Il Cinema Ritrovato 2018: Songs of Bologna

Early Spring von Yasujiro Ozu

Das diesjährige Il Cinema Ritrovato war für mich nicht nur ein Film-, sondern auch ein Musikfestival. Es begann mit den sicherlich fragwürdigen, aber dennoch nicht unsympathischen Einstimmungsperformances auf der Piazza Maggiore (eine Mariachi-Band vor Enamorada von Emilio Fernández, ein gitarrenbewehrter Pfeifvirtuose, der vor C’era una volta il West Ennio-Morricone-Hits zum Besten gab) und zog sich wie ein Orgelpunkt durch meinen ganzen Bologna-Aufenthalt, im Kino wie außerhalb. Was mir dabei besonders im Ohr blieb, waren weniger einzelne Songs oder Musikstücke als der Klang von Vergemeinschaftung.

In Filmen unterschiedlichster Herkunft und Datierung wurden Lieder gesungen, um den Zusammenhalt einer Gruppe zu stärken. Gesang gibt die Kraft, um bei der gemeinsamen Sache zu bleiben – ganz gleich, welche Sache das sein mag, egal, ob die Gruppe willentlich formiert wurde oder aus Zufallsbekanntschaften besteht. Die verschütteten Minenarbeiter, die in Luciano Emmers La ragazza in vetrina „Bésame mucho“ anstimmen, um in tiefster Not den Überlebenswillen zu stärken. Die vom Leben enttäuschten Salarymen, die in Yasujirō Ozus Sōshun beim Sake-Besäufnis schunkelnd alte Hadern plärren, um die triste Nachkriegsstimmung zu heben. Die rechtsnationalen Tatenokai, die in Paul Schraders Mishima: A Life in Four Chapters auf dem Weg zum Staatsstreich eine Ballade über Pflicht und Ehre intonieren, um sich moralisch zu wappnen.

Am lautesten tönten solche musikalischen Schulterschlüsse, kaum überraschend, in der sowjetischen Programmschiene des Festivals. Zum einen aufgrund ihrer propagandistischen Note (no pun intended), zum anderen, weil der Sowjet-Tonfilm im Jahr 1934, dem die Sektion gewidmet war, gerade richtig durchstartete und erpicht darauf war, seine mannigfaltigen Fertigkeiten wirkungsvoll unter Beweis zu stellen. Mit Garmon von Igor Savčenko fand sich sogar ein gestandenes Musical in den Reihen der Auswahl. Das eindrücklichste Gesangsmoment gehörte allerdings Yunost‘ Maksima von Grigorij Kozincev und Leonid Trauberg: Dort winden Bolschewiki in zermürbender Kerkerhaft zwecks Widerstand die „Warschawjanka“ aus ihren Kehlen. Als Wärter in ihre Einzelzellen stürzen, sie mit roher Gewalt niederringen und versuchen, ihnen die Münder zuzuhalten, verselbständigt sich das Lied, erobert die Tonspur und gerät durch die Gefängnismauern hindurch zum ungreifbaren, unbezwingbaren Gespenst der Freiheit. Auch wenn das Stilkonzept aus heutiger Sicht plump emotionalisierend wirkt, hat es kaum an Kraft verloren: Zu dringlich die Brutalität der Bilder, zu wuchtig der abrupte formale Befreiungsschlag.

Die Voraussetzung solcher Sequenzen ist die Vorstellung, dass es Lieder gibt, die gekannt werden. Vielleicht nicht von allen, aber zumindest von einigen. Das schönste Beispiel dafür wäre die erwähnte Emmer-Szene: Dort kürt der von Lino Ventura gespielte Minenarbeiter bewusst „Bésame mucho“ zum Durchhaltesong, weil er annimmt, dass auch der zusammen mit ihm und seinem italienischen Kumpel verschüttete Afrikaner das Lied kennen müsste. Ein italienischer Schlager wäre doppelt unangemessen: Zum einen sind alle drei Männer Gastarbeiter in Holland, also Fremde unter sich. Zum anderen sind sie hier unten – für einen endlosen Augenblick aufs nackte Leben reduziert und eingerußt vom Kohlestaub – alle schwarz.

Ich habe den Eindruck, dass Filmszenen dieser Art immer seltener werden. Vielleicht hat das damit zu tun, dass es (abseits von politischen Veranstaltungen und Fußballfanmeilen) immer weniger Lieder gibt, die von allen oder zumindest einigen gekannt werden, und zwar in einer Art und Weise, die zum spontanen, bruchlosen, kollektiven Gesang befähigt – jedenfalls außerhalb der relativ eingehegten, überschaubaren Enklave der Jugendzeit. Womöglich ist das der Grund für die Begeisterung, die dem Einsatz von Britney Spears’ „Everytime“ in Harmony Korines Spring Breakers aus vielen Ecken entgegengebracht wurde: Er weckte die Erinnerung an das gemeinschaftsstiftende Potenzial von Musik im Dunst einer zerfaserten Wirklichkeit, den Glauben, besagtes Potenzial gehöre nicht der (privaten und sozialen) Vergangenheit an. Eins ist klar: Heute muss sich jeder seine Lieder selber suchen. Oder selber machen. Und, wenn möglich, angstfrei selber singen. In der Hoffnung, dass andere einstimmen. Auch, wenn keiner richtig zuzuhören scheint.

No Trouble in Paradise: Gedanken zum Il Cinema Ritrovato

Das Il Cinema Ritrovato ist ein angenehmes Festival. Man fühlt sich hier wohl. Genauer gesagt: Man fährt hier nicht zuletzt hin, um sich wohlzufühlen. Im Kino, aber auch außerhalb. Würde das Il Cinema Ritrovato in Grönland stattfinden und nicht in Bologna, würden bestimmt auch einige Menschen kommen. Aber sicherlich weniger mit dem erklärten Ziel, sich wohlzufühlen.

Im Grunde bleibt einem hier gar nichts anderes übrig. Falls man nicht beruflich da ist und sich nicht vom überbordenden Filmprogramm stressen lässt (und auch nicht vom eigenen Leben gestresst wird), drängt sich der Wohlfühlfaktor regelrecht auf. Schon beim Verlassen des Kinos springt einen Entspannung an. Die (manchmal bruzelheiße, aber meist doch eher wohlig warme) Sonne, der schlurfige Rhythmus in den Straßen, das immer mindestens nicht schlechte und auch halbwegs preiswerte Essen, all das trägt bei zu einem Nicht-mehr-groß-Nachdenken über das Wie und Warum des Festivals bei, zu einem Hineingleiten in einen reinen Urlaubs-Modus, also in das, was eine der Schienen hier als „The Cinephile’s Heaven“ umschreibt.

