Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Werbung: Der Dokumentarfilm La Empresa (keine echte Werbung)

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa zeigt eini­ge iko­ni­sche Momen­te. Sze­nen, die durch Sym­bo­lik inter­pre­tiert wer­den kön­nen. Wie in einer Ein­stel­lung, in der das neu gebau­te Rat­haus des Orts El Alber­to men­schen­leer vor dem Hin­ter­grund der Wüs­te zu sehen ist und zur bestimm­ten Uhr­zeit die Melo­die des Lieds Con te par­tirò /​Time To Say Good­bye durch die Laut­spre­cher auf den Vor­platz hallt. Der Moment ist sinn­bild­lich, gleich­zei­tig ein wenig aus­tausch­bar, Meme-fähig. Der über­mä­ßi­ge Gebrauch des Songs über Jahr­zehn­te, sowie des­sen gro­ße Dra­ma­tik geben der sonst kar­gen Sze­ne­rie einen iro­ni­schen Anstrich. Aus einem pop­kul­tu­rel­len Kli­schee, gepaart mit Auf­nah­men aus der Lebens­rea­li­tät, ent­steht ein Bild zwi­schen Traum und Far­ce. Ob das viel­leicht schon so beim Bau der Rat­haus­uhr geplant war, bleibt offen.

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa errich­tet sich auf die­sem Umgang mit Kli­schees. Ein­dring­li­che Bil­der, groß­teils durch Nach­rich­ten ver­brei­tet, wer­den gezeigt. Sie wer­den so gezeigt, dass sie die Mög­lich­keit zur Dekon­struk­ti­on bie­ten. Der Hand­lungs­ort El Alber­to liegt in der Nähe von Ixmi­quil­pan im mexi­ka­ni­schen Bun­des­staat Hidal­go. Obwohl die Gren­ze zu den USA über 600 Kilo­me­ter ent­fernt ist, spie­len die Staa­ten im Film eine gro­ße Rol­le. In El Alber­to gibt es näm­lich eine Nacht­wan­de­rungs-Attrak­ti­on, die eine ille­ga­le Grenz­über­que­rung in die USA simu­liert. Inklu­si­ve der Nach­ah­mung von Coyo­tes – den Schlep­pern, Begeg­nun­gen mit Dro­gen­gangs und der US-Grenz­po­li­zei. Die­se Attrak­ti­on nennt sich Cami­na­ta Noc­tur­na und wur­de bereits von zahl­rei­chen Fern­seh­teams aus der gan­zen Welt gefea­tured. Die­se TV-Bei­trä­ge stel­len die Nach­ah­mungs-Attrak­ti­on meist als maka­bres Geschäft dar, ein Geschäft, das mit dem Ree­nact­ment ech­ter Not Geld ver­dient. Aller­dings ist das Busi­ness des Cami­na­ta Noc­tur­na mit­samt der Video-Berich­te dar­über zu einer wich­ti­gen Ein­kom­mens­quel­le des Ortes gewor­den. Einem Ort, des­sen ehe­ma­li­ge Bewohner*innen in Scha­ren in die USA migriert sind, wäh­rend ande­re, die noch immer dort leben, die ech­te Grenz­über­que­rung durch die Wüs­te hin­ter sich haben. Lässt sich das Kli­schee der Bil­der von Flucht über die Gren­ze mit die­ser Attrak­ti­on also gewinn­brin­gend nutzen?

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa rich­tet den Blick umso mehr auch auf die Hül­len der öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se. Einer der ört­li­chen Unter­neh­mer von Eco­Al­ber­to namens Miguel wird in einer TV-Sen­dung bei der Wer­bung für die Nacht­wan­de­rung mit gro­ßen Schil­dern im Stu­dio gezeigt. Der Auf­bau einer gro­ßen Teca­te-Bier-Leucht­re­kla­me über einem Kiosk dau­ert mit der lang­sa­men Bewe­gung der Hebe­büh­ne eini­ge Zeit im Film. Sicht­bar sind auch zahl­rei­che ande­re Logos: Mons­ter Ener­gy, Chi­ca­go Bulls, Dead­pool, Sol Cer­ve­za, Adi­das. Kapi­ta­lis­mus und Kul­tur sind nicht zu tren­nen. In der vor­letz­ten Sze­ne des Films spricht eine Frau direkt in die Kame­ra und preist die Vor­zü­ge des Dreh­orts El Alber­to in Image­film-Manier an. Aber wer spricht hier eigent­lich wen an?

