zunächst wie das große Drama inszeniert wurde in Nahaufnahmen der Augen von Christiane Mardayn, der Zusammenführung unterschiedlicher Linien zu einer Katastrophe, erscheint plötzlich trivial. Es ist nur, was man erzählen kann, nicht was wirklich war. Ein erstaunlich moderner Film.

Pabst-Retro: Stop n‘ Go: Der Letzte Akt

In den kommenden Tagen und Wochen findet im Filmarchiv Austria im Metrokino eine Retrospektive zum Schaffen von Georg Wilhelm Pabst statt. Hier sollen möglichst viele kürzere Texte über Filme und Motive seines Schaffens entstehen, die die Schau begleiten und aus ihr einen frischen Eindruck eines großen deutschen Filmemachers gewinnen wollen.

Wie zeigt man den Tod von Hitler? Um diese Frage kreist sich Pabsts Der letzte Akt, der eine frühere und in vieler Hinsicht bessere Variante von Oliver Hirschbiegels Der Untergang darstellt und dennoch untragbar scheint. Wie in der moderneren Variante spielt ein Volksschauspieler Hitler, Albin Skoda. Vielleicht ein logischer Schritt, vielleicht liegt schon hier eine Überhöhung. Auf den ersten Blick scheint es logisch, dass man für die Rolle des Hitler einen großen Darsteller braucht, auf den zweiten wäre ein kleiner oder keiner vielleicht auch interessant. Es geht um die letzten Tage im Bunker, die Pabst mit einer großen Liebe zum weitwinkligen Schattenreich früherer deutscher Bildstrategien inszeniert und mit mancher Brutalität beziehungsweise einem Moralapostel in Form eines völlig fehlbesetzten (Lukas Foerster empfand dieses Overacting als subversives und gelungenes Element im Film) Oskar Werner, aufweicht. Es sind die scheinbar gleichen Quellen auf die sich die Filme stürzen, es passiert das gleiche, nur dass bei Hirschbiegel mehr Emotionalität zugelassen wurde, vielleicht auch dem zeitlichen Abstand „geschuldet“. (Der Hund, zum Beispiel, stirbt nicht bei Pabst).

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Wie aber lässt man nun Hitler sterben? Der Vorschlag wäre und so wolle es auch Erich Maria Remarque, der die Filmnovelle schrieb, auf der Der letzte Akt beruht, dass Hitler stirbt wie eine Ratte im Keller. Nicht so mit Pabst, denn Pabst flirtet zwar mit der absurden Demaskierung, die Aleksandr Sokurov in seinem Moloch und auch The Sun praktiziert, aber am Ende macht er einen Film, der Hitler wohl gefallen hätte. Hitler stirbt nämlich nicht im Bild. Flammen bleiben, das Feuer und eine Warnung. Es ist sicherlich ein gut gemeinter Versuch, die Person gegen ihren eigenen Willen zu instrumentalisieren, als Mahnmal, aber dem Ganzen haftet so ein Geschmack von „Aus Fehlern lernt man.“ an, also auch ein Verzeihen, das absolut problematisch ist. Die Kamera spielt die Inszenierungsstrategien ihrer Subjekte hier mit. Sie blickt nicht durch sie hindurch, es ist ein Film, der immer noch paralysiert scheint von Nazideutschland, der auch ganz klar zeigt, dass Pabst unter anderem eng mit Leni Riefenstahl zusammenarbeitete in früheren Arbeiten und indem es keine Banalität gibt, sondern nur den Horror, die Ehre und die Angst.

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Wie sehr sich Pabst mit dem Rhythmus der Nazis identifiziert zeigt sich auch in seiner Montage beziehungsweise seinem Erzählrhythmus. So gibt es ein beständiges Stop n‘ Go, dass mit militärischer Präzision die zackigen Bewegungen der Soldaten und Offiziere nachempfindet, das „Jawohl“, das Pabst narrativ anprangert und die Stiefel, die gegeneinander schlagen bevor sie auf Befehle warten, zu einem ästhetischen Programm werden lässt. Ein Beispiel findet sich in der außergewöhnlichen Tanzszene der Schattenangst in der Schenke des Führerbunkers. Eine Frau beginnt einen wilden Striptease, die Zügel fallen auf den blutigen Boden und plötzlich knallt es, das Licht geht aus. Es ist ein Stop in dieser Bewegung, der sogleich weitergeht, wenn das Licht wieder angeht und wir uns im wilden Kuss zweier Verzweifelter finden. Immer wieder bewegt sich der Film so vorwärts. Warten-Gehen-Stoppen-Weitergehen-Warten-Gehen…das Problem ist, dass es immerzu eine Bewegung nach vorne gibt. Was wir vergessen in diesen Bewegungen, die nicht akzeptieren wollen, die sich in eine Körperlichkeit retten, um zu vergessen, dass sie sterben werden, ist dass sie selbst eine Schuld daran tragen. Die Flammen eines Fiebers scheinen hier zu glühen, als wäre alles nur ein Traum, eine Erinnerung aus dem Schattenreich. Eine verdrängende Erinnerung, die nach vorne gerichtet ist und daher zum Verschwinden verdammt ist. Was wir nicht vergessen sollen laut der expressionistischen letzten Szene, ist dass so etwas nie wieder passieren darf. Und man fragt sich tatsächlich, was Pabst meint: Man darf nie wieder blind solchen Leuten folgen? Okay. Aber auch: Deutschland darf so etwas nie wieder passieren? Die armen Deutschen und G. W. Pabst…

Der letzte Akt ist ein beeindruckender Film des Verdrängens, wo er es nicht sein dürfte. Am schlimmsten daran ist, dass er eine Attraktivität in diesen Bunker legt, die einen die Tabus überwinden lassen will. Eine Idee den Tod von Hitler zu zeigen, wäre es, den Tod von Hitler zu zeigen.