Was ist das für ein Himmel? Was wird hier gezeigt? Alles Mögliche, ist man zunächst geneigt zu sagen. Aber dem ist natürlich nicht so. An Bologna lässt sich ganz gut ablesen, was sich der statistische Durchschnittscinephile von heute so unter angenehmem und schönem Kino vorstellt. Das ist erstmal eines, das tendenziell eher vor 1980 entstanden ist. Oder, besser noch, vor 1960. Zuvorderst liegt der historische Fokus natürlich an den Wurzeln des Festivals in der Archivkultur (und seiner fortwährenden Bedeutung für selbige). Am Impetus, vor allem jenes Kino zu hegen, zu pflegen und hervorzuheben, das ganz akut vom Verschwinden und Vergessen bedroht ist, sprich: Filmgeschichte. Man liest es schon im Titel der Veranstaltung. Nur drängt sich hierbei die Frage auf, ob heutzutage nicht jedes Kino Filmgeschichte ist, auch rezentes und aktuelles, wenn es nicht gerade in den eigentlich sehr, sehr kleinen Kulturkanon integriert wurde, der außerhalb der cinephilen Blase existiert. Und ob dieses Kino nicht ebenso vom Verschwinden und Vergessen bedroht ist wie das von 1910. Nein, höre ich schon die Experten im Kopf! Wird schon stimmen.

Man trifft hier viele gemütliche alte Herren, gechillt vor sich hin trottende Schildkrötenmenschen, freundlich-sympathische Schwelger und Schlemmer. Nicht nur, aber doch. Wenn man nicht aufpasst, wird man Stück für Stück selbst zu einem – denn eigentlich will man es ja. Ein Hauch von Florida liegt in der Luft, von Brighton, von der Côte d’Azur und anderen Enklaven der Behaglichkeit. Nahezu jeder Text, der über das Il Cinema Ritrovato geschrieben wird, dieser eingeschlossen, ist irgendwie auch ein Werbetext.

Natürlich wird hier auch viel gearbeitet, nebenher und zwischendurch. Pläne werden geschmiedet, Abmachungen getroffen, Deals ausgehandelt, Preise verliehen, Retrospektiven konzipiert – über und unter der Hand. Etliche Besucher sind hier nicht nur zum Spaß, denn beim Il Cinema Ritrovato verwaltet sich die Zukunft der Vergangenheit des Kinos. Hier entscheidet sich wahrscheinlich mehr als anderswo, was aus dem bodenlosen Reservoir der Filmhistorie gefischt und in den Kinematheken der Welt zum Trocknen aufgehängt wird.

Wieder stellt sich die Frage: Was genau? Die Antwort scheint im Großen und Ganzen eher weich zu sein. Soll heißen: Klassisch, schön, groß, universell, studioproduziert, national, repräsentativ, zugänglich, eben: angenehm. Wiederum: Nicht nur, aber doch. Unerhörtes ist mir hier bislang nur selten zu Ohren (und Augen) gekommen. Spannendes, Interessantes, Unbekanntes, Berührendes, Beglückendes und Bezauberndes – allemal. Aber kaum etwas, das wirklich befremdet. Das Il Cinema Ritrovato ist kein Hofbauerkongress, kein /Slash-Filmfestival, auch kein Courtisane. Muss es natürlich nicht sein. Aber bei über 400 präsentierten Filmen und einem Ruf, das Festival für Filmgeschichte zu sein, kristallisiert sich hier nach ein paar Besuchen doch ein Bild davon heraus, was von den Entscheidungsträgern mit Handkuss und offenen Armen in selbige aufgenommen wird und was halt ausnahmsweise auch noch rein darf.

Dem kann man natürlich auf vielen Ebenen widersprechen: Kanonisch im strengen Sinne ist ja abseits der großen Restaurierungen doch gar nicht so viel von dem, was hier läuft. Und gezeigt werden ja auch Cinemalibero-Repräsentanten, 68er-Widerstandsfilme, etc. Überhaupt ist die Frage danach, was denn genau transgressiv, aufrüttelnd und radikal ist, eine Angelegenheit der subjektiven Individualerfahrung und des Kontextes, und warum soll nicht auch und gerade ein Melodram von John M. Stahl aus den Dreißigern jener Film sein, der formal wie inhaltlich, wenn man nur ein bisschen genauer hinschaut, alles über den Haufen wirft, Grenzen sprengt und politische Funken sprühen lässt? Stimmt alles.

Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass viele Leute enttäuscht wären, wenn sie hier in einem Jahrgang nur Guy Debord und Glauber Rocha und Ritwik Ghatak vorgesetzt bekämen. Oder nur Maya Deren und Jocelyne Saab. Oder nur Joe D’Amato und Jürgen Enz. Weil das dann doch nicht so recht zum Entspannungscharakter passen will, den das Il Cinema Ritrovato nun mal auch hat. Zur Entspannung gehört nämlich auch ein gewisses Maß an Konsens, und der wird hier sachte, aber doch, auch im Filmhistorischen aufrechterhalten. Natürlich ist es müßig, sich darüber zu beschweren. Aber ganz ausblenden sollte man es nicht.

Denn diese Engführung von Filmgeschichte und Gemütlichkeit, die hier in Bologna gelebt und genossen wird (auch von mir), hat schon etwas leicht Bedenkliches. Klar: Das Politische einer solchen Veranstaltung liegt auch daran, dass sie nicht politisch sein muss. Dass das Kino, ganz gleich welcher Art, hier einfach nur für sich stehen darf. Im Idealfall reist es dann später von Bologna aus in die weite Welt und wirkt dort seine Wunder. Aber müsste es seinen alten, staubigen Mantel dafür nicht schon hier gegen leichte Reisebekleidung tauschen?

Ich meine damit selbstverständlich nicht die fein – oftmals geradezu peinsam fein – rausgeputzten Digitalrestaurierungen, die hier vorgestellt werden und „angegraute“ Filme „zukunftsfit“ machen sollen. Ich meine eher den Zugang, der hier bewusst wie unbewusst zum historischen Kino kultiviert wird und eine gewisse Distanz zur Leinwand und zur Welt befördert. Das Il Cinema Ritrovato, auch das entnimmt sich schon dem Titel der Veranstaltung, ist letztlich eben doch ein Festival der alten Filme.

Das spürt man in den Einführungen und Katalogtexten, bei denen es immer mehr um historische Einbettung und Kontextualisierung geht als um abenteuerliche Interpretationen oder Verknüpfungen mit abgelegenen Gedankenfeldern. Das merkt man am Diskurs, der sich meistens in vom Festival abgesteckten Referenzrahmen bewegt. Auch an den Gästen, die geladen werden, um zu erzählen, wie es damals war. Natürlich gibt es Ausnahmen. Natürlich ist das für sich genommen auch gerechtfertigt und schön. Natürlich liegt die Verantwortung der Vergegenwärtigung nicht zuletzt beim Zuschauer. Dennoch: Im Endeffekt entsteht, bei aller Lebendigkeit auf der Piazza Maggiore, bei allem Enthusiasmus der zahlreichen Besucher, der Eindruck einer schleichenden Musealisierung. Besonders bei den explizit politischen Filmen mutet das seltsam an: Zu Ehren von 1968 wurden hier etwa vor einigen Vorführungen sogenannte Cinétracts aus besagtem Jahr gezeigt, schmissige, heftige, kantige, kluge wie dumme, jedenfalls agitatorische Kinopamphlete, die an die intellektuell wie real umkämpfte Gegenwart der Vergangenheit erinnerten. Ein bisschen wühlten diese circa zweiminütigen filmischen Ausrufezeichen immer auf, weil sie ihre Bedeutung in einem Hier und Jetzt so ausdrucksstark behaupten. Doch der Kontext Bolognas schien mir zuletzt immer mächtiger zu sein. Der Blick ging doch sehr schnell zurück auf: Aha, so war das damals also, das Politisch-Sein im Kino. Wäre es da nicht spannender (und gar nicht mal so festivalzerrüttend arg gewesen), neue Cinétracts in Auftrag zu geben, etwa bei brotlosen, engagierten Filmstudenten, und diese hin und wieder in „historische“ Programme einzustreuen?

