Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Bocamina von Miguel Hilari

Text: Leonard Krähmer

Cerro Rico, der reiche Berg, lautet der spanische Name für jene berüchtigte, knapp 4800 Meter hohe Erhebung in den bolivianischen Anden. Die indigene Lokalsprache Quechua, die dort oben mehrheitlich gesprochen wird, setzt einen ungleich ästhetischeren Akzent: Sumaq Urqu, der schöne Berg, eine zutreffend verbalisierte Sinneswahrnehmung, wenn man sieht, wie er im Schlussbild von Bocamina von Miguel Hilari mächtig und allesüberragend thront, über der Stadt Potosí, die daliegt, als hätte der Berg sie ausgespuckt. Und irgendwie stimmt das ja auch. Die spanische Bezeichnung kommt nicht von ungefähr, sondern aus dem Berginneren, wo der Reichtum lagert(e), der Potosí einst zur Keimzelle des Welthandels machte. Das ist lange her. In Gaspar Miguel de Berríos barockem Kartengemälde von 1758 – zu Beginn von der Kamera in einer vertikalen Schwenkbewegung von Norden nach Süden abgefilmt– blitzt die sogenannte Blütezeit einer Stadt auf, die damals noch Villa Imperial de Potosí hieß. Der Name verrät, was die Karte verschweigen muss: Heute sind die gigantischen Silbervorkommen nahezu ausgeschöpft, der Berg wurde von der spanischen Krone gewaltsam ausgehöhlt, dieser Berg, mit dem die ansässige Bevölkerung schicksalhaft verbunden scheint. Ausbeutungsverhältnisse – ökologisch, ökonomisch, kolonial – haben sich in die Landschaft eingegraben wie die Mineros ins Berginnere; postkolonial meint hier den Fortbestand kolonialer Strukturen auch nach ihrem vertraglichen Ende.

Drinnen im Berg wuchern Stollen ohne Struktur, sie sind nicht zu kartografieren und vor allem: dunkel. Stirnlampen an Helmen werfen Lichtkegel in die Finsternis, scharf konturiert und gebunden vom giftigen Staub, der die Lungen befällt. Zündschnüre werden platziert, dann eine dumpfe Explosion. In den fragilen Tunneln nach verbliebenen Silberadern zu bohren, ist für die Menschen in Potosí alternativlos, seit die Massenextraktion das Ökosystem aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Davon erfährt man, wenn überhaupt, in den Gesprächen, die Miguel Hilari mit Schulkindern führt. Bocamina fragt nach der Vermittlung eines Vermächtnisses, das sich der Historisierung entzieht, weil die Nachgeborenen in ihm weiterleben, ob sie wollen oder nicht. Ein Museum gibt es trotzdem. Hier findet sich die Karte von 1758 wieder, auf der die Kinder ihre Häuser und die Schule verorten, bis ein Junge die Schere zwischen historischer Darstellung und Gegenwartswirklichkeit bemerkt. Das ist das alte, imperiale Potosí, nicht das moderne, in dem sie leben. Sergios Haus ist darauf nicht verzeichnet.

Es gibt außerdem Arbeiter*innenfotos vom Beginn des 20. Jahrhundert, aus denen Roland Barthes’ Es-ist-so-gewesen-Noema der Fotografie flüstert. Aber wie ist es heute? Nur die Mode habe sich verändert, die Arbeitsutensilien in den dunklen Kammern des Cerro Rico seien dieselben geblieben, meinen die Kinder in ihren Schuluniformen. Geblieben ist jedenfalls der mythische Wissensschatz, die Überantwortung des Lebens an Mutter Erde und El Tío, der den schönen, reichen Berg bewohnt, der Menschen frisst. Miguel Hilari beantwortet die Frage nach dem Heute mit stillen Porträtaufnahmen der Mineros: die Gesichter zerfurcht, die wachen Augen gewöhnt an die Dunkelheit, einer kaut Coca-Blätter als Filter gegen den Schmutz. Später werden die Schüler*innen – die älteren unter ihnen schuften bereits in den Silberminen – auf die gleiche frontale Weise gefilmt. Der Berg ist seit Jahrzehnten hochgradig einsturzgefährdet, die Blicke der Menschen halten der Kamera stand.