Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Der Ausnahmezustand für umgerechnet 18,50 Euro

Aufzeichnungen zu La Empresa von André Siegers

DUISBURG, 10. 11. 2023, 23.08 UHR, AIRBNB

Vom Kino direkt in die Unterkunft. Der Film hat Eindruck hinterlassen. Laptop aufgeklappt und im Internet nach „Feuerzeug Uhr“ gesucht. Sofort auf das Youtube-Video: „Feuerzeug Armbanduhr lustiges Gadget MarcsBlogg“ gestoßen. Es gibt sie also wirklich! Eine Uhr, die für die Realität überqualifiziert ist. Hätte Prometheus gewusst, dass seine Feuergabe einst aus Uhren kommen würde, hätte er sich seine Schenkung an die Menschheit vielleicht zwei mal überlegt, oder wäre außer sich vor Begeisterung … Feuer aus einem Zeitmessgerät.

Deutschland
„Ist auf jeden Fall ein geiler Partygag. Wenn man jetzt anstatt seine Uhr, so´ne Uhr dran macht und man kann sich einfach hier ganz gemütlich eben seine Zigarette anmachen… oder was auch immer anzünden.“
– Youtube Channel: Marcs TechBlogg

Die Eigenzeit ist ganz bestimmt relativ. Vergegenständlicht durch die Uhren unserer Welt, wird jedes Jetzt folgerichtig auf Linie gebracht. Die ökonomische Zeitachse übernimmt und wirft uns auf eine Einbahnstrasse, die sich Leben nennt. Jetzt, Jetzt und Jetzt kursiert als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die lineare Rasanz der Bilderflut schlägt uns ununterbrochen um die Ohren – lediglich eine Zigarettenpause kann Abhilfe schaffen. Noch ein letzter Blick auf die Zeit, bevor die Uhr zum Mund geführt wird. Klack. Kippe angesteckt. Inhalieren. Qualm auspusten. Wolkenbildung. Zeitloch. Eine kurze Unterbrechung, ein Versprechen aus Schall und Rauch – Gute Nacht.

Weiter im Text.

ZWISCHEN DUISBURG UND BERLIN, 11. 11. 2023, 15.12 UHR, IM ZUG

Mit 200 km/h fährt der Zug 4,5 Stunden lang durch die norddeutsche Prärie. Eine Landschaft aus Fäden zieht an mir vorbei. Wo bin ich überhaupt? Meine Augen sind zu einer Raschheit des Sehens gedrängt, und die Landschaft draußen wird durch die Geschwindigkeit neu organisiert. Diese Fiktion, die neue Art der visuellen Zusammenhänge, liefert mich einer radikale Linearität aus. „Lebendig sein heißt Geschwindigkeit sein.“ – Paul Virilio

Und ungebrochen bleibt die Sehnsucht nach der Katastrophe. Ein Moment, der Raum und Zeit vertauscht, einen wirklich meint und sich an der Linearität vergreift. Wie ein Film. Jedes Einzelbild, jeder Schnitt ein menschlicher Untergang.

BERLIN, 12. 11. 2023, 22.03 UHR, IM BETT

Ähnlich wie der Zug zum Ortswechsel, verhält sich im Kino der Projektor zur Projektion. Beide sind sie Übertragungsmittel, verleihen einander Sinn und vermischen, durcheinander, Fiktion und Realität. Der Lichtstrahl des mechanischen Projektors wird erst über eine Entfernung zu etwas Erkennbaren. Die Projektion ist im Grunde das vorauseilende letzte Lebenszeichen eines an sich selbst zugrunde gehenden Systems: Dem Projektor.

Dieses Verhältnis lässt sich auch auf die Kamera und die aufgezeichnete Realität und die Regieperson und ihre Idee übertragen. Jede Storyline gibt es schon, bevor sie auf einer Leinwand erscheint, sie ist vorausgedacht und zerfällt im Anblick der Zuschauerschaft. Ab einem gewissen Zeitpunkt werden sie alle von ihrem linearen Verhältnis zur Außenwelt durchdrungenen, spielen nur noch sich selbst, verheddern sich in Rückkopplungsschleifen, und mit etwas Glück kann man ihrer Auflösung im Kino beiwohnen …

Das Handy klingelt.