Ein frommer Wunsch – diese Art von Intervention würde wohl einfach nicht passen zu diesem Festival. Schon ok, es hat sich andere Ziele gesteckt. Schade nur um das Potenzial: Hier, in Bologna, könnten Vergangenheit und Zukunft des Kinos ebenso verschmelzen wie alle seine bunten Seitenstränge, die schönen und die hässlichen, die angenehmen und die unangenehmen. Der Nährboden wäre da, eigentlich auch das Publikum. Es könnte dabei sogar halbwegs gemütlich bleiben. Nur würde es dann nicht mehr Il Cinema Ritrovato heißen, sondern einfach nur Il Cinema. Keine Sorge: So oder so werden wir nächstes Mal wiederkommen. Zum Wohlfühlen.

Eine Stippvisite beim Filmfest München

Ich war heuer beim Filmfest München. Genauer gesagt: Ich habe mir heuer einen Film beim Filmfest München angeschaut – einen einzigen. Stimmt nicht ganz, einen Vorfilm gab es auch – aber es war nur ein einziges Filmprogramm. Besucht habe ich das FFM, um ein paar Interviews zu führen. Nebenher, so meine Hoffnung, würde ich vielleicht auch ein bisschen ins Festival reinschnuppern können und mir einen kursorischen Einblick ins örtliche Ambiente verschaffen. Leider wurde aus diesem Vorhaben nichts, uninteressanter Gründe halber. Beziehungsweise wurde schon was draus, aber eben nur diese eine Vorstellung. Zumal von einem Film, den ich ohnehin schon kannte: Zama von Lucrecia Martel.

Kann man von einer einzigen Filmvorführung auf ein ganzes Festival schließen? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem wage ich hier diese unangemessene Extrapolation, im Guten wie im Schlechten: Schließlich wurde mir für die Zama-Vorstellung eine Pressekarte gewährt, und ich empfinde darob eine moderate Textbringschuld.

Was mir noch vor Filmbeginn auffiel, war die Stimmung im Kino. Jedes Filmfestival hat eine Grundstimmung, die dem Großteil seiner Vorführungen eignet. In Cannes ist diese feierlich, angespannt und dabei trotzdem auf eine erschöpfte Art ausgelassen. Bei der Viennale befindet sie sich meist auf der Schwelle zwischen Gemütlichkeit und Pietät. In Bologna wirkt sie in erster Linie angenehm. In Berlin eher gestresst. Hier in München, namentlich in einem kleinen, vollgepackten Saal der City Kinos gegen 19:30, hat sie etwas Heimeliges, wohlig Aufgeregtes – schön, wir sehen jetzt einen Film!

Was gleich klar ist, als die beiden Moderatoren auftreten: Ein cinephiles Privatissimum wird das hier nicht. Die kurzen Einführungen sind niederschwellig, ein bisschen schwärmerisch, weisen das Publikum sachte darauf hin, doch bitte etwas genauer als womöglich üblich auf Bildsprache und Sounddesign zu achten – als würden sie im Wohnzimmer den Freunden erstmals ihren etwas exzentrischen Lieblingsfilm zeigen. Im Zuschauerraum sitzt, so scheint es mir zumindest, viel Laufkundschaft, nicht nur Pressevertreter und Festivalroutiniers. Ob sie ahnen, was auf sie zukommt?

Gehen tut jedenfalls kaum jemand. Ob sich wer langweilt, kann ich nur bedingt beurteilen. Hie und da scheinen Leute jedenfalls mit dem Film mitzugehen, lachen auch stellenweise oder geben ein nachdenkliches „Hm!“ von sich. Als die Vorstellung dann zu Ende ist – bzw. eben noch nicht ganz zu Ende – erstmal ein kleiner Schock: Keine zwei Sekunden nach Beginn des Abspanns (und der Zama-Abspann ist kein japanischer Schluss-Aus-Rockmusik-Abspann, sondern ein behutsam von der langen, musikalisch verträumten Einstellung eines langsam aus dem Bild driftenden Kanus zum Ausklang überleitender, farblich ausgestalteter Hier-Ein-Name-Nach-Dem-Andern-Abspann) wird der Ton abrupt gekappt, und Florian Borchmeyer, Leiter des internationalen FFM-Programms und einer der bereits erwähnten Moderatoren, läuft vor die Leinwand und ins weiterstrahlende Projektorlicht, um sichtlich erfreut bekanntzugeben, dass die Regisseurin wider Erwarten zugegen ist und sich zu einem Publikumsgespräch bereit erklärt hat.

An diesem Punkt wären bei mir normalerweise schon die Luken dicht. So brutal in eine Sichtung reinzuschneien, bei der sich noch keinerlei Aufbruchsstimmung breitgemacht hat, und damit die Integrität des Films zu unterhöhlen, tut in meinen Augen keinem Festival gut. Aber ok: Dass Martel da ist, weiß hier ja noch niemand, und wenn man nicht gleich Bescheid gibt, sind am Ende wirklich alle weg. Außerdem scheint sich die Filmemacherin selbst, die auch schon vorne steht (und bei der man dann doch annimmt, dass sie das Kino als Kunstform ernst nimmt), in keinster Weise am Prozedere zu stören. Vielleicht ist mein Schreckimpuls ja überhaupt nur cinephile Eitelkeit. Also mal schauen.

Tatsächlich bleiben jetzt nicht alle, aber doch viele Menschen, um Martel zuzuhören und ihr Fragen zu stellen. Sie, die in etwaigen Videointerviews einen etwas eigenbrötlerischen Eindruck auf mich gemacht hat, wirkt hier in persona gar nicht so, sondern sehr umgänglich, locker und gut aufgelegt, mit Menschen zu reden – auch mit solchen, die mit ihrer Art von Kino vielleicht kaum was am Hut haben. Zwar sagt sie dann schon Sachen wie: Ein Film muss erstmal gar nichts. Aber das klingt aus ihrem Mund weder herablassend noch eingebildet noch apodiktisch. Sondern genauso, wie es klingen sollte – nach Wahrheit. Sie holt auch weiter aus, erzählt (mit Übersetzung von Borchmeyer) von der Entstehungsgeschichte des Films, der Inspiration durch eine Odyssee gegen die Strömung des Paraná-Flusses (das Boot kam nur so langsam vorwärts, dass sie auch zu Fuß hätte gehen können, scherzt Martel), der ungewöhnlichen Musikauswahl – und mit wenigen Ausnahmen, die irgendwann den Saal verlassen, scheinen die Zuschauer dankbar für ihre Ausführungen.

