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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Vom Aufbrechen der Rituale: Lady Bird von Greta Gerwig

Greta Gerwig, die Schauspielerin: Gefeiert als Mumblecore Queen für Frances Ha und Mistress America. Sie spielt meist junge Frauen in Problemsituationen: Ihre Beziehung scheitert, Freundschaften stehen auf dem Prüfstand, der Beruf verspricht nicht zur Karriere zu werden. Für die manische Suche nach Traumverwirklichung bietet Greta die passende Klaviatur, eine tollpatschige Fee, die von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen schwebt. Ich mochte ihre Frauenfiguren nie wirklich. Sie haben für mich immer etwas hölzernes. Zu sicher scheint sie sich in ihrem Status als Identifikationsikone für junge Frauen, die zwischen „quirkyness“ und Angepasstheit schwanken. Vielleicht tue ich ihr unrecht, aber ich habe noch keinen Film mit Greta Gerwig als Darstellerin gesehen, in der sie mich berührt hätte. Ganz anders verhält es sich mit ihrem Regiedebüt Lady Bird. Greta Gerwig, die Regisseurin, versteht es, in meine Gefühlswelt vorzudringen. Natürlich spielen Identifikation und Erinnerung an das eigene Teenager-Ich und die eigene Mutter eine zentrale Rolle, denn Lady Bird ist ein Film über eine Mutter-Tochter-Beziehung. Gerahmt wird dies von einer Geschichte vom Aufbrechen einstudierter Rituale.

Lady Bird beginnt mit der Autofahrt zum ersten Schultag des letzten Jahres mit dem höchstwahrscheinlich schon zum tausendsten Mal gehörten Hörbuch auf Kassette. Darauf folgt eine Montagesequenz, die die Zeremonien des Schuljahresbeginn innerhalb der katholischen Privatschule zeigt: Der „Pledge of Allegiance“, der Messebesuch, der Hostienempfang, das gemeinsame Singen. Christine, die sich lieber „Lady Bird‟ nennt, und ihre Mitschüler*innen fügen sich in diese Prozesse mit schlafwandlerischer Sicherheit ein, sie scheinen die Messe sogar zu genießen. Die Sequenz schwankt zwischen interessierter Beobachtung und liebevoller Kritik und es wird anhand des Auftauchens eines selbstgebastelten „In our nation we trust“-Plakats nur nebenbei erzählt, dass 9/11 nicht lange zurückliegt und dass der Nationalismus ebenso wie der Katholizismus innerhalb der Schultore zum Alltag gehört. Während ersteres der US-Spielfilmbrache nicht fremd ist, so wird letzteres nicht oft als selbstverständlicher Teil des Schulalltags gezeigt. Ganz im Gegenteil: Katholizismus ist oft Distinktionsmerkmal einer Gemeinde, meist irischer oder italienischer Herkunft, oder einer gut betuchten Familie (The Kennedys) vor dem Hintergrund eines in sich weit verzweigten protestantischen Einheitsglaubens. Das prunkvolle Zeremoniell ist im Katholizismus weitaus stärker verankert, was Lady Bird wunderbar inszeniert (wenngleich ihm der Charme europäischer Gotteshäuser abgeht). Diesem religiös-ritualisierten Schulalltag versucht „Lady Bird“ jedoch zu entkommen, indem sie darauf beharrt, dass ein katholisches College für sie in Zukunft nicht infrage kommt.

Beim Verlassen des Kino schnappt man manchmal Satzfetzen auf, die in den träumerischen Dämmerzustand eindringen möchten, den man hat, nachdem man IN einen Film abtauchen konnte. Zum Beispiel: „… so viele Highschool-Film-Klischees…“. Ja, man sieht die erste Liebe, den ersten Kuss, den ersten Sex, den Abschlussball. Doch muss man das holzschnittartig als Klischee lesen? Ist diese Bezeichnung nicht vor allem anderen eine reine, sprachliche Trägheit, die eine Distanz zwischen sich und dem Film schafft und nicht anerkennt, dass das Erzählen des Allgemeinen und Altbekannten über solche Beschlagwortungen hinaus verweisen kann? In Lady Bird wird die Plattheit eines Klischees ebenso beständig befragt wie die Erhabenheit des Rituals, da sie beständig ineinandergreifen. Etwa wenn beim Anprobieren des perfekten Kleides für die „Prom Night“ ein kurzer Moment des Innehaltens vor dem Spiegel, des völligen Einverstandenseins mit sich in diesem Kleid aufblitzt, der dann sofort durch einen Kommentar der Mutter vernichtet wird: „This dress is too pink.“ Und wenn sich dann daraus eine existentielle Frage ableitet, die sich alle einmal stellen: Werde ich von meiner Mutter eigentlich, abseits der sogenannten bedingungslosen Mutterliebe, überhaupt gemocht? Auch wenn mein 17-jähriges Ich vielleicht schon „the best version of myself“ ist und danach möglicherweise nichts mehr kommt?