… Als wäre es nicht essenziell, bei allen Tätigkeiten regelmäßig unterbrochen zu werden. Das Leben ist eben doch nicht wie im Film.

Ich muss los.

BERLIN, 13. 11. 2023, 19.04 UHR, AM SCHREIBTISCH

Ich hab‘ nochmal reingeschaut in den Film …

Der ursprüngliche Plan eines Dokumentarfilm-Teams aus Deutschland lässt sich nicht in die Tat umsetzen. Also filmen sie vorübergehend die Tristesse der sie umgebenden Landschaft. Schwarz-Weiss-Bilder amerikanischer Prärie breiten sich auf der Bildfläche aus. Und ziehen eine Szene nach sich, in der ein Mann an einer Palme hängt und die Pflege für eine Reihe Vorgärten wohlhabender Personen übernimmt. Er heißt Ernesto Olivia Santiago. Neben seiner Arbeit als Landschaftsgärtner hat er auch filmische Ambitionen. In einer der folgenden Einstellungen erzählt er von seiner Filmidee mit folgender Story:

„Zu Beginn ist man drüben. Man kann hier Leute suchen und fragen: Wer möchte mitkommen? Wir gehen über die Grenze! Man kann ein paar Leute zusammentrommeln und einen Zaun aufstellen. Hier gibt es viele Zäune! Man muss nur rüberspringen laufen und rufen: ,Los schnell, kommt! Bevor die Grenzpolizei kommt.‘ Dann geht man schnell rüber und versteckt sich. Dann kann man filmen, wie die Polizei vorbeifährt. Man sagt: ,Sie haben uns nicht gesehen! Los, verstecken wir uns!‘ Man läuft, versteckt sich, sie können einen auflesen. Man kann auch filmen, wie man einen Berg überquert. Man steigt herunter, dann wird es Nacht. Am nächsten Tag beginnt man den nächsten Abschnitt. Du gehst weiter, mit dem Rucksack und deinem Wasser. Du bist schon drei Tage gegangen, filmst jeden Tag ein Stück. All das kannst du machen.“

Und weil das deutsche Filmteam bereits in Amerika ist und in den Seilen hängt, ist es auf den Zufall und die Bewegung des Moments angewiesen. Es soll weiter gehen. Und es geht weiter. Die Bilder müssen aufs Material.

Ernestos Erzählung führt sie von Las Vegas, 785 Kilometer entfernt, nach El Alberto. Ein Ort in Mexiko, in dem seit 2004 in dem Freizeitpark EcoAlberto die Caminata Nocturna abgehalten wird: Eine Nachtwanderung, in der Tourist:innen den illegalen Grenzübertritt in die USA unter extrem stressigen und gefährlichen Bedingungen für umgerechnet 18,50 Euro reenacten können. Der Adrenalinfaktor während der dreistündigen Simulation wird durch Schauspieler:innen aus dem Dorf verstärkt. Um die 80 Mitglieder der Gemeinschaft der Hñähñu treten als Schlepper, Drogenschmuggler und Grenzschutzbeamte auf.

Eine Überlebensstrategie der Hñähñu, die so versuchen Arbeitsplätze zu schaffen und zu verhindern, dass weitere Bewohner:innen ihres Dorfes tatsächlich zu Grenzgänger:innen werden, um sich den amerikanischen Traum zu erfüllen.

Um die Inszenierung der Caminata Nocturna zu dokumentieren, einigt sich das deutsche Filmteam mit den Hñähñu auf einen Vertrag: 30 Drehtage für umgerechnet 8.000 Euro.

Das deutsche Filmteam befindet sich inmitten einer real/fiktiven Geschäftsidee und hält all das auf schwarz-weißem 16mm-Material fest.