Als ich dann hinaustrete in den Gastgarten der City Kinos, einer lauschigen Bobo-Enklave im sonst eher lebenssatt ungebärdigen Bahnhofsviertel Münchens, denke ich mir: War doch eigentlich ganz nett. Hier haben eben gar nicht mal so wenige Menschen, die, wie ich anzunehmen wage, nicht allzu oft ins Kino gehen und dort nur selten etwas vorgesetzt bekommen, was sie wirklich herausfordert, mehr oder weniger aufmerksam und enthusiastisch einen Film gesehen, der zwar zugegebenermaßen nicht ganz so „schwierig“ war, wie ich ihn ursprünglich in Erinnerung hatte, aber doch in jeder Hinsicht ungewöhnlich und von klassischen Erzählkinomustern meilenweit entfernt. Diese Menschen sind mehrheitlich gebannt bis zum Ende geblieben und haben ihre hoffentlich spannende und/oder sinneserweiternde Erfahrung überdies per Augenhöhenbegegnung mit der Filmemacherin abgerundet/konsolidiert und insofern im Idealfall als positiv und wiederholenswert abgespeichert. Das kann (nicht nur, aber heutzutage vor allem) ein Filmfestival leisten, und vielleicht ist eine einladende, „Achtung, Kunst!“-Barrieren abbauende „Nettigkeit“, die ich im filmischen Mehrheitsbespaßungseventkontext sonst eher ablehnen würde, ganz einfach notwendig für diese Leistung.

Aber dann fällt mir der Artikel aus einer FFM-Beilage der Süddeutschen Zeitung wieder ein, den ich vor Zama gelesen habe, und in dem steht, dass das Filmfest bald budgetär aufgestockt und „zum Medienfestival umgebaut“ werden soll. Dann sollen hier „neben Filmen und Serien“ auch „Games, Animation und Virtual Reality“ eine Rolle spielen. Keine Sorge: „Film bleibt der Nukleus“, zitiert der Text Festivaldirektorin Diana Iljine, um dann euphorisch zu schließen: „Das Filmfest macht sich fit für die Zukunft – und nur die Pessimisten und Verweigerer sagen vielleicht noch: ‚Braucht’s das?‘“ Auch das ist ein Resultat besagter Nettigkeit, die sich hier als Anpassungsbereitschaft an Gegebenheiten äußert, die die Spezifität der Kinoerfahrung verleugnen. Und plötzlich bin ich mir doch nicht mehr so sicher, ob es wirklich sinnvoll ist, von einer einzigen Filmvorführung auf ein ganzes Festival zu schließen.

Il Cinema Ritrovato 2018: La Ragazza in Vetrina von Luciano Emmer

La ragazza in vetrina von Luciano Emmer

Andrey Arnold: Der Film, auf den sich beim heurigen Il Cinema Ritrovato alle einigen konnten, schien Luciano Emmers La Ragazza in Vetrina zu sein. Fraglos wird es Menschen geben, die mir widersprechen würden, aber die Empfehlungen, die ich in Bezug auf diesen Film erhielt, waren zahlreich und kamen aus unterschiedlichsten Ecken. Es ist ein Film, der zur Zeit seiner Veröffentlichung aufgrund moralischer (viele meinen: politischer) Einwände zensiert wurde, was den Regisseur seiner Profession entfremdete (sprich: in die Werbung trieb). Erst vierzig Jahre später kam er in unverfälschter Vollständigkeit zur Aufführung. Er handelt von zwei italienischen Gastarbeitern in Holland, die für ein Vergnügungswochenende nach Amsterdam fahren, der Stadt, in der du dich gerade aufhältst. Siehst du die Stadt dank des Films mit anderen Augen?

Valerie Dirk: Ja, hier gibt’s Frauen in Schaufenstern. Überhaupt scheint die ganze Stadt ein einziges Schaufenster zu sein. Nur der Müll in den Kanälen lässt einen erahnen, dass das Ganze nicht nur polierte Oberfläche ist. Ai, Amsterdam! Aber um genauer auf deine Frage einzugehen. Ich selbst habe eine durchzecht Nacht hinter mir, und mir fiel vor allem die Abwesenheit jeglicher Lino-Ventura-Typen auf. Also brummige und machoide Männer mittleren Alters, die – wie man so schön sagt – das Herz am rechten Fleck haben. Die Stadt scheint seltsam jung, die Abwesenheit älterer Menschen fällt geradezu unangenehm auf. Wie hast du Federico (Lino Ventura), den Mentoren und väterlichen Freund Vincenzos (Bernard Fresson) wahrgenommen?

AA: Das ist natürlich ein ganz tolles Figuren- und Schauspieler-Duo. Die beiden sind ja schon Charakterköpfe, aber darob keine bloßen Typen. Ventura gibt den alten Haudegen und Hundianer, laut und aufbrausend, immer am Reden, am Gestikulieren und Sich-Produzieren. Sein Lebenshunger ist groß, fast schon an der Grenze zur Verzweiflung. Auch, weil er schon spürt, dass das mit dem Leben nicht ewig währt. Und weil er meint, die Weisheit des Alltags mit Löffeln gefressen zu haben, nimmt er den jüngeren Kumpel unter seine Fittiche, um ihm ganz jovial zu zeigen, wo der Bauer den Most holt (und der Mann sich seine Frauen). Schon, weil er ihn mag, aber auch, weil es ihm das Gefühl gibt, wer zu sein. Ventura spielt das super, dieses Immer-Etwas-Übers-Ziel-Hinausschießen, das Den-Mund-Immer-Etwas-Zu-Voll-Nehmen, weil er es immer auch ein bisserl zu bemerken scheint – und weil sein zuviel nicht nur lächerlich, sondern auch ansteckend ist. Vincenzo hingegen ist vom Typ her eher ein schüchterner Adlatus, still und zurückhaltend, aber dann eben doch nicht so naiv, wie er vielleicht zunächst wirkt, jedenfalls lernfähig und auf der Suche nach Unabhängigkeit. Wären die Figuren nur einen Deut eindimensionaler, wäre der ganze Film wohl eine (lustige) Schmierenkomödie geworden, so ist er mehr Comédie humaine. Ein indirekter Nachfolger dieses Films scheint mir übrigens Ulrich Seidls Import Export zu sein. Hast du den gesehen?