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa ist auch eine Art anthro­po­lo­gi­sches Por­trait. Von El Alber­to, sowie dem Ver­hält­nis zu ver­schie­de­nen ande­ren Orten auf der Welt. Etwa Las Vegas, in das einer der Protagonist*innen für eini­ge Jah­re migriert ist. Oder Mexi­ko City, der Stadt aus der die meis­ten Tourist*innen für Eco Tou­ris­mus oder die Nacht­wan­de­rung nach El Alber­to kom­men. Über eine Sze­ne in der Koope­ra­ti­ve Ya Munt­sì B’Ehna, die Beau­ty­pro­duk­te aus Aga­ven her­stellt, erfährt man außer­dem von der indi­ge­nen Her­kunft vie­ler Ortseinwohner*innen. Die Hñäh­ñu wer­den auch bei der Cami­na­ta Noc­tu­ra kurz erwähnt – denn nachts sol­len sie angeb­lich nie stol­pern. Eco­Al­ber­to nutzt auch die­ses Kli­schee im Rol­len­spiel. Ob für mexi­ka­ni­sche Tourist*innen vor Ort oder für Fern­seh­teams aus Öster­reich oder Australien.

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa ver­sucht, die eige­ne Posi­ti­on zu reflek­tie­ren. Über eine deutsch­spra­chi­ge Stim­me aus dem Off wer­den immer wie­der die Bil­der im Kon­text einer Film­pro­duk­ti­on kom­men­tiert. So wird früh erwähnt, dass für den Dreh 8.000 Euro an die Orts­ge­mein­schaft gezahlt wur­den, um Film­auf­nah­men dre­hen zu dür­fen. Die Stim­me spricht über das Film­team vor Ort immer aus der Außen­per­spek­ti­ve als „die Deut­schen“. Die­se Deut­schen wür­den den All­tag in El Alber­to doku­men­tie­ren wol­len und mit Leu­ten ins Gespräch kom­men, was immer wie­der zu absur­den Beschrei­bun­gen führt. Die Stim­me zeugt aber auch von einem gewis­sen Trans­pa­renz-Ver­spre­chen, indem sie dem Publi­kum Ent­schei­dungs­pro­zes­se schil­dert. Gleich­zei­tig kann die­ser Art der Refle­xi­on kaum getraut wer­den – die Insze­nie­rung ist offensichtlich.

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa ist auch Teil einer Lie­fer­ket­te und eines Absatz­markts. Um es mit Bong Joon-ho zu sagen: „Essen­ti­al­ly we all live in the same coun­try cal­led capi­ta­lism.“ Durch eine Art iro­ni­sche Affir­ma­ti­on der Wer­be­insze­nie­rung, mit der die Protagonist*innen und Unter­neh­men hem­mungs­los für sich selbst wer­ben, wer­den die­se Sze­nen damit zu einen Film im Film. Für mich fühl­te sich La Empre­sa dadurch auch ein biss­chen nach Bet­ter Call Saul an. Auch über das Set­ting eines Orts in der Wüs­te, in dem die Bezie­hun­gen zwi­schen Mexi­ko und den USA eine gro­ße Rol­le spie­len. Zu gro­ßen Tei­len aber auch über die fil­mi­sche Stim­mung zwi­schen Absur­di­tät und Melan­cho­lie. Die schwarz-wei­ßen Bil­der des Films erin­nern an man­che Sze­ne der Serie. Dazu kommt die Dop­pel­bö­dig­keit der Off-Stim­me, die leicht an Slip­pin‘ Jim­my erinnert.

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa wur­de unter der Regie von André Sie­gers gedreht. In Gesprä­chen mit ihm und dem Edi­tor Simon Quack im Rah­men des Film­ge­sprächs auf der Duis­bur­ger Film­wo­che konn­te ich ein paar Rah­men­in­for­ma­tio­nen über die Film­pro­duk­ti­on erfah­ren. Es wird erwähnt, dass die 8.000 Euro für die Dreh­ge­neh­mi­gung im Ort knapp ein Zehn­tel des Gesamt­bud­gets aus­mach­ten. Die cir­ca 80 Stun­den Dreh­ma­te­ri­al wur­den inner­halb von zwei bis drei Jah­ren zum Film geschnit­ten. Quack erwähnt das Wort „Selbst­aus­beu­tung“, als er vom lang­wie­ri­gen Schnitt­pro­zess berich­tet. Sie­gers erwähnt auf mei­ne Fra­ge nach der Dreh­ge­neh­mi­gung auch Ver­hand­lun­gen über die genaue Geld­sum­me. Er erzählt außer­dem vom Über­las­sen der Film­auf­nah­men zu Wer­be­zwe­cken für den Ort, die anders als in der Off-Stim­me erwähnt aller­dings nicht mit einer Fest­plat­te über­ge­ben worden.

