Text: Max Grenz
“1932 – Crise dans le monde capitaliste” – von der globalen Krise des Kapitalismus berichtet der Off-Kommentar zu Beginn des Films. Dazu sieht man: ein Wagon auf Eisenbahnschienen – die Totale eines Güterhafens – dann eine Gruppe Arbeiter vor den Toren einer Fabrik. Die Bilderfolge ist bekannt und irritiert doch. Es könnte der typische Auftakt einer Montagesequenz über die Produktivkräfte der Industrie sein, doch die Bilder scheinen wie gelähmt: Der Wagen steht ausgekoppelt im Nirgendwo, der Güterbahnhof liegt wie ausgestorben da und die Arbeiter warten draußen vor der geschlossenen Eingangstür. Nutzlos stehen sie herum, einige reiben sich die Hände, lassen den Blick schweifen. Vom Innenhof aufgenommen, erscheinen sie wie Eingesperrte hinter den Gitterstäben des Tores.
Seit Anbeginn des Kinos verbinden wir das Bild von Arbeiter:innen und Fabriktoren mit dem gleichmäßigen Strom des Eintretens oder Verlassens der Fabrik. Eine gerichtete Bewegung von Menschen und den Gütern, die sie produzieren. Misère au Borinage führt diese Sehgewohnheit in eine ästhetische Krise, die dem Zustand der Wirtschaft in der Wirklichkeit gleicht. Education par l‘image heißt die Produktionsfirma des Films, Bildung durch Bilder.
Bewegung kommt erst ins Bild, als die Konsequenzen der weltweit stockenden Warenzirkulation gezeigt werden. Kanister Milch werden mitten auf der Straße ausgeschüttet, Kaffeebohnen verschwinden säckeweise im Wasser, Kornfelder gehen in Flammen auf. Auf den Stillstand der Produktion antwortet eine Bewegung der Verschwendung. Ein Überfluss an vorhandenen Waren, der jedoch nicht zur Verbreitung von Wohlstand genutzt wird. Stattdessen werden die Waren vernichtet, weil ihre ausbleibende Zirkulation auch den Fluss des Geldes hemmt. Das Motiv von Überfluss und Verschwendung zieht sich wie ein roter Faden durch den Film: So folgt auf die Zwangsräumung einer Wohnung ein Bericht über leerstehenden Wohnraum. Später sieht man Kohlearbeiter:innen mitten in der Nacht von riesig rauchenden Kohlebergen klauen, weil ihr Lebensunterhalt nicht zum Heizen reicht. Am Ende mündet dieser Widerspruch kapitalistischer Wirtschaft in der absurden Gleichung, dass mit der Anhäufung von Gütern auch die Anzahl der Arbeitslosen proportional steigt.
Die Widersprüche verdichten sich das erste Mal zum offenen Konflikt in gespenstischen Aufnahmen einer gewaltsamen Streikauflösung in Pennsylvania. Hier stehen die Arbeiter:innen geschlossen der Staatsgewalt gegenüber, obwohl die erklärten Polizisten eher wie eine Mischung aus Industriellen, Schlägertrupps und Gangstern aus einem Genrefilm aussehen. Andere wiederum lassen sich kaum von den Arbeiter:innen unterscheiden, auf die sie mit ihren Gewehren zielen. Im konfrontativen Stillstand kündigt sich die unvermeidliche Eskalation an, noch bevor der Off-Kommentar die fallenden Schüsse vorwegnimmt. Unruhig schwenkt die Kamera über das zunehmend unübersichtliche Geschehen. Zuerst bricht die Gewalt im Hintergrund aus, gerade so am äußeren Rand der Einstellung eingefangen. Schnell breitet sich Chaos aus, Gewehrschüsse lassen das Bild in Rauchschwaden verschwinden, Menschen stoßen zusammen und fliehen auseinander. Am Ende liegt eine Person regungslos am Wegrand, zwei Polizisten sind über sie gebeugt. Wie viele Todesopfer es gab, bleibt ungewiss.
Es ist die einzige Szene physischer Gewalt in Misère au Borinage und doch schwebt sie über allen folgenden Szenen, die sich vor allem den Lebensumständen der Kohlearbeiter:innen in der belgischen Industrielandschaft Borinage zuwenden. Zunächst löst der Film an diesem Ort doch das Versprechen menschlicher Produktivkräfte in der Bilderfolge ein. Die Montage des Kohleabbaus folgt jedoch nicht dem Weg der Ware, sondern dem der Arbeiter*innen. Aus dieser Perspektive verlässt den Stollen am Ende kein gewonnener Rohstoff, sondern ein verlorenes Menschenleben, das Opfer eines Unfalls am ungesicherten Arbeitsplatz wurde. Ein großer Teil des Films ist der akribischen Dokumentation der miserablen Lebensumstände der Arbeiter:innenfamilien gewidmet, wobei besondere Aufmerksamkeit auf der körperlichen und geistigen Gesundheit der Kinder liegt, die oft für den Rest ihres Lebens beeinträchtigt ist.
Im Angesicht dieser äußersten Armut beschwört der Off-Kommentar eindringlich die Notwendigkeit sozialistischer Revolution. Interessanterweise dokumentiert Misère au Borinage bei allem agitatorischen Duktus indessen meistens Protestformen, die sich durch demonstratives Nichtstun, eine Verweigerung der Produktivität auszeichnen. Zum Beispiel treffen sich zur Umgehung des Versammlungsverbots Streikende in Fünfergruppen zum Kartenspielen auf der Straße. In einer späteren Szene wird die Räumung einer Wohnung verhindert, indem Arbeiter:innen aus der Gemeinschaft den ganzen Tag die Möbel besetzt halten. In diesen Momenten findet der Film andere Bilder für die Macht der Arbeiter:innenklasse, jenseits einer fatalen Eskalation der Gewalt, auf die sich die Weltgeschichte zum Zeitpunkt seines Entstehens eingelassen hat.