VD: Nein, leider nicht. Aber die Ausschnitte und IMDb-Kommentare verraten, dass es sich wohl um ein perfektes Trouble Feature handeln würde, da sich die Filme stilistisch, formal und auch ideologisch zu reiben scheinen, wohingegen die Themen Gastarbeit und Sexarbeit die gleichen sind. Apropos Arbeitswelten: Ich war ziemlich von der Inszenierung der bedrückenden, engen, erstickenden und dunklen Schachtarbeit beeindruckt. Hier hat der Film als Erfahrungsmodus, der eben diese Arbeitsverhältnisse in ihrer Bedrückung erfahrbar macht, total gut funktioniert. Und durch das Fenster mit Tageslicht, dass sich „Vertigo“-mäßig (ohne Effekt) beim Hinabfahren in den Schacht (über 1000 m!) entfernt, ergibt sich auch ein Konnex zur Arbeitsrealität der Prostituierten in Amsterdam, die sich eben in einer solchen Vitrine wie Waren verfügbar machen. Das Fenster-Tageslicht, das nach dem Unfall wieder näher rückt, und die ersehnten Fenster, in denen sich die Frauen ausstellen, bilden hier eine Brücke, die womöglich anzeigt, wie sehr die Arbeitsrealität der Arbeiter von einer „unkonsumierbaren“ Freizeit entfernt sind. Ebenso wie die Frauen zu Waren in Schaufenstern werden, wird es die Wirklichkeit. Außerdem wird die Arbeit der Minenarbeiter mit der der Sexarbeiter*innen zusammen gedacht. Sonntag ist frei und unter der Woche arbeiten beide unter äußerst schwierigen und gefährlichen Umständen Schicht. Wie hast du die Arbeitswelten wahrgenommen? Waren sie für dich dominant oder hat dich die zwischenmenschliche Storyline mehr gefesselt? P.S.: Danke übrigens für deine präzise Beschreibung der zwei Protagonisten, von einer „Schmierenkomödie“ wäre der Film aber meiner Meinung nach, selbst wenn die Figuren schematischer wären, meilenweit entfernt!!

AA: Das mit der Schmierenkomödie war gar nicht bös gemeint (daher auch der Zusatz „lustig“). Ich fand nur, dass sich auch ein sehr viel klamaukigerer Film mit nahezu identischem Plot denken ließe, vielleicht mit Totò in der Rolle Venturas. Der wär dann sicher gar nicht so viel schlechter, aber doch anders. Dass La Ragazza in Vetrina stellenweise ziemlich lustig ist, zählt zu seinen größten Stärken. Emmer war davor ja, wenn ich mich nicht irre, vornehmlich auf Komödien abonniert. Liest man unsere bisherigen Ausführungen, stellt man sich den Film womöglich ziemlich hart vor. Und das ist er auch – aber diese Härte fühlt sich weicher an, als sie ist, weil der Film so überschäumt vor Menschlichkeit. Was genau das heißt, wäre für mich die entscheidende Frage. Es hat auf jeden Fall damit zu tun, dass die Arbeits- (und Freizeit-)welten und die Beziehungen zwischen den Figuren eben nie wirklich getrennt gedacht werden. Das eine wirkt auf das andere und vice versa. Das „Menschliche“ liegt für mich auch in der Art, wie die Figuren unter ärgsten Bedingung (die vom Film, wie du ja schon gesagt hast, sehr eindrücklich vermittelt werden, auch ästhetisch über Otello Martellis großartig raue Schwarz-Weiß-Aufnahmen) ihren Humor nicht verlieren, im Schacht Witze reißen, sich nach einem Grubenunglück mit Liedern bei Überlebenslaune halten etc. Zudem in ihrer Impulshaftigkeit auf der Pirsch in Amsterdam, in ihren Patzern und Fehltritten. In ihrer Eigennützigkeit, die hin und wieder von Großmut und Liebebedürfnis durchkreuzt wird. Und nicht zuletzt, und das hat jetzt nicht unbedingt mit den Figuren zu tun, im Reichtum der Realität im Bild, dem wuselnden Vergnügungsviertel Amsterdams. Genau wie in der Mine hat man den Eindruck, die Schauspieler hätten sich da einfach ins echte Getümmel geschmissen – auch wenn es dort in Wahrheit sicher noch viel wilder zugeht. Siehst du das ähnlich?

VD: Ich denke, das Herzliche, Humorvolle und Klamaukige, das unzweifelhaft in den Filmen enthalten ist, in Kombination mit den absolut harten und nicht weichgezeichneten Arbeitsrealitäten und dem Gewusel an den Originalschauplätzen, dass eben genau das den neorealismo rosa ausmacht. Emmer gilt ja als einer der wichtigsten Regisseure dieser Mischform aus Komödie und Neorealismus. Was ich aber neben dem Humor am interessantesten fand, waren die beständigen Verständigungs- und Verständnisprobleme zwischen den Protagonist*innen. Zum einen die Sprachbarriere zwischen Niederländisch und Italienisch, zu einer Zeit als Englisch keine Option zu sein schien. Zum anderen die Verständigungsprobleme zwischen Federico und seiner Freundin, die wirklich nah am Slapstick entlangschrammen, aber dann doch etwas ganz Existentielles bekommen: Der Wunsch nach Anerkennung trotz der Profession (Prostituierte) und die Liebe für jemanden, der ja eigentlich ein Trottel ist – allerdings ein herzensguter. Soviel zu Federico / Ventura und seiner Chanel / Magali Noel, welche mit ihrem aufbrausenden Temperament die Schaufenster Amsterdams italienisch ausschmücken. Auch schön, wenn man sieht, wie die niederländischen Komparsen darauf reagieren… amüsiert witzelnd. Das Setting, Wuseln und Co. wirkt sehr authentisch – aber auch wie die perfekte Kulisse für das italienische Gastarbeiterspiel. Es ist spät und mir fällt grad keine Frage mehr ein… Vielleicht diese: Warum konnten sich wohl alle auf diesen Film einigen?

AA: Ich nehme an, es hat mit all den Dingen zu tun, die wir hier angeführt haben. Mit geht es jedenfalls so, dass ich bei keinem anderen Film in Bologna (auch wenn mir andere ebenso gut gefallen haben) so stark und auch schmerzlich gespürt habe, dass es diese Art von Kino heute nicht mehr gibt. Also ein Kino, das genuin populär, humorvoll und unterhaltsam, famos gespielt und präzise inszeniert, formal ausdrucksstark und zum Experiment bereit, erzählerisch zwanglos und frei, überdies dokumentarisch, getränkt in zeitgeschichtlicher Wirklichkeit, authentisch und unsentimental in seinem Menschenbild sowie ganz selbstverständlich politisch ist. Es gibt heute zwar immer wieder Filme, die diese Ansprüche zum Teil erfüllen, aber kaum je vergleichbar gestandene Volltreffer. Vielleicht, weil die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen Filme heute entstehen, und die Erwartungshaltungen, die mit diesen Zusammenhängen einhergehen, immer irgendwelche Grenzen ziehen und Wege vorgeben. Andererseits: Auch gegen Emmers Film gab es, wie bereits erwähnt, einst vehementen (Zensur-)Widerstand. Dass es ihn trotzdem gibt, dass er heute trotzdem in seiner Ursprungsfassung sichtbar werden kann, sollte zeitgenössischen Filmemachern Mut machen.