Wer kauft hier eigentlich wem, welche Geschichte ab?

Die routinierten Vertragsverhandlungen und die nüchterne Einsicht, dass die Kontrolle über ihre Lebensgeschichte größtenteils nicht in ihren Händen liegt, sind eine selbstbewusste Strategie der Hñähñu, um dem westlichen Blick Widerstand zu leisten.

Nach der Devise: Wir sind unser eigenes Werk.

BERLIN, 14. 11. 2023, 10.02 UHR, IM INTERNET

Am 6. 10. 2023 berichtet die Tagesschau, dass die Baumaßnahmen an der Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko weiter gehen, obwohl der demokratische US-Präsident Joe Biden seine Amtszeit mit dem Versprechen angetreten ist, die Mauer nicht weiter auszubauen. Nun behauptet er, dass er keine andere Wahl habe, da die Mittel bereits 2019 vom Kongress unter der republikanischen Regierung von Ex-Präsident Donald Trump genehmigt wurden. „Das Geld ist vom Kongress explizit für die Grenzmauer bewilligt worden. Ich habe versucht, das Geld umzuwidmen. Das hat der Kongress nicht getan. Ich muss nun dem Gesetz folgen. Ich kann das nicht stoppen.“, begründet Biden sein Vorgehen gegenüber der Presse.

Weiterhin nimmt die illegale Migration über Mexiko stark zu. Laut den Regierungsdaten gab es zwischen Oktober 2022 und Ende September 2023 etwa 245.000 illegale Grenzübertritte in die USA.

BERLIN, 15. 11. 2023, 17.46 UHR, IN DER BIBLIOTHEK

Im Herzen des Films La Empresa wohnt ein Begriff, der die alltägliche Weltwahrnehmung grundlegend infrage stellt und sich mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion auf elementare Weise auseinandersetzt: die Simulation.

Dabei liegt der Fokus auf der selektiven Vergegenwärtigung von Erinnerung einer bestimmten Situation, die durch sie erlebbar gemacht werden. Eine Simulation ist insofern jederzeit eine Grenzerfahrung. Sie bildet die Schnittstelle zwischen dem Simulierten, der Wirklichkeit, und sich selbst, der Simulation.

Es geht um die selektive Vergegenwärtigung von Erfahrungen, die durch die Simulation erlebbar gemacht wird. Sie ist eine Darstellung des Erlebens einer bestimmten Situation, wodurch die Grenzen des Erfahrbaren gekennzeichnet werden. Die Simulation bildet so die Schnittstelle zwischen dem Simulierten, der Wirklichkeit, und sich selbst, der Simulation.

Jeden Samstag wird in dem abgelichteten, mexikanischen Dorf El Alberto der Ausnahmezustand mit vereinten Kräften simuliert. Verhältnismäßig reiche Touristen bekommen die Möglichkeit, für umgerechnet 18,50 Euro nachzuspielen, was es bedeuten könnte, die Grenze zu überqueren und sich immer wieder in scheinbar lebensbedrohlichen Umständen wiederzufinden. Die tödliche Situation, die an der Grenze zwischen den USA und Mexiko täglich für viele Menschen Wirklichkeit ist, wird hier zum fiktiven Freizeitspaß.