Umkleideszene, Mutter Umkleideszene Lady Bird

Doch das Wahrnehmen der Eltern (und wohl auch der Kinder) als Menschen abseits ihrer Rollen wird meist erst durch die Distanz möglich. Mutter und Tochter in Lady Bird sind sich anfangs noch zu nah, um sich wirklich kennenzulernen. In einem Moment weinen sie gemeinsam zum Hörbuch von „The Grapes of Wrath“, im nächsten wird die Äußerung der einen, zum Auslöser für einen rebellischen Akt der anderen. Die Aufhänger für die ständigen „Kabbeleien“ (wie es meine Mutter immer nannte) sind eigentlich weniger verletzenden Kommentare, sondern eher die adoleszente Überempfindlichkeit der Tochter gegenüber festgesetzten Sprach- und Verhaltensmustern ihrer Mutter, derer sich diese nicht bewusst ist, die aber nun durch ihre Teenagertochter unentwegt „bekrittelt“ werden. In ihrer Suche nach einem neuen Ich verunsichert „Lady Bird“ beständig die Mutter in deren bisherigen Rolle. Sie war die Pragmatikerin, der „bad cop“, der Familie, die die Probleme offen anspricht, wohingegen der Vater einfach nur ein sanfter Teddybär zu sein scheint, welcher allerdings schon seit Jahren mit Depressionen zu kämpfen hat und die unwissentlichen Demütigen durch die Tochter, die sich von ihm nie bis zum Schultor bringen lässt, herunterschluckt anstatt sie anzusprechen.

Bei einer solch nachdenklichen wie explosiven und humorgesegneten Mischung fragt man sich, warum das Genre Mother-Daughter-Screwball-Comedy bisher noch nicht existiert. Und falls doch, warum ich davon nichts weiß. Gerade die Spannung zwischen charakter- und erziehungsbedingter Ähnlichkeit und lebensabschnittsabhängiger Unterschiedlichkeit bietet eine herrliche Ausgangsbasis für unterhaltsam stichelnde Schlagabtäusche. Es gibt Filme wie Mildred Peirce, Carrie, oder Die Klavierspielerin, doch diese tendieren zu einer gegenseitigen psychischen Zerstörung, wohingegen Lady Bird die Spirale von unabsichtlicher Kränkung und Gekränktsein spielerisch inszeniert. Das Kräftespielchen um das „Flügge-Werden“ wird immer wieder unterbrochen, was die Kabbelei als Kabbelei entlarvt und nicht als Streit, wobei jedoch existentielle Fragen des Zusammenlebens nicht ungestellt bleiben.

In New York angekommen wird deutlich, dass die Rituale und Klischees, Orte und Menschen, die man in der Ferne gelassen glaubte, neue Gestalt annehmen. Nach einer durchsoffenen Nacht inklusive Alkoholvergiftung passiert „Lady Bird‟, die sich mittlerweile wieder Christine nennt, eine Kirche, lauscht dem Chor, betrachtet das goldig durch die Fenster scheinende Licht und ruft anschließend zum ersten Mal mit dem Handy ihre Mutter an.

(Abschließend möchte ich in Klammern ein Bild von mir und meiner Mutter setzen: Wir waren damals in New York, 2003 oder 2004. Das Bild ist leicht verschwommen. Sie in Rock und Bluse und Absatzsandalen, aber ganz ,casual‘, ich mit meinen viel zu großen Vintage Adidas Sneakern, Beatles Shirt, Holzkettchen und strohblonden Wuschel-Dread-Kopf. Sie lächelt in die Kamera, ich blicke teenagerhaft-beschämt zur Seite).