Il Cinema Ritrovato 2018: Ein zu kurzes Gespräch über Cécile Decugis

Renault-Seguin la fin von Cécile Decugis

Andrey Arnold: Eine spannende Programmschiene des diesjährigen Festivals droht hier fast unterzugehen zwischen alle den großen (Wieder-)Entdeckungen, Retrospektiven und Meisterwerken: Jene zu den Filmen von Cécile Decugis. Carolin, du hast den ersten Teil der Werkschau entdeckt und Sebastian und mich darauf aufmerksam gemacht. Nun haben wir alle gemeinsam den zweiten gesehen. Könntest du kurz erzählen, wer Cécile Decugis ist und warum dich ihre Filme angesprochen haben?

Carolin Weidner: Ich kann nur ahnen, wer Cécile Decugis war, die, wie Sebastian eben herausgefunden hat, vergangenen Sommer verstorben ist. Die zwei Programme, insgesamt acht Filme, umfassen – zumindest habe ich das so verstanden – Decugis‘ komplettes filmisches Werk als Regisseurin. Man kennt sie für diese Filme nicht. Man kennt aber die Filme, die sie geschnitten hat. Viele für Éric Rohmer, aber auch für andere Protagonisten der Nouvelle Vague. Rohmer spürt man auch in ihren Kurzfilmen, vor allem denen aus den 80ern. Ich liebe diesen Ton ja. Könnte ich mir stundenlang ansehen. Andrey und Sebastian, ihr habt nun nur einen dieser „Repräsentanten“ geschaut:  Edwige et l’amour. Habt ihr eine Idee, was mir so sehr an dieser Art Film gefallen könnte? Ich weiß es nämlich selbst nicht recht…

Sebastian Bobik: Von den Filmen, die wir im heutigen Programm gesehen haben, hat mir dieser am meisten gefallen. Er ist definitiv und erkennbar von Rohmer beeinflusst. Was ist daran so schön? Gute Frage… Ich kann nur sagen, was mich daran so erfreut hat. Einerseits war das natürlich die schnelle und sehr einfühlsame Art, Figuren zu zeichnen. Wir bekommen doch recht schnell eine Ahnung, wer diese Menschen im Film sind, obwohl wir ihnen nur bei einem Gespräch während des Abendessens zuhören. Ganz kurz gesagt fängt dieser Film mit einer Frau an, die einen Mann zum Abendessen in einem Restaurant trifft. Sie erzählt etwas von ihrem Leben, während er sie immer wieder mit Balzac-Zitaten bombardiert (ein Versuch sie zu beeindrucken). Auf jeden Fall gibt es diesen wunderbaren Moment, wo der Film das Gespräch verlässt und sich plötzlich kleinen Gesprächsfetzen an anderen Tischen widmet, oder einige Kellner bei ihrer Tätigkeit verfolgt, bevor er sich wieder der Protagonistin widmet und weitermacht. Diese leichtfüßige Freiheit – einfach mal andere Menschen beim Existieren einzufangen – hat etwas unglaublich Schönes und war definitiv ein Aspekt, der mich total begeistert hat.

AA: Ich habe noch zu wenige Filme von Rohmer gesehen, um den Vergleich kommentieren zu können. Und das ist vielleicht auch gut so, weil ich die Freude, die mir dieser kurze, unscheinbare, aber enorm reichhaltige Film bereitet hat, so nicht unter irgendwelche Scheffel stellen muss. Etwas, was Cécile Decugis selbst recht oft getan hat, wenn man dem Katalogtext und der Einführung unseres Screenings von Jackie Raynal und Bernard Eisenschitz glauben darf. Was ich an Edwige et l’amour mochte, ist die Mischung aus Leichtigkeit und Genauigkeit, Härte und Zärtlichkeit, mit der sie in sehr kurzer Zeit sehr viel erzählt, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Ein Telefonat. Ein Besuch in einem Restaurant. Ein Gespräch der Hauptfigur mit ihrem Freund. Das war’s – und trotzdem erfahre ich sehr viel daraus. Beispielsweise, das hat Sebastian schon angesprochen, wie Bildung als Imponierinstrument genutzt wird. Wobei sich das nicht nur in den Balzac-Referenzen von Edwiges Date erschöpft, sondern ausgeweitet wird auf andere Gäste des Lokals – etwa einen Mann, der eine Frau, die an einem anderen Tisch sitzt, mit einem Renoir-Gemälde vergleicht. Der Film führt ihn dadurch aber nicht bloß vor, weil wir die Frau auch zu sehen bekommen – und er irgendwie auch Recht hat. Und die Frauen scheinen dieses Imponiergehabe zu durchschauen, freuen sich aber auch irgendwie dran, was der Film nicht verurteilt. Nebenher ist auch noch Zeit, sich zu erfreuen an der irgendwie ulkigen, eifrig-eilfertigen Art, mit der die Kellner des Restaurants die Treppe auf- und ablaufen oder zeremoniös den Wein einschenken (erst dem Mann zum Vorkosten, versteht sich!), der in einem kleinen, preziösen Körbchen liegt. Das und noch mehr packt der Film, der sehr präzise geschnitten ist, mühe- und zwanglos in ein paar Minuten. Konnten wir dir als Männer jetzt zureichend erklären, warum dir der Film gefallen hat, Carolin?

CW: Den Beobachtungen kann ich mich zumindest anschließen und sie haben mich ebenso erfreut. Ich bedanke mich für eure Mühen!

SB: Ich glaube, wir könnten noch längere Zeit darüber reden, was für wunderbar subtile Kleinigkeiten in den Film verpackt sind und wie er (denke ich) die Perspektive einer Frau erfrischend treffend einfängt, eben, weil er von einer gemacht wurde. Trotzdem fände ich, wir würden den anderen Filmen im Programm unrecht tun, wenn wir sie hier ausklammern. Die restlichen Filme im zweiten Programm waren nicht fiktional, sondern bewegten sich zwischen Zeitdokument, Essayfilm und Dokumentarfilm. Ich würde recht gerne über Paris hiver 1986-1987 und La Grève de la battellerie, Paris, été 1985 reden. Beides sind Filme unter zehn Minuten, in denen Decugis ganz bestimmte Momente in Paris einfängt. Einerseits einen Winter, andererseits einen Streik. Es sind zwei recht unscheinbare Filme, im Programm wurden sie von weitaus längeren eingeklammert. Dennoch war ich überrascht, wie kurzweilig sie waren – und ich meine das auf eine gute Art und Weise. Schließlich könnte man doch meinen, dass Winteraufnahmen aus Paris, die nicht wirklich etwas erzählen und acht Minuten lang laufen, etwas langweilig sein könnten. Ich denke, in diesen Filmen beweist Decugis auch, wie wahnsinnig gut sie mit Montage umgehen kann. Es war auch faszinierend zu sehen, wie sie zum Beispiel Ton und Musik einsetzt. Beides sind Elemente, die sie in diesen Filmen sehr gezielt einsetzt. Im Film über den Pariser Winter setzt etwa erst nach einigen Minuten Musik ein. Sie dauert nicht sehr lange, untermalt aber einige Momente und macht sie dadurch besonders. Ebenso fängt sie in den letzten Szenen plötzlich einen kleinen Dialog ein. Ich fand solche Kleinigkeiten faszinierend…

AA: Konntest du mit dem zweiten Teil unseres Programms etwas anfangen, Carolin? Du wurdest ja quasi angefixt von Decugis‘ Alltags- und Beziehungsminiaturen, und mit denen hatten die Essayfilme nur sehr wenig zu tun. Oder doch?