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa zeigt auch eini­ge inti­me Momen­te. In ihnen merkt man, dass der Kame­ra Ver­trau­en geschenkt wur­de. Es wirkt zumin­dest so. Zum Bei­spiel als ein Kiosk­be­sit­zer unauf­ge­regt von der Über­le­bens­stra­te­gie in der Wüs­te erzählt. Es lässt sich erah­nen, woher er die­ses Wis­sen hat. Ein wei­te­rer sol­cher Moment fin­det sich auch beim Simu­lie­ren einer Grenz­über­que­rung. In ihren Rol­len als Flüch­ten­de lau­fen meh­re­re Men­schen die Stra­ße ent­lang, den Blick ziel­stre­big nach vor­ne gerich­tet. Ein Vater trägt sei­ne Toch­ter auf dem Rücken. Er lässt sie her­un­ter. Als plötz­lich alle in Rich­tung Kame­ra lachen, stellt man erleich­tert fest, dass es eben nur ein Ree­nact­ment war. Nur in die­sen Rol­len steckt schon genug Verletzlichkeit.

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa lebt von Wie­der­ho­lun­gen und der Ver­wen­dung kli­schee­haf­ter Bil­der. Er eig­net sich die­se an und fin­det einen Umgang damit. Aus zuge­schrie­be­nen Rol­len wird über­dra­ma­ti­sches Schau­spiel und aus Wer­bung wird absur­de Kulis­se. Das ändert zwar wenig an Macht­ver­hält­nis­sen und dem Wirt­schafts­sys­tem, die Ohn­macht dar­über lässt sich mit die­sen Dar­stel­lun­gen aber immer­hin über­win­den. Dazu passt ein musi­ka­li­sches Inter­mez­zo einer Sze­ne: Beglei­tet vom Lied El Arte del Enga­ño sieht man ver­schie­de­ne jun­ge Gesich­ter. Sie trin­ken Alko­hol, reden, tan­zen, oder zele­brie­ren eine sehr coo­le Arm­band-Uhr mit inte­grier­tem Feu­er­zeug. Der Beginn des Refrains im Lied lau­tet über­setzt „Es ist alles zusam­men­ge­bro­chen“, der Titel Die Kunst der Täu­schung. Irgend­wo zwi­schen der Täu­schung und dem Zusam­men­bruch ist ein Leben im Kli­schee wohl möglich.

Der Doku­men­tar­film La Empre­sa stellt die Ambi­gui­tä­ten des Lebens im Kli­schee dar. Unge­se­he­ne Bil­der lie­fert der Film kaum. Gleich­zei­tig fin­det damit auch kei­ne Exo­ti­sie­rung der dor­ti­gen Ver­hält­nis­se statt. Der Film ver­sucht der Per­spek­ti­ve der Bewohner*innen von El Alber­to zu fol­gen, ohne sich selbst außen­vor­zu­neh­men. Damit ver­mag er, die öko­no­mi­schen und zwei­fels­oh­ne wich­ti­gen Zusam­men­hän­gen abzu­bil­den, bewahrt aber gleich­zei­tig Abstand zu den ein­zel­nen Personen.

Für eine Bewer­bung des Stand­orts El Alber­to braucht es aber auch kein per­sön­li­ches Por­trait. Son­dern ein ver­kauf­ba­res Image des Orts. Viel­leicht lässt sich neben dem Cami­na­ta Noc­tur­na das Rat­haus bald als ico­nic film loca­ti­on nut­zen? Mei­ne Seh­emp­feh­lung spre­che ich für La Empre­sa jeden­falls aus: unter­halt­sam aber nicht abge­dro­schen, wit­zi­ge Kom­men­ta­re, schö­ne weh­mü­ti­ge Musik, pas­sen­de Ästhe­tik zum The­ma. 5/​5 Ster­ne, like and subscribe.

von Valen­tin Herleth