Die Realitätsebene auf der sich der Film befindet, bleibt über weite Strecken uneindeutig. La Empresa schafft es, die Wiederholbarkeit, die bereits in beiden Formaten – Simulation und Film – eingeschrieben ist, auszustellen und dokumentiert so eigentlich die Selbstfindung des deutschen Filmteams. Auch dieser Findungsprozess hat keinen echten Wahrheitsanspruch und bleibt verloren, irgendwo zwischen Wahrheit und Lüge. Der Kommentar, die deutsche Erzählerstimme, rahmt La Empresa unmissverständlich als Dokumentarfilm, versetzt aber durch ihre betont konventionelle Sprechweise, auch den Zuschauenden in eine kalkulierte Ungewissheit. Es verschiebt sich die Zeit- und Raumebene und letztendlich die Eindeutigkeit des Genres. Wer weiss schon, ob es sich tatsächlich um dokumentarisches „authentisches“ Material aus Mexiko oder um eine durchinszenierte Storyline für Werbezwecke für den Freizeitpark EcoAlberto handelt. Wo auch immer die Wahrheit liegt, im Laufe des Films wird zumindest eines klarer, nämlich dass nicht nur die Unternehmung der Caminata Nocturna sinnstiftend für die Dreharbeiten ist, sondern auch das deutsche Filmteam dem Ort El Alberto mit all seinen Begebenheiten durch seine deutsche Perspektive in gewisser Weise eurozentristische Substanz verleiht.

Erneut kommt die Frage auf, wer hier eigentlich wessen Geschichte schreibt?

Das Filmteam lichtet ab, sammelt und hat die Eindrücke und Erinnerungen als Abbild in zweidimensionaler Form mit nach Hause genommen, mit nach Deutschland. Dort wurde all das fragmentarische Material montiert, eine Erzählung rekonstruiert und jedes Einzelbild mit deutscher Autorschaft geprägt. Man könnte meinen, dass die mexikanische Identität im Prozess der Verarbeitung zerfällt und ihre Idee letztendlich in die Fänge deutscher, staatlich geförderter Filmproduktion gerät.

Doch sowohl die Deutschen als auch die Hñähñu sind gleichermaßen Feuer und Flamme, wenn es um die eigene Selbstdarstellung geht. Das geteilte Wissen darum, dass das Leben in El Alberto Projektionsfläche für Menschen aus der ganzen Welt bleibt, ermöglicht eine Übereinkunft im SPIEL miteinander und lässt so die deutsche Zuschauerschaft auf der Suche nach mexikanischer Authentizität glücklicherweise im Dunkeln tappen.

Das zweifelsfrei Authentische kommt nie ans Licht. Die Konstruktion ist dem Menschen eingeschrieben: Der Maßstab ist das Konforme, der Wissensstand begrenzt und die Vorstellung von dem Unverfälschten im Fremden sagt mehr über uns als über die Wirklichkeit aus.

Parque Eco Alberto in Mexiko
„Touristen spielen Touristen“ in dem Film La Empresa

BERLIN, 16. 11. 2023, 19.43 UHR, IM BÜRO

Die Zeit rennt, und ich bin knapp dran. Man wartet bereits im Kino auf mich. Heute steht ein US-amerikanischer Blockbuster auf dem Programm, der mich innerhalb weniger Sekunden um die halbe Welt bringen wird. Hier sein und gleichzeitig woanders für nur 9,50 Euro. Wenn das Nichts ist. Obwohl ich die Bilder und Geschichten, die ich dort zu sehen bekomme, vielleicht sogar besser kenne, als mich selbst.

Jeder Kinogänger ist eben auch Kinokenner.

So wie das Rathaus in El Alberto spielt:

(…)
Zeit Aufwiedersehen zu sagen
Orte die ich nie
mit dir gesehen und besucht habe
Jetzt, ja werde ich dort leben
mit dir werde ich abreisen
auf Schiffen über Meere
ich weiss
nein, nein ich existiere nicht mehr
Es ist Zeit Aufwiedersehen zu sagen
(…)

Deutsche Übersetzung „Time to Say Goodbye“ von Andrea Bocelli

BERLIN, 02. 12. 2023, 17:12 UHR,  VON UNTERWEGS

Vergangene Bilder werden neue Bilder nach sich ziehen. Der Film als Sinnbild für die ewige Veränderung, die totale Bewegung – ein Bilder-Fluss, dessen Strömung die Negative verbrannter Leben hinter sich zurücklässt und uns letztendlich alle überdauern wird.

Berlin
Ich mit der Feuerzeug-Uhr.

von Leonie Jenning