CW: Erstmal noch zur Winterminiatur: Ich kann gar nicht fassen, dass der Film acht Minuten lang ist, er kam mir viel kürzer vor! Da bin ich durchgeflogen wie eine Schneeflocke. Details, die mir gefielen: wie die Statuen auf die verhüllten Pariser blicken. Was für schöne Frisuren einige tragen. Und welch massive Pelze! In dem Film habe ich gemerkt, wie viel Reichtum doch in dieser Stadt stecken muss. Ein guter Kontrast zum „Streikfilm“, der mir entwischt ist. Und in Sachen Länge: da erstaunt es mich genauso, dass die beiden letzten – zwei ziemliche Brocken, wenn ich da so sagen darf – jeweils nur zwanzig Minuten länger waren als der Schneefilm. Vielleicht war ich von den Abendessen im Restaurant davor aber auch noch gut gekräftigt. Die monatelange Abrissarbeit (Renault-Seguin la fin) und der sterbende Vater zum Schluss (René ou le roman de mon père), puh. Toll, doch. Aber jetzt muss ich doch wieder zurück an die Orte der Speise. Kommt ihr mit?

SB: Liebend gerne!

AA: Ich war gerade kurz davor, zuzustimmen, aber jetzt will ich doch noch ein paar Worte zum Abrissarbeitsfilm anmerken. Der war schon auch für mich anstrengend nach der relativen Leichtigkeit des ersten Films, aber schön fand ich ihn trotzdem. Was mir an ihm eingegangen ist: Dass Decugis hier die Demontage einer Renault-Fabrik dokumentiert, in deren Mauern sehr viel Arbeits- und Streik-Geschichte steckt, die mit ihr verschwinden wird, und diese Geschichte ist nur auf dem großteils sehr prosaischen Informationsfließband der Tonspur zu greifen, während das Bild in seiner Abstraktheit immer trauriger wird, je länger der Film geht: Die Abrisskräne und Bagger wirken, aus der Distanz betrachtet – und der Film blickt nur aus der Distanz, wie ein zufälliger Beobachter oder Anrainer (die Fabrik steht auf einer Insel, die nie betreten wird) – zunehmend wie mechanische Hirschkäfer oder Metallosaurier, die termitenartig ein organisches Gebäude aushöhlen und niederfressen. Es ist ein ganz spezifisches, eindringliches Bild, das hier in kurzer Zeit entsteht, die mir aber zugegebenermaßen auch etwas lang vorkam. Unabhängig davon tut es mir doch sehr leid, dass ich das erste Programm versäumt habe.

CW: Als die Metallosaurier ins Spiel kamen, konnte sich die Energie kurz auf mich übertragen. Wie sich diese fiesen, kleinen und gierigen Köpfe in diese nunmehr Schrottskelette verbeißen, da steh ich drauf. Könnte ich mir genauso als Loop anschauen. Mir fällt auf, dass ich immer wieder auf diese Kategorie stoße: ob ich mir etwas lange ansehen könnte. Weiß ich auch nicht, was ich davon halten soll. Im ersten Programm gab es derartige Situationen aber auch: in Italie aller retour beobachtet man zwei Menschen im Urlaub, wobei sich der Mann als ziemlich betrüblicher Klotz entpuppt. Das ist so eine schreckliche Situation zwischen den beiden, vielleicht erleichtert mich es, das auf der Leinwand zu sehen. Die misslichen, langweiligen, blöden Sachen, die dann letztlich doch alle gleichermaßen erfahren müssen. Zumindest hoffe ich das. Ein bisschen gemein von mir. Cécile Decugis jedenfalls ist eine interessante Person, ich finde es schade, dass sie doch so unbekannt scheint. Hier in Bologna waren auch kaum Leute im Kino, um sich ihre Sachen anzusehen. Ich habe auch von namhaften Anwesenden gehört, die das nicht ausgehalten haben, was ihnen da Wunderbares dargeboten wurde. So ist das. Ich verspreche jedenfalls, den zarten, aber auch spröden, politischen Ton von Decugis aus Bologna zu tragen, wohin, weiß ich aber noch nicht genau.

Il Cinema Ritrovato 2018: Im Hafen mit Marcello Pagliero

Un homme marche dans la ville von Marcello Pagliero

Andrey Arnold: Eine der Entdeckungen des diesjährigen Il Cinema Ritrovato, die diesen Namen wirklich verdient hat, ist der Welten- oder zumindest Europabummler Marcello Pagliero. Zwei seiner französischen Filme, die wir beide hier gesehen haben, zeichnen unterschiedliche filmhistorische Traditionslinien weiter, knüpfen aber etwas sehr Eigenständiges aus ihnen. Kannst du kurz beschreiben, was Sie für dich besonders macht?

Lukas Foerster: Vor allem Un homme marche dans la ville hat mich ziemlich umgehauen, das stimmt. Was mir an den Filmen am besten gefällt, und das ist auch etwas, das sie beide miteinander verbindet (bei allen Unterschieden, die es sonst durchaus gibt), ist, dass sie eine Vielzahl an Schicksalen und Erfahrungswelten, Gesichtern und Räumen ausbreiten. Und zwar ohne, dass das irgendwie angestrengt oder konstruiert wirkt. Die Filme sind schon von der Erzählung her gedacht, aber gleichzeitig gibt es viele Gelegenheiten für Seitenblicke. Und vor allem in Un homme marche dans la ville ist die filmische Erfahrungswelt derart dicht, dass man zwischen Erzählung und Seitenblick eigentlich gar nicht mehr unterscheiden kann.

Das entscheidende Bild dafür sind für mich die Trinkszenen in Kneipen und Bars, die in Un homme und auch in Paglieros erstem Film Roma Città Libera, der hier auch gezeigt wurde, eine entscheidende Rolle spielen. Am Tresen versucht man in einem Moment, seine Sorgen zu ertränken, im nächsten bandelt man mit einer Thekenschönheit an und im übernächsten wird man in eine wüste Schlägerei verwickelt. Pagliero hat als Regisseur selbst etwas von einem Barkeeper: entscheidend ist nicht, dass das Problem der Stunde gelöst wird, sondern dass das Gespräch am Laufen gehalten wird. Ich muss allerdings gleich dazu sagen, dass das alles, bei näherer Überlegung, auf den ein Jahr später veröffentlichten Les amants de Brasmort vielleicht doch nicht mehr so gut passt. Wie würdest Du denn das Verhältnis der beiden Filme zueinander beschreiben?