Die Geister, die ich rief: Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

Geister der Vergangenheit, Phantome der Filmgeschichte. Wenn Filme miteinander in Dialog treten ist das immer eine spannende Sache. Während im Zeughauskino weiter die Autorinnen der 60er das Sagen haben, zeigte das Arsenal Kino Sonntagabend Georg Wilhelm Pabsts Tagebuch einer Verlorenen. Pabst ist natürlich keine Frau, sondern ein Mann, aber Thymian Henning (Louise Brooks in eine ihrer größten Rollen), die titelgebende Verlorene, ist eine Figur, die in vielerlei Hinsicht den Frauenfiguren der Autorinnen rund vierzig Jahre später voranschreitet.

Zunächst scheint Thymians Welt noch von Männern und der patriarchalischen Gesellschaft bestimmt. Sie wird vom Angestellten ihres Vaters vergewaltigt und geschwängert. Dieser will sie nicht heiraten und so schiebt sie der Familienrat ins Reformhaus ab. Ja die Familienehre, die muss um jeden Preis hochgehalten werden. Die naive Thymian wächst in der Erziehungsanstalt zur Heldin heran. Sie will raus aus diesen ungastlichen Mauern, zurück in die Welt, zurück zu ihrem Kind und etwas aus ihrem Leben machen. Der Schlafsaal wird schließlich zum Ort der Rebellion (wie bei Jean Vigo, einem anderen großer Virtuosen des harmonischen, fließenden Lichtspiels). Zusammen mit ihrer Freundin Erika büxt sie aus und landet schließlich im Bordell. Ein paar tragische Todesfälle später und Thymian kehrt als Gräfin an den Schauplatz ihres Erwachens zurück. In einer letzten großen Geste, der endgültige Triumph: Ihre Freundin Erika ist wieder in dieser menschenverachtenden Erziehungsanstalt gelandet. Thymian will die Heuchlerei der adeligen Damen, die sie in ihren Weltverbessererverein aufgenommen haben nicht mitmachen, stellt sich schützend vor Erika und nimmt sie einfach mit, denn „auch ich war einmal, was sie jetzt ist“.

Anders als die Heldinnen der Autorinnenfilme der 60er Jahre, behält Thymian die Oberhand. Obwohl sie zunächst den Männern hilflos ausgeliefert ist, folgt ein umso radikaleres Erwachen, das in Revolte gegen Scheinheiligkeit und Bourgeoisie endet. Thymian ist Klassenkämpferin und Suffragette und nimmt sich schließlich eiskalt was sie braucht, indem sie das Mitleid und die Schuldgefühle des alten Grafen, der sie aufnimmt zu ihrem Vorteil nutzt. Zwar bleibt sie dadurch abhängig von dessen finanziellen Mitteln (auch Thymians Emanzipation ist nicht vollständig), doch ihr Handeln ist kompromisslos. Anders als die Belle Starr aus Lina Wertmüllers Il mio corpo per un poker gibt sie nicht ihren Gefühlen für einen Mann nach. Anders als die Eva in O něčem jiném bleibt sie nicht in der Maschinerie gefangen, die ihr selbst das Leben vermiest hat. Anders als die Antigone in Liliana Cavanis I cannibali, muss sie ihren Aufstand nicht mit dem Leben bezahlen. Und anders als Nelly Kaplans Marie in La fiancée du pirate, muss sie ihre Freiheit nicht mit ihrem Körper erkaufen.

Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

In einem entscheidenden Punkt bleibt Thymian jedoch hinter all jenen späteren Figuren zurück: Sie ist keine Frau, sondern eine Traumgestalt. Selbst in der Tristesse der Beziehungsanstalt behält sie ihr gestyltes Äußeres, nachdem sie die Schwierigkeiten ihres Lebens einmal überwunden hat, fällt ihr alles ganz einfach zu. In Büchse der Pandora ließ er Brooks‘ Figur noch elendiglich zugrunde gehen, nun bleibt sie Siegerin – ist das Inkonsequenz oder passt diese Wendung des Schicksals in das Gesamtbild des Films, dieses märchenhafte Konstrukt? Tagebuch einer Verlorenen ist ein doppelter Schwanengesang: 1929 als die Weltwirtschaftskrise das Ende der Roaring Twenties einläutete und die Filmemacher die (Stumm-) Filmkunst perfektioniert hatten, findet die gleitende, über alle Zweifel erhabene Montagekunst Pabsts ihr Ende. Die Einführung des Tonfilms sorgte für neue Herausforderungen, die zu einem neuen, sehr spannenden Stück Filmgeschichte führen. Auch inhaltlich scheint eine Geschichte wie jene von Thymian in den frühen 30ern undenkbar (ein Schicksal, dass sie mit Harold Lloyd teilt); die Zeit der Märchen war bis auf weiteres vorbei.