Un homme marche dans la ville von Marcello Pagliero

AA: Weil beides Hafen(arbeiter)filme sind, vergreife ich mich jetzt einfach mal an billigen maritimen Metaphern und sage: Un homme marche dans la ville ist der unabwendbare Untergang eines einsamen, verwahrlosten Kutters auf offener See, Les amants de Brasmort hingegen die Irrfahrt eines Schleppkahns auf der Suche nach einem sicheren Hafen. Ersterer ist, ungeachtet seiner menschlichen Reichhaltigkeit, unfassbar hart. Im Katalog steht, Pagliero habe in seinem Werk eine Brücke geschlagen zwischen Neorealismus, Existenzialismus (er und Sartre hatten ein Naheverhältnis) und poetischem Realismus. Un homme hämmert mit Vehemenz in die mittlerer Kerbe.

Alkohol führt darin zwar zu unterschiedlichen Dingen, aber im Endeffekt zieht er die Menschen runter auf eine Tiefe, aus der man nicht mehr herauskommt. Die Leute trinken auch viel mehr als in Les amants, weil die Ausweglosigkeit ihrer Verhältnisse immer und überall spürbar ist. Während sich die Ausbeutungssysteme der Klassengesellschaft in Les amants eher in Einzelfiguren manifestieren und daher auch überwindbar scheinen, haben sie sich in Un homme längst in der Atmosphäre festgesetzt. Man merkt das etwa am Ton: Die Klänge des Hafens schienen mir in Une homme viel schroffer, viel aufreibender – der Film beginnt und endet mit einem Geheul (vielleicht ein Schiffssignal, vielleicht eine Sirene), dass die Erinnyen vor Neid erblassen lassen könnte. Musik gibt es kaum, die Jukebox in der Bar wird vom Wirt aus Genervtheit unter falschem Vorwand abgedreht, als ein Stammkunde sich etwas anhören will. In Les amants, auch kein weichgespülter Film, bringen die Schiffe auf der Seine den Soundtrack zum Singen. Der Film scheint stärker zurückzugreifen auf die herbe Romantik von Carné und Vigo – und vorzugreifen auf Carax. Die Liebe ist hier (im Unterschied zu Un homme) stärker als der Tod. Du hast vorher im Gespräch erwähnt, der Film hätte für dich etwas Restauratives. Was meinst du damit?

Les Amants du Brasmort von Marcello Pagliero

LF: Das war gar nicht so sehr als Kritik gemeint. Les amants de Brasmort hat mir auch gefallen, vor allem auch, weil das ein äußerst schön fotografierter Film ist, gerade in den Schiffszenen, wenn diese gleichzeitig schwerfälligen und eleganten Boote aneinander vorbeigleiten. Da sich auch die Menschen auf den Booten bewegen, ergeben sich daraus komplexe (aber wiederum gar nicht aufdringliche) Choreographien, mit drei beweglichen Elementen: Boot, Figur, Kamera. Das passt auch gut zu den erotischen Spannungen, die in allen drei Paglierofilmen wichtig sind, aber hier noch einmal eine andere, fast schon physikalische Qualität erhalten.

Allerdings ist das halt, auch wenn nur ein Jahr zwischen den Filmen liegt, nicht mehr dieselbe Welt wie die in Un homme marche dans la ville. Es gibt weiterhin eine Aufmerksamkeit für das Abgehängte, Verlorene, besonders deutlich in einer langen Passage durch einen Seitenkanal, in dem alte, hölzerne Frachtschiffe vor sich hin rotten. Aber das ist eben nur noch ein Seitenkanal und nicht mehr, wie noch in Un homme, die ganze Welt. Es gibt wieder die Möglichkeit, sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf zu ziehen, und mithilfe der Solidarität der ehrlichen Kleinunternehmer auch dem neuen, slicken Kapitalismus etwas entgegen zu setzen. Und dabei wird eben auch eine ältere Vorstellung von Kino wieder in Kraft gesetzt. Les amants erinnert mich stark an das französische Starkino der 1930er. Die Rädchen greifen wieder ineinander und am Ende geht es zumindest für einige Figuren auf in eine bessere Zukunft.

Un homme ist für mich dagegen ein Film, der einen Fluch in die Gesellschaft hineinträgt. Tatsächlich ist das für mich, unterhalb des manifesten Plots, der eigentliche Kern des Films: Es geht um die Übertragung und Proliferation einer schuldhaften Verstrickung, die in dem Kriminalfall, um den es vorderhand geht, nur einen zufälligen Anlass findet. Eine Sache, die mir noch aufgefallen ist: In Paglierofilmen gibt es zwar eh kaum jemand, der eine gesicherte, sorgenfreie Existenz führt, aber Frauen haben es trotzdem noch einmal schwerer. Siehst Du das auch so?

AA: Jedenfalls scheinen sie die zu sein, auf denen am Ende am meisten abgeladen wird. Vielleicht, weil ihre Sehnsüchte in dieser archaischen Welt nicht wirklich gelten, immer wieder an allem Möglichen abprallen und sich schließlich gegen sie selbst wenden. Wenn man sich die schuldhafte Verstrickung, von der du sprichst, als dunklen Blitz denkt, so sind die Männer die Ableiter und die Frauen seine Erdung. Und sie sind dann eben entweder stark genug oder nicht. In Un homme wird die von Ginette Leclerc gespielte weibliche Hauptfigur – auch, weil sie so besessen ist von dem Gedanken, der unter den gegebenen Umständen irgendwie rechtschaffene, aber eben nicht makellose Protagonist sei ihre einzige Rettung – so lange ignoriert und herumgeschubst, bis sie verzweifelt und halbherzig zurückschlägt, aber da ist es dann schon zu spät. Die Art, wie ihr der Film dann in einer einzelnen, verknappten Einstellung ein Ende bereitet, ist von bressonianischer Brutalität.

Ein Echo dieses Schreckens findet sich in Les amants in der Mutter, die sich aus Angst, von allen alleingelassen zu werden, ins Wasser stürzt. Für einen Augenblick dachte ich (womöglich auch, weil ich Un homme vorher gesehen habe), sie würde nicht wieder auftauchen. Aber weil der Film einem anderen – restaurativen – Impetus folgt, wird sie rausgefischt und kommt wieder zu sich. Und die von Monique Levers gespielte Heldin in Les amants hat allen erlittenen Demütigungen zum Trotz genug Strahlkraft in ihrem hellen Gesicht, um den Männern ihre Watschen auch zurückzuwerfen, um aktiv zu werden, die Machenschaften ihres autoritären Papas zu sabotieren etc. Sie hat sich das Schwimmen beigebracht. Generell wird in Les amants mehr geschwommen, zumindest auf Schiffen; vielleicht ist das der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Filmen: An Land kann es keine Freiheit geben, auf dem Fluss zumindest eine Ahnung davon.